Grün
«Unser Auge» findet beim Betrachten von Grün «eine reale Befriedigung». Das schreibt jedenfalls Goethe in seiner Farbenlehre. Mit anderen Worten: Grün beruhigt. Vielleicht verbringen wir deshalb gerne unsere Ferien im Grünen. Doch das wird schwieriger. Die bald regelmässigen Hitzewellen verwandeln das Grün im Sommer an immer mehr Orten in Gelb, Braun oder gar Schwarz. Dazu kommt: Seit kurzem übersteigt die Masse der von Menschen erzeugten Stoffe die gesamte Biomasse auf unserem Planeten.
So sieht es jedenfalls eine Studie des Weizmann-Instituts in Israel, die das Magazin «Nature» kürzlich veröffentlicht hat. Laut der Studie hat sich die Masse der von Menschen erzeugten Dinge, also die anthropogene Masse, in den letzten 100 Jahren alle 20 Jahre verdoppelt. Derzeit produzieren die Menschen jedes Jahr Dinge im Umfang von mehr als 30 Gigatonnen. Das ist eine 30 gefolgt von neun Nullen. Anders gesagt: Die Menschen produzieren jede Woche Dinge in einer Masse, die etwa dem Gewicht aller Menschen auf der Welt entspricht.
Unter diesen «Dingen» befinden sich technische Geräte aller Art, vom Taschenrechner bis zum Güterzug und von der Briefmarke bis zum Zirkuszelt. Vor allem aber produzieren die Menschen viel Beton, Zement, Backsteine, Kies und Asphalt. Damit haben die Menschen in den letzten 3000 Jahren, also etwa seit der Erfindung der Landwirtschaft, die pflanzliche Biomasse von rund zwei Teratonnen auf derzeit rund eine Teratonne reduziert. Das ist eine Eins mit zwölf Nullen. Die Menschen haben also mit Stein, Asphalt und Beton, durch Rodung und intensive Landwirtschaft die pflanzliche Biomasse auf der Erde halbiert. Die Menschen selber machen übrigens nur 0,01 Prozent der gesamten Biomasse aus.
Das Grün wird also seltener. Das ist nicht nur für die Augen beunruhigend: Wenn es so viel weniger grüne Pflanzen hat auf der Welt, wirkt sich das dramatisch aus auf den Kohlenstoffzyklus – und damit auf unser Klima. Zudem ist nicht nur die grüne Masse gesunken, sondern auch die Verschiedenheit der Pflanzen, also die Biodiversität. Gleichzeitig hat sich die Verschiedenheit der menschengemachten Gegenstände stark erhöht. Man geht deshalb davon aus, dass die «Artenvielfalt» der Technik heute die Artenvielfalt der Natur übertrifft.
Aus all diesen Gründen könnten Ferien im Grünen deshalb bald zur Kostbarkeit werden. Das wäre schade. Denn Grün beruhigt. Goethe schreibt: «Wenn beide Mutterfarben», also Blau und Gelb, «sich in der Mischung genau das Gleichgewicht halten, dergestalt, dass keine vor der andern bemerklich ist, so ruht das Auge und das Gemüt auf diesem Gemischten wie auf einem Einfachen. Man will nicht weiter und man kann nicht weiter.» Das ist das grüne Wunder – und eine schöne Beschreibung davon, was Ferien ausmacht.
Mit diesen Zeilen über das Gleichgewicht im Grünen grüsse ich Sie aus meinen Sommerferien herzlich.
15. Juli 2022, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch
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Ein Kommentar zu "Grün"
Kleine Farbenlehre zum Wohlstand: Als sie noch nicht wohlstandsverwahrlost waren, konnten sie sich über Unsinn mitunter noch grün und blau ärgern. Heute sind sie’s damit zufrieden und lachen sich darüber rot und tot.