Fünf Denkanstösse an Stelle eines Wochenkommentars

Publiziert am 13. Oktober 2017 von Matthias Zehnder

Einen eigentlichen Wochenkommentar gibt es heute nicht – der Wochenkommentar macht Herbstferien. Dafür gibt es aktuelle Lesetipps. Heute: fünf Denkanstösse – also fünf höchst anregende Sachbücher. Es sind Bücher, nach deren Lektüre sie die Welt anders ansehen. Ganz besonders gilt das für das erste Buch, nach dessen Lektüre Sie Europa anders betrachten werden – aber auch das fünfte wird, obwohl es von tiefer Vergangenheit handelt, Ihren Blick auf die Gegenwart verändern.

Wenn Sie trotzdem einen Wochenkommentar lesen möchten, empfehle ich Ihnen diese drei Kommentare der letzten Wochen, die immer noch aktuell sind:

Alternative Geschichte für eine bessere Gegenwart
http://www.matthiaszehnder.ch/wochenkommentar/alternative-geschichte-fuer-eine-bessere-gegenwart/

Warum Selbstbestimmung nur gemeinsam geht
http://www.matthiaszehnder.ch/wochenkommentar/warum-selbstbestimmung-nur-gemeinsam-geht/

Warum es fatal ist, Politik als Deal zu sehen
http://www.matthiaszehnder.ch/wochenkommentar/warum-es-fatal-ist-politik-als-deal-zu-sehen/

Vergessen Sie nicht, bei der Lektüre ab und zu auf die Werbung zu klicken. Jeder Klick bringt mir ein paar Rappen. Das ist nicht viel, aber immerhin. Und wenn Sie ein Buch aus meiner eigenen Feder lesen möchten, empfehle ich Ihnen «Die Aufmerksamkeitsfalle. Wie die Medien zu Populismus führen.» Auf Infosperber hat Alfred Schlienger dazu soeben eine Rezension veröffentlicht. Sie finden die Rezension hier: https://www.infosperber.ch/Artikel/Medien/Die-mediale-Aufmerksamkeitsfalle

Die hier vorgestellten Bücher sind, wie immer, bei der Buchhandlung Bider&Tanner in Basel vorrätig. Unter jedem Lesetipp finden Sie den Link zum Online-Bestellbereich von Bider&Tanner, Sie können aber auch einfach in der Buchhandlung nach den Büchern fragen. Sie sind alle vorrätig.

Wenn Sie die Bücher lieber als Kindle-E-Book von Amazon lesen möchten, finden Sie einen entsprechenden Bestelllink ebenfalls unter dem Tipp.

Aber jetzt zu den fünf Lektüretipps.

Das erste Buch ist eine griechische Tragödie, geschrieben von einem tragischen Helden, die nicht in der Vergangenheit, sondern in der Gegenwart spielt:

Die ganze Geschichte

Eine griechische Tragödie: Yanis Varoufakis über Europa.

Dieses Buch ist eine Art Bunte ohne Bilder für Politik-Freaks: Der griechische Wirtschaftswissenschaftler Yanis Varoufakis erzählt, wie er die hundertzweiundsechzig Tage seiner Amtszeit als griechischer Finanzminister erlebt hat. Er nimmt uns mit in die Sitzungszimmer des IWF und der Eurogruppe, in Bars in Washington und in die Büros der griechischen Regierung. Er erzählt sehr anschaulich, wie er als Outsider in das grosse Spiel der Insider um die Zukunft des griechischen Volkes eingestiegen ist. Er erläutert die Mechanismen und die Denkweise der Funktionäre der EU und des Währungsfonds. Trotz aller Kritik an der Herrschaft der Gläubiger bleibt Vatoufakis ein glühender Europäer, der sich gegen den Brexit engagiert und für eine europäische Gemeinschaft kämpft. Obwohl ihm sogar IWF-Präsidentin Christine Lagarde in seiner Analyse zustimmt, dass die Ziele der Gläubiger nicht funktionieren können, verlangt auch sie, dass er mitspielt, weil die Banken und die Länder, die Griechenland Geld geliehen haben, sonst das Gesicht verlieren. Varoufakis schildert die Geschichte der griechischen Schulden wie ein antikes Drama, das auf sein schicksalhaftes Verhängnis zusteuert. Wie ein echter, griechischer Held wehrt sich Varoufakis gegen das Schicksal – aber es ist von Anfang an klar, dass er unterliegen wird. Das einzige, was er erreicht, ist, dass sich Europas politisches und mediales Establishment über ihn aufregt. In seinem Buch lüftet Varoufakis jetzt den Schleier, er öffnet die Türe zu den geheimen Sitzungszimmern der Troika und erzählt die ganze Geschichte der waghalsigen Politik von Europas Geldelite. Sein Buch ist ein Plädoyer für die europäische Demokratie, ein Aufruf, sie zu retten, bevor sie unter dem Geld begraben wird.

Yanis Varoufakis: Die ganze Geschichte: Meine Auseinandersetzung mit Europas Establishment. Verlag Antje Kunstmann, 664 Seiten, 41.90 Franken; ISBN 978-3-95614-202-4

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Das zweite Buch handelt davon, was passiert, wenn man sich ein Bild der Welt macht und darüber nachdenkt:

Hinter dem Horizont

Eine Geschichte über die Bilder, die wir uns von der Welt machen.

Ein Bild zeigt im Normalfall etwas, was es nicht ist. Berühmtestes Beispiel dafür ist René Magrittes Bild einer Tabakspfeife. Darunter schrieb Magritte: «Ceci n’est pas une pipe.» in der Tat ist das Bild keine Pfeife, sondern ein Bild davon. Genauso verhält es sich mit den Weltbildern, die wir uns von der Welt machen: Es sind Krücken, die uns dazu dienen, die Welt zu verstehen. Allerdings sind wir uns der Unzulänglichkeit der Bilder umso bewusster, je weiter wir in die Vergangenheit blicken. Dass auch die heutige Physik die Natur nicht abbildet, sondern nur ein Bild des Wissens liefert, das sie von der Natur hat, ist uns meist weniger bewusst. In dieses Buch von Ernst Peter Fischer abzutauchen, ist deshalb nicht bloss lehrreicht. Das Buch zieht einem manchmal den Boden unter den Füssen weg, den Boden, den man so fest geglaubt hatte und der sich im Buch von Fischer als Illusion herausstellt. Fischer erzählt die Geschichte der Welt hinter dem Horizont. Eine Welt, von der wir uns Bilder machen, weil wir sie nicht wahrnehmen können. Er macht uns ebenso vertraut mit dem Bild der Welt als Scheibe der Babylonier wie mit dem Weltkonzept von Heisenberg und Einstein. Er nimmt uns mit auf Entdeckungsreisen mit Schiffen und mit Rasterelektronenmikroskopen. Er zeigt uns die Weltbilder im Weltall und in den Atomen. Ernst Peter Fischer zeigt uns, wie die Menschen die Welt sehen – und erzählt uns dabei eine ganze Menge über diese Menschen. Bei der Lektüre lernt man deshalb nicht nur viel über die Welt, sondern auch über sich selbst. Faszinierend.

Ernst Peter Fischer: Hinter dem Horizont. Eine Geschichte der Weltbilder. Rowohlt Berlin, 384 Seiten, 31.50 Franken; ISBN 978-3-87134-182-3

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Das dritte Buch beschreibt ein Gefühl, das offenbar viele Deutsche im Wahljahr beschlichen hat:

Heimatlos

Ulrich Greiner über die Heimatlosigkeit deutscher Konservativer.

Ulrich Greiner ist seit vielen Jahren Feuilleton-Chef der Wochenzeitung «Die Zeit» und er ist konservativ. Er findet es ein Fehler, dass Deutschland im Herbst 2015 die Grenzen unkontrolliert für Flüchtlinge geöffnet hat, er möchte den im Grundgesetz garantierten Schutz von Ehe und Familie nicht für gleichgeschlechtliche Partnerschaften öffnen und er sieht die Rettung insolventer Banken und Staaten demokratisch nicht hinreichend legitimiert. Kurz: Greiner denkt konservativ. Aber macht ihn das auch rechts? Er schreibt, er habe jahrelang die SPD gewählt, einige mal die Grünen, nie die CDU oder die FDP. Seine konservative Haltung sei kein politisches Programm, sondern eher ein Lebensgefühl, vielleicht ein Ausdruck des Alters. Greiner kennt viele, die so denken wie er, Kollegen, Intellektuelle, Leser. Aber er kennt keine Partei in Deutschland, die diesem Lebensgefühl Ausdruck verleihen würde. Auch die AfD nicht, das sei ein braun gemischter Haufen mit allzu oft degoutanten Erscheinungen. Greiner bezeichnet sich deshalb als heimatlos. Auch medial, weil die wichtigen Zeitungen und die öffentlich-rechtlichen Sender «ganz überwiegend einen Anpassungsmoralismus» pflegen würden, der gegensätzlichen Meinungen keinen Raum biete. In diesem klugen Buch geht Greiner seiner Heimatlosigkeit nach. Man muss mit ihm nicht einverstanden sein, um das Buch interessant zu finden (und man findet in vielen Punkten interessante Unterschiede zur Politik, zur Parteienlandschaft und zum Medienangebot in der Schweiz).

Ulrich Greiner: Heimatlos. Bekenntnisse eines Konservativen. Rowohlt, 160 Seiten, 28.50 Franken; ISBN 978-3-498-02536-6

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Das vierte Buch beschreibt Gefühle in der Politik, tut dies aber sehr präzise und rational:

Zornpolitik

Ein rationales Buch über politische Gefühle.

Ressentiment, Angst, Zorn, Liebe – die rechtspopulistische Politik nutzt eine ganz bestimmte, emotionale Klaviatur. Dieses Buch untersucht die Bedeutung von Gefühlen in der Politik insgesamt. Mit welchen Gefühlen betreiben wir Politik? Journalisten und viele Politiker sagen: Gefühle sind keine Falten. Rechtspopulistische Politiker widersprechen. Legendär ist zum Beispiel die Antwort von Newt Gingrich in einem Interview über Kriminalität, in dem er erklärte, auch Gefühle seien Fakten. Journalisten setzen «richtige» Fakten gegen «falsche» Gefühle – und sind damit gescheitert. Denn Gefühlspolitiker (von rechts wie links) bezeichnen sie als unglaubwürdige Vertreter einer elitären Kaste. Uffa Jensen geht es in diesem Buch darin, Gefühle ernst zu nehmen und zu hinterfragen, wie die Politik sinnvoll mit Gefühlen umgehen kann. Warum aber heisst der Essay Zornpolitik, warum widmet er sich nicht der Wut oder dem Hass? Weil die Innenansicht von Wut und Zorn nicht dieselbe ist. Jensen schreibt: Im Zorn fühlen wir uns missachtet und verlangen nach Genugtuung, sogar nach Rache. Wir erfahren Geringschätzung und verstehen Zorn daher als ein gerechtfertigtes, ja gerechtes Gefühl. Im Zorn steckt deshalb auch ein Moment der Selbstermächtigung. Eine präzise Beschreibung des Gefühlszustands einer AfD. Das Buch hilft, die Rolle von Gefühlen in der Politik zu verstehen und lehrt einen sinnvolleren Umgang mit Emotionen. Unbedingt lesenswert.

Uffa Jensen: Zornpolitik. Edition Suhrkamp, 208 Seiten, 22.90 Franken; ISBN 978-3-518-12720-9

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Das fünfte Buch schliesslich versucht zu ergründen, wie es zu zivilisatorischen Errungenschaften wie der Sprache oder der Schrift gekommen ist und macht dabei ein paar überraschende Entdeckungen:

Die Anfänge von allem

Sprache, Schrift, Religion – es hat anders begonnen, als Sie denken.

Seit Charles Darwin haben wir einen Begriff davon, dass es für vieles den Anfang nicht gibt, sondern nur Anfänge – und ihre evolutionäre Weiterentwicklung. Jürgen Kaube untersucht in diesem Buch quasi die Anfänge der Zivilisation: die Anfänge des aufrechten Gangs, der Sprache, des Tanzes, der Stadt, des Geldes, der Religion, der politischen Herrschaft, des Erzählens. Obwohl ein Rad den Umschlag des Buches ziert, geht es in diesem Buch nicht um Technik, auch nicht um die Erfindung des Rads. Schrift, Kunst, Recht oder Sprache sind nicht Techniken wie das Rad. Trotzdem ist das Rad für eine zentrale Eigenschaft der Anfänge, die das Buch thematisiert, das richtige Symbol: Es kommt in der Natur nicht vor. Für die Musik, für das Sprechen oder für den aufrechten Gang gibt es in der Natur kein Vorbild. Die Anfänge menschlicher Gesellschaft sind Dokumente konstruktiver Leistungen, denen man nicht ansieht, warum es dazu gekommen ist. Das macht dieses Buch so spannend: Es eröffnet absolut neue Perspektiven auf unsere Zivilisation. Denn die zivilisatorischen Errungenschaften sind evolutionär nicht erklärbar und sie sind nicht gezielt entstanden. Die Schrift zum Beispiel wurde um 8000 v. Chr. in Mesopotamien als bürokratische Merkhilfe beim Rinderzählen entwickelt. Das erste Geld diente um 12000 v. Chr. nicht dem Handel, sondern als religiöse Opfergabe – ein Umstand, der noch heute dem Geld manchmal anzumerken ist. Jürgen Kaubes Buch über die Anfänge der Zivilisation erklärt deshalb nicht nur die Vergangenheit, sondern zuweilen auch manche Aspekte der Gegenwart.

Jürgen Kaube: Die Anfänge von allem. Rowohlt Berlin, 400 Seiten, 34.50 Franken; ISBN 978-3-87134-800-6

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Basel, 13. Oktober 2017, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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Ein Kommentar zu "Fünf Denkanstösse an Stelle eines Wochenkommentars"

  1. 1.) Yanis Varoufakis: Die ganze Geschichte: Meine Auseinandersetzung mit Europas Establishment. = Balsam, Nektar für (EU-)Establishment-Kritische Seelen.
    2.) Ernst Peter Fischer: Hinter dem Horizont. Eine Geschichte der Weltbilder. = Schliesse mich an, tönt und ist sicherlich faszinierend.
    3.) Ulrich Greiner: Heimatlos. Bekenntnisse eines Konservativen. = Klingt mir nach sehr nahe. Ich wüsste nicht, was ich in Deutschland (noch) wählen sollte…
    4.) Uffa Jensen: Zornpolitik. Hier werden die alten und zu simplen „Zorn“ „Hass“ und „Hetze“-Keulen ausgepackt. Die Gründe liegen woanders; sage nicht etwa ich, sondern in der heutigen NZZ, den Gralshütern des Schweizer Intellekts von der züricherischen Falkenstrasse, der Beitrag von Eric Gujer: https://www.nzz.ch/meinung/die-gefahr-des-populismus-wird-ueberschaetzt-ld.1321304
    5.) Jürgen Kaube: Die Anfänge von allem. = Bewundernswert, wie der Autor Gelehrsamkeit und Unterhaltung verknüpft.
    Deshalb, frei nach dem abgewandelten (Ex-)DRS 3-Motto: Lesen macht keinen Lärm!

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