Gotthard eröffnet – aber wo bleiben die Visionen?

Publiziert am 3. Juni 2016 von Matthias Zehnder

Es gab Feuerwerk und Freudentränen, ganz grosse Worte und ganz viel Selbstlob: Die Schweiz hat den Gotthard-Basistunnel eröffnet. Sie hat damit eine Vision aus dem 19. Jahrhundert mit Technik aus dem 21. Jahrhundert noch einmal gebaut. Und jetzt? Welche Visionen entwickelt unser Land für das 21. Jahrhundert?

PDF_Button

Keine Frage: Der Bau des Gotthard-Basistunnels ist eine grosse, eine riesige Leistung. Und dann erst noch termingerecht und innerhalb des Kostenrahmens erbracht. Selbst Frankreich verbeugt sich für einmal vor der Schweiz und das kommt, wie Präsident Hollande in seiner Ansprache betonte, weiss Gott selten vor. Auch Bundeskanzlerin Merkel fand freundliche Worte und Matteo Renzi meinte schlicht: Grazie Svizzera.

Das Schweizer Farbfernsehen liess sich nicht zweimal bitten und feierte das Grossereignis mit einer ganzen Kaskade von Sondersendungen. Den Abschluss machte «10vor10» mit Zitaten ausländischer Nachrichtensendungen, welche den Tunnel und ihre Erbauerin lobten, von Al Jazeera bis zum ZDF, von der BBC bis zum brasilianischen Fernsehen, von der «Tagesschau» der ARD bis zur «Zeit im Bild» des ORF – der längste Eisenbahntunnel der Welt ist eröffnet und die Welt nimmt Notiz davon, wie Daniela Lager stolz erklärte. Genau dieser Stolz darauf, dass die grosse, weite Welt «Notiz nimmt» von der kleinen Schweiz, macht die ganze Sache fürchterlich provinziell.

Verstehen Sie mich recht: Der Erfindungsgeist der Ingenieure, die Arbeit der Mineure und die Leistung von Adolf Ogi und Moritz Leuenberger kann nicht hoch genug geschätzt werden. Es ist ganz wunderbar, bravo, bravo. Aber es ist nicht revolutionär und es ist nicht wirklich eine Pionierleistung, mit der Technik des 21. Jahrhunderts eine Idee aus dem 19. Jahrhundert noch einmal zu realisieren. Dazu kommt: Die wirklich grossen Verkehrsprobleme hat die Schweiz nicht am Gotthard, sondern in den Städten. Und da lassen sie sich nicht durch Bauten lösen, sondern nur durch Verhaltensänderungen.

Warum stand die Schweiz diese Woche trotzdem Kopf? Weil der Gotthard ein Schweizer Mythos ist. Peter Stamm hat den Gotthard als die Steinerne Seele der Schweiz bezeichnet. Helmut Stalder nennt ihn den Felsen, auf dem die Nation ruht. Der Pass sei für die rivalisierenden Europäischen Grossmächte strategisch wichtig gewesen, deshalb hätten sie die Schweiz bestehen lassen. Im Interesse der Balance brauchte es einen neutralen Kleinstaat, der die Pässe treuhänderisch für Europa offenhält und sie zugleich dem Einfluss einer einzelnen Grossmacht entzieht. Ohne Gotthard, so Stalder, wäre die Schweiz nicht entstanden. Stalder nennt den neuen Tunnel denn auch die neue europäische Hauptschlagader der globalisierten Verkehrsströme.

Im 19. Jahrhundert war das der Eisenbahntunnel am Gotthard ganz bestimmt. Der Bau dieses Tunnels war ein grosses Wagnis und es brauchte echte Visionäre, um ihn zu realisieren. Alfred Escher musste sein ganzes politisches Machtnetz und eine ganze Reihe von Tricks einsetzen, um die Schweizer zu ihrem Tunnelglück zu zwingen. Dazu gehörte auch, dass er eigens für die Finanzierung der grossen Eisenbahnprojekte eine Bank gründete, die Schweizerische Kreditanstalt, aus der die heutige Credit Suisse hervorging. Gebaut wurde der Tunnel von Louis Favre. Er bekam den Zuschlag für den Bau des Tunnels, weil er die kürzeste Bauzeit versprach. Allerdings musste er die dafür nötige Technik erst noch erfinden.

Als am 28. Februar 1880 der Durchstich am Gotthardtunnel erfolgte, waren weder Escher noch Favre zugegen. Escher war in Ungnade gefallen und Favre kurz vorher gestorben. Durch die Öffnung im Gestein reichten die Arbeiter der Südseite jenen der Nordseite eine Blechkapsel durch die Öffnung. Darin befand sich eine Photographie von Louis Favre mit den Worten: Wer wäre würdiger gewesen, als erster die Schwelle zu überschreiten, als Favre, der seinen Mitarbeitern Meister, Freund und Vater war. Es lebe der Gotthard!

Zu den Eröffnungsfeierlichkeiten des Tunnels am 22. und 23. Mai 1882 wurde Alfred Escher nicht einmal eingeladen. Die Familie von Favre war finanziell ruiniert: Weil die Fertigstellung des Tunnels sich verzögert hatte, musste sie hohe Konventionalstrafen zahlen. In seinem Buch über den Bau des Gotthard-Tunnels schreibt Alfred A. Häsler: Die den Tunnel in Angriff nahmen, wussten, was sie wollten, aber sie wussten wohl kaum, worauf sie sich einliessen. Der Schweiz, die damals erst 34 Jahre alt und ein armes Land war, brachte der Eisenbahntunnel einen Aufschwung, der bis heute anhält – auf Kosten der Visionäre, die den Tunnel ermöglichten.

Einem Vergleich mit diesem ersten Gotthard-Eisenbahntunnel hält der neue Basistunnel kaum stand. Weder waren die politischen und die technischen Hürden vergleichbar hoch, noch dürften die Auswirkungen des Tunnels vergleichbar gross sein. Der neue Tunnel bleibt eine Wiederholung der Pioniertat mit modernen Mitteln. Ein grosses, aber kein grossartiges Werk.

Fragt sich, welche Ideen heute das Potenzial zur Pionierleistung hätten. Welche Konzepte könnten der Schweiz von heute vergleichbare Impulse setzen, wie sie der erste Gotthardtunnel der Schweiz im 19. Jahrhundert gesetzt hat? Wer sind die Alfred Eschers und die Louis Favres von heute? Welche Zukunft erdenkt sich die Schweiz? Welche Berge müssten wir heute überwinden?

Im 19. Jahrhundert war die Eisenbahn das Rückgrat der Industrialisierung. Was spielt heute eine vergleichbar wichtige Rolle? Vermutlich die Kommunikation. Es wäre aber falsch, die Kommunikation nur auf das Kabel zu reduzieren. Klar brauchen wir schnelle Glasfaserleitungen und ein offenes Internet. Die Drähte sind aber nur die halbe Miete. Um es in Eisenbahntermini auszudrücken: Es braucht nicht nur Schienen, sondern auch Lokomotiven, Eisenbahnwagen – und Passagiere. Wir brauchen also nicht nur schnelle Leitungen, die Menschen müssen über diese Leitungen auch miteinander kommunizieren können – und wollen.

Kommunizieren können, das heisst: Sprachen können. Der neue Gotthardtunnel mag das Tessin und die Deutschschweiz besser miteinander verbinden – doch die Schweizer lernen heute lieber Englisch als eine andere Landessprache und das lieber spät als möglichst früh. Ganz zu schweigen von anderen Sprachen, die heute wichtig wären wie Computersprachen oder der Sprache der Mathematik.

Kommunizieren wollen, das heisst: sich öffnen und auf andere zugehen. So manchem Politiker sei gesagt, dass es dabei nach Niklas Luhmann nicht darauf ankommt, was der «Sender» sendet, sondern darauf, was beim «Empfänger» ankommt. Entscheidend ist mit anderen Worten nicht eine möglichst laute Stimme, sondern ein möglichst grosses Herz.

Und wer sind die Visionäre? Sie dürften es heute mindestens so schwer haben wie im 19. Jahrhundert. Die Geschichte der Erfindungen zeigt: Wer radikal Neues denkt, wird meist zuerst ausgelacht. Das ging Karl Drais so, als er 1813 das Fahrrad erfand, oder Wilhelm Bauer, als er sich 1850 das U-Boot ausdachte und auch der ungarische Tüftler Nikola Tesla, der 1887 den Elektromotor entwickelte, wurde nicht ernst genommen. Nach Tesla ist heute immerhin eine revolutionäre Automarke benannt.

Der Gotthard. Es wäre schön, wenn die Schweiz ihn nicht nur als steinernen Mythos nähme, sondern auch als Aufforderung zum Durchbruch: als Appell zur Vision.

2 Kommentare zu "Gotthard eröffnet – aber wo bleiben die Visionen?"

  1. Heute kurz und knackig: Schade fand ich, dass an der 8-Millionen-Eröffnungsfeier nicht, aber auch gar nirgens eine Schweizer Fahne flatterte.
    Ich bin bestimmt kein Nationalist, aber ein Flagge dessen Land, in dem so ein epochales Bauwerk steht, gehört doch dazu.
    Dies sagt viel über den Zustand der Schweiz aus, der mich immer mehr an das Verhalten eines Rehs erinnert.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.