Hoffnung wider besseres Wissen
Ich weiss nicht, wie es Ihnen geht – mir werden all die schlechten Nachrichten manchmal einfach zu viel. Kriege, Terror, Anschläge, Krankheiten und dann auch noch Überschwemmungen, Erdbeben und ein Vulkanausbruch. Ich verstehe, dass sich das viele Menschen nicht mehr antun möchten und am liebsten gar keine Nachrichten mehr lesen, schauen oder hören. Aber das wäre die klassische Vogel-Strauss-Haltung: Man steckt den Kopf in den Sand und schon ist das Bedrohliche verschwunden. Ist es natürlich nicht. Gibt es Alternativen dazu? Ich glaube ja: Besser als Verdrängen ist die Hoffnung. Sie ist auch und gerade dann wichtig, wenn wenig Anlass dafür besteht. Ich glaube sogar, wir überleben nur, wenn wir unsere Hoffnung auf eine bessere Zukunft am Leben erhalten. Zum Jahresende möchte ich mit Ihnen deshalb einige Gedanken rund um diese Hoffnung teilen. Mein Wochenkommentar über Hoffnung wider besseres Wissen.
Sie kennen die alte Journalistenweisheit sicher: Nur bad news sind good news. Unfälle und Verbrechen, Mord und Totschlag, Kriege und Katastrophen funktionieren immer. Wenn Gefahr droht, ist den Medien die Aufmerksamkeit sicher. Das hat mit der Evolution zu tun: Diejenigen unter unseren Vorfahren, die sich mehr für die schönen Blumen interessiert haben als für den Löwen, der hinter dem Fels lauerte, konnten ihre Gene auf Dauer nicht weitergeben. Überlebt haben nur jene Menschen, die sofort aufmerksam werden, wenn von einer Gefahr die Rede ist. Also melden die meisten Medien vor allem das Schreckliche, das Aussergewöhnliche, das Gefährliche. Sie holen sich damit viel Aufmerksamkeit – und verspielen sich auch viel Glaubwürdigkeit. Laut Schlagzeilen stand uns der Weltuntergang schon oft unmittelbare bevor – doch die Welt dreht sich immer noch in aller Ruhe. Ich habe diese Mechanismen in meinem Buch «Die Aufmerksamkeitsfalle» ausführlich dargestellt.
2023 hat die Flut der schlechten Nachrichten einen neuen Höchststand erreicht. Hier am Rhein in Basel würde man sagen: Der Bach ist voll. An manchen Stellen ist er sogar schon über die Ufer getreten. Der Krieg in der Ukraine und jetzt auch noch der Krieg im Nahen Osten. Die Hitzewelle im Sommer, die Überschwemmungen im Herbst, das Zugunglück im Gotthard, der seltsame Aufstand von Prigoschin gegen Putin in Russland, der Absturz der Opposition bei den Wahlen in der Türkei, die Militärputsche im Sudan im April, im Juli in Niger, im August in Gabun … es nahm und nimmt kein Ende. Und dann sind auch noch eine ganze Reihe von wichtigen Menschen gestorben. Tina Turner zum Beispiel. Peter Bieri alias Pascal Mercier, Milan Kundera, Jane Birkin, Sinead O’Connor, Martin Walser, Shane MacGowan und Henry Kissinger. Kissinger immerhin, ist 100 Jahre alt geworden.
Kriege, Krisen, Katastrophen – gibt es denn gar keine Hoffnung mehr?
Die Frage ist, was wir unter Hoffnung verstehen. Mir fällt auf, dass viele Menschen erst dann von Hoffnung sprechen, wenn eigentlich schon alles klar ist, wenn also die Wahrscheinlichkeit, dass das Erhoffte doch nicht eintreten wird, recht klein ist. Hoffnung ohne Risiko ist aber keine Hoffnung, sondern bloss noch Erwartung. Hoffnung beinhaltet immer einen Aspekt des Vertrauens wider besseres Wissen, einen Optimismus, der kaum einen Grund hat. Hoffnung ist grundlose Zuversicht. Hoffnung beinhaltet immer auch die Hoffnung auf ein Wunder.
Und solche Wunder gibt es. Bei Durchsicht der Medien sind mir drei Beispiele aufgefallen. Es sind drei kleine Beispiele für Hoffnungen, die sich 2023 erfüllt haben. Es sind gleichzeitig Beispiele für gute Nachrichten.
1) Schweizer Solarrekord
In den letzten Wochen sind mir vor allem negative Nachrichten rund um Solarstrom begegnet. «‹Solarexpress› gerät ins Stocken», titelt zum Beispiel die NZZ. Die Hürden für den Bau von alpinen Anlagen seien höher als erwartet. Die «Energiedirektoren befürchten Scherbenhaufen», schreibt deshalb die «Basler Zeitung». Die «Berner Zeitung» schreibt vom «Konflikt um die ganz grosse Solaroffensive im Kanton». Es gehe nicht nur um alpine Solarprojekte. Der Solarausbau soll auch auf Berner Dächern forciert werden – doch auch da sind das Resultat Proteste und Stillstand. Es sieht also schlecht aus für den Sonnenstrom in der Schweiz.
Und dann dies: «Schneller als erwartet: Schweiz erzielt Solarrekord», titelt der «Tages-Anzeiger» Anfang Woche. Abseits der trüben Schlagzeilen boomt in der Schweiz der Solarstrom wie noch nie. Bereits 2024 dürfte die Sonnenenergie 10 Prozent der Schweizer Stromproduktion ausmachen. Wie der «Tages-Anzeiger» berichtet, sind in diesem Jahr rund 1500 Megawatt Photovoltaikleistung neu installiert worden. Das ist ein Zuwachs von 40 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Die Branchenvereinigung Swissolar schätzt, dass Solarpanel 2024 rund 6 Terawattstunden Strom produzieren werden. Das entspricht etwa der Leistung des Atomkraftwerks Beznau.
Allen Negativmeldungen zum Trotz hat sich damit die Photovoltaik in der Schweiz deutlich schneller verbreitet als gedacht. Experten haben erwartet, dass die 10-Prozent-Schwelle frühestens ein Jahr später überschritten werde. Die spektakulären Grossprojekte in den Alpen sind zwar mehrheitlich nicht vom Fleck gekommen. Jenseits der Schlagzeilen haben sich aber viele Hauseigentümer, Gewerbetreibende und Verwaltungen ein Herz gefasst und von sich aus gehandelt. Sie haben in die Zukunft investiert. Genau das ist es, was Hoffnung ausmacht und Hoffnung macht: Menschen, die daran glauben, dass sie etwas bewegen können und deshalb etwas wagen.
2) Die Wahlen in Polen
Jahrelang hatte die Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) in Polen das Land fest im Griff: Vom Staatspräsidium über Regierung und Parlament bis zu regionalen Verwaltungen, den Gerichten und den Medien des Landes – die PiS regierte durch und durch. Am 15. Oktober dieses Jahres wählte Polen ein neues Parlament und das Wunder geschah: Obwohl die PiS medial massiv bevorzugt wurde, schaffte sie es nicht, eine absolute Mehrheit zu erringen. Sie wurde zwar stärkste Partei, konnte aber keine Regierung bilden. Deshalb sind in Polen die drei Oppositionsparteien an die Macht gekommen und Donald Tusk ist Ministerpräsident. Er hat sofort mit einer «Normalisierung» der Politik in Polen begonnen und in einem ersten Schritt die staatlichen Medien wieder unabhängiger gemacht.
Das gute Abschneiden der Opposition in Polen ist das Resultat davon, dass viele Menschen die Hoffnung nicht aufgegeben haben, auch wenn die Situation aussichtslos schien. Es ist ein gutes Beispiel dafür, dass Hoffnung eine Investition ist, die manchmal ohne Grundlage erfolgt. Hoffnung zu haben heisst, über den eigenen Schatten zu springen, die Vernunft in den Wind zu schlagen und wider besseren Wissens auf eine positive Entwicklung zu setzen. Polen wird damit zum Vorbild für die Menschen in anderen Ländern, in denen die Opposition scheinbar keine Perspektive hat. Zum Beispiel für die Türkei, wo Ministerpräsident Erdoğan die Wahlen dieses Jahr noch einmal gewonnen hat, für Ungarn, für Serbien und, vielleicht, auch für Russland. Ja, es ist gut möglich, dass die Hoffnung auf einen Regimewechsel in diesen Ländern unrealistisch ist. Das heisst aber nicht, dass wir nicht hoffen dürften. Im Gegenteil: eine Veränderung ist nur möglich, wenn wir die Hoffnung nicht aufgeben.
3) Die Einigung beim Klimagipfel COP 28 in Dubai
Im Vorfeld war die Skepsis gross gewesen: Ausgerechnet ein Erdölminister leitete die Klimakonferenz in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Umso grösser war dann die Überraschung, dass sich die Konferenzteilnehmer nach einer Nacht voller Verhandlungen auf eine gemeinsame Abschlusserklärung einigten. Zum ersten Mal ruft die Weltgemeinschaft darin auf zur Abkehr von fossiler Energie. Zwar ist nicht von einem Ausstieg die Rede, wie das über 100 Staaten gefordert hatten, aber immerhin von einem «Übergang weg von fossilen Energieträgern», mit dem Ziel, bis 2050 netto Null Emissionen zu erreichen. Dieses Resultat kann man kritisieren, es sei zu wenig konkret, fordere zu wenig und zu langsam. Insgesamt haben sich die Staaten aber doch bewegt. Wer hätte vor ein paar Jahren gedacht, dass ein Erdölstaat wie Dubai eine Klimakonferenz beherbergt, die zur Abkehr vom Erdöl aufruft.
Im alltäglichen Gewitter der negativen Schlagzeilen gehen solche Fortschritte unter. Es könnte immer besser sein, konkreter, schneller, effektiver. Wer sich aber immer auf das konzentriert, was fehlt, dem entgeht, was er in der Hand hält. Klar ist das manchmal nur ein kleiner Spatz, wo man doch von der Taube geträumt hat. Aber auch Spatzen können fliegen. Wir alle haben diese Sehnsucht nach einem Jahrhundertereignis wie dem Fall der Berliner Mauer. Jahrhundertereignisse heissen aber so, weil sie nur einmal in einem Jahrhundert eintreten. Normalerweise entwickelt sich die Zukunft Schritt für Schritt. Diese Schritte sind oft unerträglich klein. In der Summe bringen Sie uns aber vielleicht doch ans Ziel. Aber nur dann, wenn wir die Hoffnung nicht aufgeben und weiterhin mit dem Spatz in der Hand einen kleinen Schritt nach dem anderen tun.
Geben Sie die Hoffnung nicht auf
Die Hoffnung nicht aufgeben, auch wenn kein Anlass dafür besteht. Dazu möchte ich Sie aufrufen. Weihnachten steht für diese Art der Hoffnung wider besseres Wissen. Ob Sie daran glauben oder nicht, die Weihnachtsgeschichte ist eine starke Story. Sie dreht sich darum, dass ein ganzes Volk die Hoffnung auf ein Neugeborenes setzt, das mittellos am Rand der Gesellschaft zur Welt kommt. Der springende Punkt dabei ist die Hoffnung, also die eigentlich grundlose Zuversicht. Der Glaube daran macht die Zukunft möglich. Nicht umgekehrt. Das vergessen wir heute manchmal. Wir können die Wahrscheinlichkeit von Regen und Schnee bis auf viele Stellen hinter dem Komma ausrechnen. Wir argumentieren mit Vernunft und Kalkül. Eine Zukunft haben wir aber nur, wenn wir all die Berechnungen über Bord werfen und einfach daran glauben. Die Hoffnung nicht aufgeben, wie die Menschen in Polen, die trotz allem die Opposition gewählt haben. Kaum etwas hat für sie gesprochen. Sie hatten nur ihre Hoffnung.
Auf die Zukunft zu hoffen, das heisst, den Sprung in die Zukunft wagen. Das deutsche Wort «Hoffnung» kommt von mittelniederdeutsch «hopen». Und das heisst hüpfen, vor Erwartung springen. Es bedeutet: sich abstossen und mit einer positiven Erwartung in eine Zukunft «hüpfen», in der Hoffnung darauf, dass etwas Wünschenswertes eintreten wird, ohne dass wirkliche Gewissheit darüber besteht. Hoffnung ist also immer auch eine Hoffnung wider besseres Wissen. Wie an Weihnachten.
Das wars, wenn auch noch nicht ganz für dieses Jahr, so doch für heute. Ich danke Ihnen für Ihre Treue und wünsche Ihnen schöne Festtage.
Basel, 22. Dezember 2023, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch
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Quellen
Bild: KEYSTONE/Gaëtan Bally
Ein Monteur arbeitet an Solarpanels auf dem Dach des Eisfeldes in Wallisellen.
Flückiger, Paul (2023): Das Ende des «PiS-Funk»: Polens Regierung reformiert den staatlichen Fernsehsender. In: Neue Zürcher Zeitung. [https://www.nzz.ch/international/polen-tusk-reformiert-als-erstes-den-staatlichen-rundfunk-tvp-ld.1771719; 22.12.2023].
Grossmann, Viktoria (2023): Polens Regierung greift durch Sendeschluss im Propaganda-TV. In: Basler Zeitung. [https://www.bazonline.ch/neuausrichtung-der-staatsmedien-polens-neue-regierung-entlaesst-fuehrung-der-staatlichen-medien-616652454691; 22.12.2023].
Häne, Stefan (2023): Schneller als erwartet: Schweiz erzielt Solarrekord. In: Basler Zeitung. [https://www.bazonline.ch/energie-schweiz-erzielt-einen-neuen-solarrekord-540031017680; 22.12.2023].
Mijnssen, Ivo (2023): Polen kehrt als Partner auf Europas Bühne zurück. In: Neue Zürcher Zeitung. [https://www.nzz.ch/meinung/polen-kehrt-als-partner-auf-europas-buehne-zurueck-wird-aber-auch-unter-tusk-primaer-die-eigenen-interessen-verteidigen-ld.1770284; 22.12.2023].
NZZ-Redaktion (2023): Klimagipfel in Dubai: Weltgemeinschaft ruft erstmals bei Uno-Klimakonferenz zur Abkehr von fossilen Brennstoffen auf. In: Neue Zürcher Zeitung. [https://www.nzz.ch/international/klimapolitik-die-neusten-entwicklungen-ld.1641282; 22.12.2023].
SRF (2023): Polen: Regierungspartei PiS verpasst Mehrheit – Opposition feiert. In: Schweizer Radio Und Fernsehen (SRF). [https://www.srf.ch/news/international/wahlen-in-polen-polen-regierungspartei-pis-verpasst-mehrheit-opposition-feiert; 22.12.2023].
Thönen, Simon (2023): Konflikt um die ganz grosse Solaroffensive im Kanton. In: Der Bund. [https://www.derbund.ch/solarausbau-kanton-bern-hauseigentuemerverband-protestiert-107788975822; 22.12.2023].
Vonplon, David (2023): Alpine Solaranlagen: Auf die Goldgräberstimmung folgt die grosse Ernüchterung. In: Neue Zürcher Zeitung. [https://www.nzz.ch/schweiz/alpine-solaranlagen-auf-die-goldgraeberstimmung-folgt-die-grosse-ernuechterung-ld.1769385; 22.12.2023].
Walser, Charlotte (2023): «Erfolg gefährdet»: Energiedirektoren warnen vor den Plänen der SVP und FDP. In: Basler Zeitung. [https://www.bazonline.ch/erneuerbare-energien-svp-und-fdp-wollen-naturschutzverbaende-einschraenken-336512306676; 22.12.2023].
Zehnder, Matthias (2017): Die Aufmerksamkeitsfalle. Wie die Medien zu Populismus führen. Basel: Zytglogge 2017
Zekri, Sonja (2023): Polen mit neuer Regierung: Ein Land, das Hoffnung macht. In: Basler Zeitung. [https://www.bazonline.ch/polen-mit-neuer-regierung-ein-land-das-hoffnung-macht-758098607766; 22.12.2023].
2 Kommentare zu "Hoffnung wider besseres Wissen"
Auch wenn ich insbesondere was beispielsweise Politik, Technologie oder Wachstum betrifft, nicht allzusehr dazu neige, den Kopf in den Sand von Hoffnungen zu stecken, die eigentlich längst gestoben sind … hier mit allen guten Wünschen und herzlichen Grüssen das Ende einer Adventsgeschichte aus dem Volksgut – kreiert zusammen mit Rosette, der Frau, mit der ich seit bald einmal 60 Jahren auf dieser Welt, wie sie ist, gemeinsam unterwegs bin:
… ein Kind kam in den Raum und sah die drei Kerzen, die für den Frieden, für den Glauben und für die Liebe gebrannt hatten und erloschen waren. Es erschrak: „Aber warum brennt ihr denn nicht mehr?“ Das Kind wurde sehr traurig. Da sprach die vierte Kerze: „Hab keine Angst und sei nicht traurig. Mein Licht brennt noch. Solange ich brenne, können wir auch die anderen drei Kerzen wieder anzünden. Denn ich bin die Hoffnung.“ Da nahm das Kind Licht von dieser Kerze und zündete die anderen drei wieder an.
Weihnachten! – Das Fest der Hoffnung. Auf dass das 2024 gut werden möge! Für einmal klinge ich da Optimist Roger Schawinski nach, welcher sagt: „Radio 24, Tele 24, meine Tel.-Nr. war 01/24 24 24…. Die 24 ist eine Glückszahl, deshalb kann 2024 nur gut kommen!!!“
So viel positive Energie, Zuversichtlichkeit und Lebensbejahung – und das von dem 24jährigen-pardon heuer 78(!)jährigen Roger Schawinski. Chapeau – da kann sich manch jüngerer Jammerer eine Scheibe abschneiden…
Und da sich diese Seite stets philosophischen, gesellschaftlichen, politischen UND medialen Themen widmet, hier noch ein Link zur Jahresrückblende von Kenner und Könner Matthias Ackeret, welche zusammenfasst und alles kompakt vereint:
https://www.persoenlich.com/medien/une-annee-difficile
Auf ein politisch korrektes schönes Winterfest, Sternenlieder und Lichtschnuppenzauber allesamt….