Brauchen wir Geisteswissenschafter?
Noch selten hat sich jemand so spektakulär in die Nesseln gesetzt wie Wirtschaftshistorikerin Andrea Franc. In einem Interview in der «NZZ» hat sie erklärt, die Bildungsqualität an den geisteswissenschaftlichen Fakultäten der Schweizer Universitäten und die Leistungsbereitschaft der Studierenden sei mangelhaft. Zudem würden zu viele Absolventen geisteswissenschaftlicher Fächer nach dem Studium nur Teilzeit arbeiten und so ihr Studium über Steuern nicht refinanzieren. Das Interview hat zu einer medienübergreifenden Debatte geführt. Der «Tages-Anzeiger» machte einen Fakten-Check dazu, Radio SRF sprach ihr die empirische Legitimation ab und dann drosch auch noch der «Nebelspalter» auf das Thema ein. Für mich ist die Sache mit den Geisteswissenschaftern ein Schulbeispiel. Nein, nicht dafür, wie gut Studenten der Geisteswissenschaften in der Schweiz sind, sondern dafür, wie die Medien arbeiten. Wie sie Fakten, Analyse und Meinung vermischen – und ihre Artikel oft von hinten, also von der Meinung her aufziehen. Grund genug, das etwas genauer anzuschauen.
Andrea Franc ist Wirtschaftshistorikerin: Sie hat in Basel Geschichte, Volkswirtschaft und Schweizergeschichte studiert, an der Universität Genf in Wirtschaftsgeschichte promoviert und ist 2019 an der Universität Basel habilitiert worden. In den letzten Jahren hat sie sich mit privaten Direktinvestitionen von Schweizer Firmen im globalen Süden während des 19. und 20. Jahrhunderts beschäftigt. Das Buch dazu ist im Hier + Jetzt-Verlag erschienen. Titel: «Im Austausch mit der Welt. Schweizer Unternehmen im 19. und 20. Jahrhundert». Mit dieser Andrea Franc hat die «NZZ» ein ausführliches Interview geführt. Titel: «Die Studenten vergeuden ihre Zeit». Untertitel: «Lehrabgänger finanzierten das Leben von Geisteswissenschaftern mit, sagt die Wirtschaftshistorikerin Andrea Franc». Einen sichtbaren Anlass für das Gespräch gab es nicht.
Dieses Interview hat in den letzten Tagen in den Medien hohe Wellen geschlagen. Vom Faktencheck über die Gegenrede bis zur Polemik war alles drin. Darüber hinaus gaben sich die beteiligten Journalisten auf Twitter gegenseitig saures. Die Debatte ist rasch zur Meinungsschlacht geworden, in der die Fakten kaum mehr eine Rolle gespielt haben. Dabei ginge es um Fakten auf zwei Ebenen. Die erste Ebene ist die Realität: Wie sehen Zahlen und Fakten rund um die Löhne der Geisteswissenschafter in der Schweiz aus? Die zweite Faktenebene betrifft die Aussagen von Andrea Franc in der «NZZ»: Was hat sie genau gesagt? Beide Ebenen wurden in der Diskussion miteinander vermischt. So hat der «Tages-Anzeiger» im Fakten-Check Dinge überprüft, die Franc gar nicht gesagt hat. Schauen wir uns die Debatte deshalb etwas genauer an.
Geisteswissenschafter verdienen weniger
Franc sagt im Interview, dass Geisteswissenschafter fünf Jahre nach dem Studienabschluss im Alter von Mitte dreissig weniger verdienen als Lehrabgänger, die um die zwanzig Jahre alt sind. Der Grund liege darin, dass Geisteswissenschafter im Vergleich zu anderen Studentengruppen viel häufiger Teilzeit oder gar nicht arbeiten. Sie seien in Minipensen tätig und verzichten auf einen vollen Erwerb. Sie bezieht sich dabei auf die Absolventenbefragungen des Bundesamts für Statistik, die fünf Jahre nach Studienabschluss durchgeführt werden. So weit, so objektiv.
Als sie nach den Gründen dafür gefragt wird, antwortet Andrea Franc spekulativ und bringt drei Argumente ins Spiel: 1. Geisteswissenschafter sind weniger einkommensorientiert als etwa Wirtschaftsstudenten. 2. Für Geisteswissenschafter ist es nach dem Studium schwieriger, eine Vollzeitstelle zu finden, die ihrer Ausbildung entspricht. 3. finanzieren laut Franc viele bürgerliche Leute ihren erwachsenen Akademikerkindern die Existenz. Alle drei Punkte sind nicht durch Zahlen belegt, sondern, wie gesagt, spekulativ.
Geisteswissenschafter kiffen sich durchs Studium
Es ist aber im Grunde eine Nebenlinie des Interviews. Der Hauptvorwurf bleibt, dass Geisteswissenschafter nach dem Studium freiwillig kleine Einkommen generieren. Einkommen, die entsprechend kleine Steuererträge generieren und deshalb die Investitionen der Gesellschaft in die Ausbildung dieser Leute nicht refinanzieren. Im zweiten Teil des Interviews drehen sich die Fragen deshalb darum, was man denn tun könnte, um die Situation zu verbessern. Ins Spiel gebracht werden Eignungstests, Andrea Franc glaubt aber, dass das keine Lösung wäre. Zitat: «Ich befürchte allerdings, dass viele nicht einmal die Fragen der Einbürgerungstests richtig beantworten könnten.» Danach wird das Interview etwas seltsam. Frage: «Ziehen die Geisteswissenschaften speziell Leute an, die im Leben nichts Besseres zu tun haben und ihre Jahre an der Uni einfach absitzen?» Antwort: «Absitzen und sich durchs Studium kiffen. Bei fünfzehn Leuten im Geschichtsseminar ist im Minimum einer bekifft.»
Der Rest des Gesprächs dreht sich darum, wie die Gesellschaft das Studium von Geisteswissenschaftern refinanzieren könnte. Diskutiert werden Vorschläge wie der, dass Akademiker die von ihnen verursachten Studienkosten über die Steuern abzahlen müssen sowie einkommensabhängige Studiengebühren. Dann stellen die Gesprächsteilnehmer gemeinsam fest, dass das beim Medizinstudium anders sei, weil da der Zugang limitiert sei: «Heute kommt kein Arzt auf den Arbeitsmarkt, der sein Handwerk nicht versteht.» Der Vergleich ist schief, denn das Medizinstudium ist eine regulierte Berufsausbildung, während geisteswissenschaftliche Studien zum wissenschaftlichen Arbeiten im jeweiligen Fach befähigen, was aber in den meisten Fällen noch kein Beruf ist.
Äusserst bescheidene empirische Basis
Nüchtern betrachtet thematisiert das Interview zwei zentrale Fragen: Wozu brauchen wir Geisteswissenschafter, wenn sie nach dem Studium mit dem Gelernten kein Geld verdienen? Und: Ist es fair, dass Menschen in der Schweiz sich von der Allgemeinheit ein Studium finanzieren lassen, danach aber wenig oder nichts zur Refinanzierung ihrer Ausbildung beitragen, weil sie freiwillig wenig arbeiten? Diese berechtigten Fragen gehen in einem seltsamen Konvolut von Vorwürfen unter, die Studierenden in den Geisteswissenschaften seien nicht leistungsorientiert, wüssten oft nicht, was sie wollten, sie seien oft bekifft und würden sich von den Eltern finanzieren lassen. Klar, dass Geisteswissenschafter das nicht auf sich sitzen lassen, zumal die Vorwürfe teilweise an den Haaren herbeigezogen sind und zudem auf einer sehr schmalen empirischen Basis stehen. Wenn überhaupt. So brachte das Regionaljournal Basel an den Tag, dass Andrea Franc in den letzten zehn Jahren gerade einmal zweimal an der Uni Basel Geschichte unterrichtet hat.
Natürlich wehren sich Geisteswissenschafter gegen das Bild, das Franc und die «NZZ» über sie verbreiten. Reflexartig steigen hüben und drüben Medien und Studierende in die Schützengräben. Das eigentliche Thema geht dabei völlig unter. Und das ist typisch für die Qualität der Diskussion, wie sie in den letzten Jahren in unseren Medien stattfindet: Es ging rasch nur noch um Empörung. Der «Blick» titelt: «Dozentin schimpfte über faule Studis, – jetzt steht sie in der Kritik» und der «Nebelspalter» schreibt «Uni-Dozentin setzt sich Stahlgewitter aus». Das ist eine Anspielung auf den Roman «In Stahlgewittern» von Ernst Jünger. Er beschreibt darin seine Erlebnisse an der deutschen Westfront im Ersten Weltkrieg von 1914 bis 1918. Was die Kritik an Frau Franc mit dem Artilleriefeuer des Ersten Weltkriegs zu tun haben, ist mir schleierhaft, aber Hauptsache, die Schlagzeile knallt.
Faktencheck eines Meinungsstücks
Die Tamedia-Zeitungen haben sich immerhin sachlich mit den Vorwürfen auseinandergesetzt und einige der Thesen einem Faktencheck unterzogen. Das Fazit von fünf untersuchten Thesen: Zwei lassen sich nicht bewerten, eine These ist eher richtig, eine eher falsch und eine ganz falsch. Die These, die der «Tagi» als falsch beurteilt, betrifft das Einkommen: Die Tamedia-Zeitungen zeigen, dass sich der Medianlohn von Absolventinnen und Absolventen geisteswissenschaftlicher Fächer fünf Jahre nach Abschluss ihres Studiums bei einem vollen Pensum auf 93’000 Franken beläuft. Bloss: Andrea Franc hat nie etwas anderes behauptet. Sie kritisiert vielmehr, dass viele Absolventen eines Studiums dieses Potenzial nicht ausschöpfen, weil sie nur in kleinen Pensen arbeiten.
In der Diskussion in den Medien und auf Twitter kristallisieren sich rasch zwei Lager heraus: Die Fraktion «Pro Geisteswissenschaft» kritisiert die Aussagen zu unmotivierten Studierenden und spricht Andrea Franc die Legitimation ab, sich über Geisteswissenschaften zu äussern, weil sie ja kaum Erfahrungen als Dozentin habe. Die Fraktion «Pro Franc» spricht von «Hexenjagd» und «Denkverbot» und sagt, Andrea Franc habe einen wunden Punkt getroffen, deshalb flippe die «woke» Geisteswissenschaft so aus. Solche medialen Auseinandersetzungen sind äusserst unbefriedigend. Es ist wie eine Diskussion zwischen Anhängern verschiedener Religionen: manchmal möglicherweise unterhaltend, aber ohne jeden Wissensfortschritt – und kaum je mit der Bereitschaft, sich ernsthaft mit den Argumenten des Gegenübers auseinanderzusetzen.
Vermischung von Fakten, Analyse und Meinung
Wie konnte es so weit kommen? Was ist das Problem? Es beginnt mit dem Artikel in der «NZZ». Ein Interview ist ein Format, um die Meinung eines Politikers oder einer Expertin in Erfahrung zu bringen. Ein Interview ist nicht dazu geeignet, Fakten zu transportieren. Das ist wohl das Grundproblem der ganzen Versuchsanlage. Eine Berichterstattung hat grundsätzlich drei Ebenen: 1. die Fakten inklusive Zahlen und Daten, 2. ihre Analyse inklusive grafische Aufbereitung und 3. die Meinung darüber, also die Interpretation und allfällige politische Folgerungen. Das Problem am Stück in der «NZZ» ist, dass alle drei Ebenen in einem einzigen Interview verwurstet sind. Das führt zu einem Kuddelmuddel von Fakten, Analyse und Meinung. Besser wäre es, Fakten und Meinung klar zu trennen. Die «NZZ» hätte also die Zahlen zu den Einkommen von Geisteswissenschaftern und den Kosten ihres Studiums sauber aufarbeiten und darstellen müssen und dazu Andrea Franc befragen können.
Andrea Franc wiederum schiesst sich mit ihren Aussagen selbst ins Bein. Sie unterminiert ihre durchaus bedenkenswerte These, dass Geisteswissenschafter weniger zur Refinanzierung ihrer Ausbildung beitragen als Naturwissenschafter, mit unqualifizierten Äusserungen über kiffende Studenten, unmotivierte Schweizer und zahlende Eltern. Mit diesen Aussagen hat sie sich ins Verderben geredet, – und die Journalistinnen, die das Interview geführt haben, haben es zugelassen, weil sie wussten, dass genau diese Aspekte des Gesprächs viel Aufmerksamkeit erhalten werden.
Wirre Aufarbeitung des Gesprächs
Die Aufarbeitung des Gesprächs verlief ähnlich wirr. Dass eine Konkurrenzzeitung einen Faktencheck macht zu einem Meinungsstück bei der Konkurrenz, das ist gleich doppelt bizarr und zeigt, welche Probleme es mit sich bringt, wenn Fakten und Meinungen nicht getrennt werden. Natürlich darf Frau Franc meinen, was sie will, problematisch ist es, wenn die Fakten, auf denen ihre Meinung beruht, nicht stimmen. Was sich in diesem Fall kaum beurteilen lässt, weil nicht klar ist, auf welchen Fakten ihre Meinung beruht.
Am Ende des Tages führt die ganze Diskussion dazu, dass wir ein Bild im Kopf haben von faulen Geschichtsstudenten, die sich nach ihrem Studium von der Allgemeinheit durchfüttern lassen. Ein Bild, das die einen empört von sich weisen und die anderen mit dem üblichen «Darüber wird man wohl noch reden dürfen» begrüssen. Die Empörung hat hüben wie drüben zu vielen Klicks und Leserkommentaren geführt, – die ihrerseits meist völlig losgelöst von jeglicher Faktenbasis lediglich eine vorgefasste Meinung in die Welt trompeten.
Was folgern wir daraus? Wir brauchen dringend mehr Geisteswissenschafter in den Medien, die dafür sorgen, dass die empirische Basis der Berichterstattung stimmt und Fakten, deren Analyse und die Meinung darüber wieder sauber getrennt werden. Oder was sagen Sie? Ich bin gespannt auf Ihre Meinung.
Basel, 10. Juni 2022, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch
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Quellen
Bild: © KEYSTONE/Martin Rüetschi
Blick online (2022): Dozentin schimpfte über faule Studis – jetzt steht sie in der Kritik. In: Blick. [https://www.blick.ch/schweiz/basel/weil-sie-kaum-unterrichtete-dozentin-schimpfte-ueber-faule-studis-jetzt-steht-sie-in-der-kritik-id17563697.html; 10.6.2022].
Departement Geschichte (2022): Profil Andrea Franc. In: Universität Basel. [https://dg.philhist.unibas.ch/de/personen/andrea-franc/profil/; 10.6.2022].
Fontana, Katharina und Neuhaus, Christina (2022): Interview: «Die Studenten vergeuden ihre Zeit». In: Neue Zürcher Zeitung. [https://www.nzz.ch/schweiz/die-studenten-vergeuden-ihre-zeit-ld.1684865; 9.6.2022].
Kohler, Mirjam (2022): Dozentin verunglimpft Studis: Weiss sie überhaupt, wovon sie redet? In: Basler Zeitung. [https://www.bazonline.ch/weiss-sie-ueberhaupt-wovon-sie-redet-646884784166; 9.6.2022].
Tobler, Andreas und Cornehls, Svenson (2022): Historikerin provoziert Studierende – die Vorwürfe im Faktencheck. In: Basler Zeitung. [https://www.bazonline.ch/finanzieren-wir-faulen-studierenden-das-leben-156318800613; 9.6.2022].
Wahl, Daniel (2022): Uni-Dozentin setzt sich Stahlgewitter aus. In: Nebelspalter. [https://www.nebelspalter.ch/uni-dozentin-setzt-sich-stahlgewitter-aus; 10.6.2022].
Weber, Simone (2022): Privatdozentin gerät in die Kritik. In: SRF Regionaljournal Basel. [https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-basel-baselland/privatdozentin-geraet-in-die-kritik?id=12203891; 10.6.2022].
6 Kommentare zu "Brauchen wir Geisteswissenschafter?"
Das Interview in der NZZ ist ein pures Stück Ideologie, es dient dazu, gängige Vorurteile zu zementieren. Als Meinungsbeitrag von Andrea Franc gekennzeichnet, wäre es leicht kritisierbar; durch die Vermischung von behaupteten Fakten und fragwürdiger Analyse erweckt es – ohne aktuellen Anlass – verschleiert es seine allzu offenkundige Absicht.
Danke Matthias Zehnder für diese aus meiner Sicht exemplarisch stimmige Analyse. Die Lage scheint hoffnungslos, aber nicht ernst! In einem Schlaraffenland wie der Schweiz dienen Medien der Unterhaltung. Alles andere ist Beilage. Es zählt, was Geld bringt und was Spass macht. So erfahre ich es auch grossmehrheitlich in der Politik sowie bei der Wirtschaft und bei der Wissenschaft. Als einer, der aus der Kraft der Erde schöpft und mit dem Herzen denkt, erlebe ich mich in einer Gesellschaft von Wohlstandsverwahrlosten als nicht der Norm entsprechend. Die Lage scheint hoffnungslos, aber nicht ernst?
Antwort:
Denken, leben, Handeln wie U. Keller – ein Ziel von mir.
Wer geht auch das Wagnis ein und macht mit?
Echt und ehrlich bereit – mit allen Folgen – in der heutigen Zeit…. Das braucht Mut.
Wer heute lauter bellt, erhält Aufmerksamkeit. Frau Franc bellte laut – und es ging auf. Die Medien stützen sich darauf und dienten als Verstärker.
Ganz einfach: Laut sein, Auffallen, Übertönen. Spielt heut jemand sehr schön Gitarre in seinem Zimmer kümmert es niemanden.
Setzt sich einer auf einen Kirchenturm, packt dort seine Gitarre aus und spielt (weniger) schön: Sofort Aufmerksamkeit, Medien, Rummel.
Ganz einfach.
Geschichtsstudierende, oder Studierende anderer Geisteswissenschaften lernen vieles, was in der Berufswelt von Vorteil ist: Präzise Fragen stellen, nach Quellen recherchieren, Texte verfassen, die auf soliden Grundlagen beruhen. Oder sie lernen, sprachliche Begriffe zu hinterfragen – etwa wenn Matthias Zehnder im Text zwar das „Stahlgewitter“ als Begrifflichkeit kritisiert, aber dann die Redewendung von „ins Bein schiessen“ verwendet. Ginge es sprachlich nicht auch weniger kriegerisch, in diesen Zeiten? „sich selbst schaden“, oder „am Ast sägen, auf dem man sitzt“, oder wenigstens „ins eigene Fleisch schneiden“?
Solche Fähigkeiten sind vielerorts gefragt. Ich habe selbst Geschichte studiert, und bin trotzdem – oder gerade eben wegen dieser Erfahrungen etwas geworden.
Fakt ist aber, dass wirklich sehr viele GeisteswissenschaftlerInnen grosse Mühe haben, gleich nach dem Studium passende Jobs zu finden, weil sie, wenn sie nicht eine akademische Karriere anstreben oder LehrerIn werden, nicht wirklich eine Berufsausbildung durchlaufen haben, sondern eher eine Grundausbildung, die etwa für GeneralistInnen-Jobs die Basis gibt. Darüber hinaus braucht es aber noch Berufserfahrung, und die holt man sich dann in der Regel in schlecht bezahlten Praktika – so die Erfahrung vieler meiner Studienkollegen, ohne dass ich das jetzt empirisch auf breiter Datenbasis geprüft habe. Ob solche Praktika noch mehr Bestandteil des Studiums werden könnten, und ob Auswendiglernen für Prüfungen wirklich sinnvolle Fähigkeiten für den Arbeitsmarkt fördern, solche Fragen gilt es tatsächlich zu diskutieren.
Nachtrag: Lesenswert auch der Thread von Philipp Wampfler auf Twitter:Andrea Franc ist Historikerin, die mehrmals Aufträge für »economiesuisse« durchgeführt hat. Der Wirtschaftsverband hat ihr die Publikation einer Monografie mit Übersetzung ermöglicht. »economiesuisse« fordert seit über 10 Jahren, die Schweizer Hochschulen sollten sich stärker am Arbeitsmarkt ausrichten und dazu z.B. Studiengebühren erhöhen (indem sie z.B. lohnabhängig oder rückzahlbar gestaltet werden).(3/11)
Franc hat diese Forderung, verpackt als Kritik an Geisteswissenschaft, schon mehrmals vorgebracht:
Im März 2021 im @SchweizerMonat, im September 2021
in der @NZZaS “
https://twitter.com/phwampfler/status/1534073777042112512
… ein Beispiel, das zu zeigen scheint, wie nicht nur Medien, sondern auch die sogenannte Wissenschaft interessengebunden sein kann (was ich selber bis zum Geht-nicht-mehr erlebt habe und halt zu deren „Kopfwerk“ gehört).