Gesundheit ist mehr als die Abwesenheit von Viren

Publiziert am 29. Mai 2020 von Matthias Zehnder

Wir alle haben in den letzten Wochen sehr viel gelernt über Viren und über Ansteckungswege – kurz: über Krankheit. Jetzt ist das Virus weitgehend verschwunden und wir müssen feststellen: Das Bekämpfen des Virus war nur der erste Schritt. Gesundheit ist nicht bloss Abwesenheit von Krankheit. Gesundheit ist mehr. Es geht ganz grundsätzlich um Wohlergehen – und zwar nicht nur um das körperliche, sondern auch um das das geistige und das soziale Wohlbefinden. Und genau in diesen Bereichen hat die Pandemie bei allen Menschen Schäden angerichtet. Darum sollten wir uns kümmern. Jetzt.

Das Bundesamt für Gesundheit meldet gute Zahlen: Es sind pro Tag nur noch eine Handvoll laborbestätigte Covid-19-Fälle. Die Schweiz hat das Virus weitgehend eingedämmt. Die Krankheit ist (fast) gebannt. Vor ein paar Wochen haben wir von so guten Zahlen noch kaum träumen können. Jetzt stellen wir fest: Die Krankheit mag weg sein – so richtig gesund macht uns das alle nicht. Virologen und Epidemiologen können vielleicht das Virus bekämpfen – trotzdem fehlt da etwas. Gesundheit ist ganz offensichtlich mehr als Abwesenheit von Krankheit.

Die Weltgesundheitsorganisation WHO definiert Gesundheit so: «Die Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.»[1] Es geht also nicht nur um einen negativen Virentest, es geht um vollständiges Wohlergehen und dies nicht nur in körperlicher, sondern auch in geistiger und sozialer Hinsicht. Gesundheit lässt sich also nicht einseitig auf ein paar körperliche Parameter reduzieren. Oder anders gesagt: Soziologen und Psychologen sollten bezüglich Gesundheit genauso viel zu sagen haben wie Virologen.

Kranksein ist manchmal gesund

Verstehen Sie mich recht: Das heisst nicht, dass wir Christian Drosten, Marcel Salathé und all die anderen Virologen und Epidemiologen in die Wüste schicken sollen. Aber wir sollten uns bewusst werden, dass sich Gesundheit nicht mit Mundschutz und Desinfektionsmittel allein herstellen lässt. Gesundheit ist nicht einfach Abwesenheit von Viren. Manchmal sogar im Gegenteil. Das Problem ist, dass die allgegenwärtigen Desinfektionsmittel-Spender ein anderes Bild vermitteln. Die unterschwellige Botschaft: Viren und Bakterien sind Krankmacher. Wenn wir sie ausmerzen, ist alles gut. Das ist gleich auf drei Ebenen falsch.

Erstens sind nicht alle Viren und Bakterien schlecht. Wir könnten zum Beispiel ohne Bakterien im Darm kaum überleben. Diese Bakterien bilden die Darmflora. Sie helfen uns bei der Verdauung, indem sie Enzyme produzieren, mit deren Hilfe wir die Nahrung verwerten. Ohne Bakterien im Darm könnten wir mit Kohlehydraten nichts anfangen. Einige Mikroben produzieren sogar Vitamine. Andere Bakterien bauen Cholesterin und Umweltgiften ab. Deshalb rufen Mediziner heute dazu auf, Antibiotika und Desinfektionsmittel (!) zurückhaltend einzusetzen.[2]

Zweitens lernt der Körper bei jeder Krankheit etwas dazu. «Ein bisschen Kranksein ist manchmal ganz gesund», soll Rudolf Virchow gesagt haben und der war immerhin einer der Begründer der modernen Medizin. Anders gesagt: Ohne Kontakt mit Viren gibt es keine Immunität – die Viren dürfen dabei gerne auch Teil einer Impfung sein. Denn anders lassen sich Krankheiten wie Polio (Kinderlähmung) nicht bekämpfen.

Wohlbefinden trotz Krankheit

Drittens und das wird uns jetzt gerade vor Augen geführt, heisst es noch nicht, dass wir gesund sind, wenn wir keine körperliche Krankheit haben. Es geht neben dem körperlichen auch um das geistige und soziale Wohlergehen. Was bedeutet das?

Krankheit ist nicht einfach eine Funktionsstörung der Körpermaschine. Wir dürfen Medizin nicht bloss als Reparaturprozess verstehen, der zu möglichst reibungslosem Funktionieren dieser Körpermaschine zu führen hat. Wir Menschen sind mehr als Körpermaschinen. Ja mehr noch: Ein wesentlicher Teil dessen, was uns zu Menschen macht, lässt sich in einem biochemischen Labor nicht feststellen. Was Schiller und Beethoven ausmacht, findet man nicht mit dem Röntgenapparat. Aus Sicht der Reparaturmedizin war Astrophysiker Stephen Hawking schwer krank, weil er an Amyotropher Lateralsklerose (ALS) litt. Seine Körpermaschine war also schwer defekt. Dennoch war er Inhaber des renommierten Lucasischen Lehrstuhls für Mathematik an der Universität Cambridge und hat mit seinen Büchern ein breites Publikum erreicht. In geistiger und sozialer Hinsicht war sein Wohlbefinden möglicherweise hoch. Dass es auch kranken, versehrten oder beeinträchtigten Menschen möglicherweise gut gehen kann, das passt nicht in unser Bild. Das irritiert. Es ist das Gegenstück zur Irritation, die sich jetzt breit macht: Offenbar brauchen wir alle mehr zu unserer Gesundheit als ein negativer Virentest.

Ein Daniel Koch für soziales Wohlbefinden

Wie können wir für das geistige und soziale Wohlergehen sorgen, von dem die WHO spricht? Wohlergehen oder Wohlbefinden meint, dass ich meinen Zustand positiv empfinde. Soziales Wohlergehen meint also, dass ich mich in Bezug auf das Soziale gut fühle. Genau in diesem Bereich hat die Coronakrise schwere Schäden angerichtet. Die Massnahmen zur körperlichen Distanzierung haben auch zu einer sozialen Distanzierung geführt. Dazu kommt: Viele Menschen sehen mit Sorge in die Zukunft, sie haben Angst um ihren Arbeitsplatz und fürchten sich vor negativen Konsequenzen durch die Wirtschaftskrise. Um das soziale Wohlergehen ist es deshalb eher schlecht bestellt.

Das Problem ist nur: Anders als die An- oder Abwesenheit einer körperlichen Krankheit lässt sich das soziale Wohlergehen kaum messen. Vielleicht gibt es Tests für den Pegel an Glückshormonen. Auch sie geben aber keine Auskunft über das soziale Wohlergehen. Das ist ein Problem. Denn unsere Welt neigt dazu, allem, was sich nicht schwarz auf weiss an einer Messskala ablesen lässt, die Existenz abzusprechen. Das ist fatal. Das Virus hat direkt nur einen kleinen Teil der Menschen in der Schweiz betroffen. Vermutlich ist derzeit aber das soziale Wohlergehen der meisten Menschen beeinträchtigt. Wir bräuchten also nach dem Rücktritt von Daniel Koch einen Menschen, der uns diese Seite der Pandemie vermittelt und sich für das soziale Wohlergehen der Menschen in der Schweiz einsetzt.

Buchhandlungen so wichtig wie Apotheken

Und was ist mit dem geistigen Wohlbefinden? Ich meine, das umfasst nicht nur die psychische Gesundheit (und damit wieder die Abwesenheit von psychischen Erkrankungen), es umfasst auch Aspekte wie Bildung und Kultur. Das bedeutet: Die Pandemie und der Lockdown haben auch unser geistiges Wohlbefinden stark beeinträchtigt. Der Zugang zu Kultur war stark erschwert. Keine Konzerte, kein Theater, lange geschlossene Museen. Dasselbe gilt für Schulen und Universitäten. Und auch hier gilt: Es gibt keinen Bluttest für unser geistiges Wohlbefinden. Das heisst aber nicht, dass wir es nicht ebenso ernst nehmen sollten wie das körperliche Wohlbefinden. Unsere Gesellschaft neigt dazu, Kultur als nice to have zu verstehen. Motto: in der Maslowschen Bedürfnispyramide kommt Kultur sehr weit oben, also kümmern wir uns zuerst um die Viren und das Essen und wenn das alles dann erledigt ist, dann kommt vielleicht auch noch die Kultur dran.

Dieses hierarchische Bild sollten wir revidieren. Ich glaube vielmehr, dass wir das körperliche, das soziale und das geistige Wohlbefinden in eine Balance bringen sollten. Nur leben wir in einer Gesellschaft wie der unseren, die nur glaubt, was sich messen lässt und die sich am liebsten in Kurven und Statistiken ausdrückt. Das bedeutet, dass wir uns aktiv um das Soziale und das Geistige bemühen müssen, damit wir es in eine Balance mit dem Körperlichen bringen können. Buchhandlungen müssen den gleichen Stellenwert erhalten wie Apotheken (jawohl: wir brauchen eine Notfallbuchhandlung!) und Sänger, Schauspieler oder Kunstmaler verdienen denselben Status wie Virologen oder Statistiker. Wir müssen uns lösen von der ausschliesslichen Fokussierung auf Wertschöpfung und realisieren, dass auch erfüllende Beziehungen, Bildung und Kultur Werte sind, die sich zu schöpfen lohnen muss. Erst dann haben wir als Gesellschaft die Chance, die Krise zu überwinden und gesund zu werden.

Basel, 29. Mai 2020, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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Und hier gibt es den Kommentar in einer kürzeren Videoversion:


Quellen

Bild: ©ookawaphoto – stock.adobe.com

[1] Vgl. Verfassung der Weltgesundheitsorganisation. Unterzeichnet in New York am 22. Juli 1946 (Stand 8. Mai 2014):  https://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/19460131/201405080000/0.810.1.pdf

[2] Vgl. Etwa «unser Körper – mehr Bakterium als Mensch?»  https://www.infomedizin.ch/news/bericht/590-mikroben-bakterien-mensch/

2 Kommentare zu "Gesundheit ist mehr als die Abwesenheit von Viren"

  1. „Sänger, Schauspieler oder Kunstmaler verdienen denselben Status wie Virologen oder Statistiker“.
    Warme und hehre Worte (selbstverständlich – wie immer hier – in gewohnter Manier).
    Doch wie sieht es mit der Finanzierung aus? Das ist der Punkt. In Hinsicht auf die kommende Wirtschaftskrise, Finanzkrise (es fehlen Milliarden europaweit) darf diese Frage nicht ausgeklammert werden.

  2. Ob es jetzt als sogenannt gesund gelten mag oder nicht: Die Macht der Mächtigen und vor allem die Macht der Gewohnheit scheinen es bei der Mehrheit zu schaffen, dass sie es auch nach Corona wieder so haben und machen will, wie es vorher war … und es wenn möglich auch tut. Viele, die es sich leisten können, werden weiter im Überfluss leben und es Wohlstand nennen. Er ist aber das Gegenteil, weil und wenn er auf Kosten von andern auf dieser Erde sowie auf Kosten unser aller Umwelt geht. Einige von den Vielhabenden werden auf Überfluss verzichten … und das auch dann, wenn sie nicht zu denen gehören, für die zwingend nichts anderes übrig bleibt.

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