Gegen ein Internet mit Leitplanken und Airbag

Publiziert am 25. Mai 2018 von Matthias Zehnder

Wir hatten einst die Hoffnung, das Internet sei ein globaler, freier Ort der gleichberechtigten Meinungsäusserung. Jetzt müssen wir feststellen, dass das Netz fest in der Hand von einigen wenigen Grossfirmen ist und die Staaten dieser Welt das ungebärdige Netz eingezäunt haben. Ein Internet mit Leitplanken, Sicherheitsnetz und Airbag – wir haben uns das anders vorgestellt. Was die Alternative wäre? Statt in Zensurtechnik im Netz sollte das Geld in die Bildung der Menschen fliessen. Was meinen Sie?

John Perry Barlow (1947–2018) war so etwas wie die Inkarnation des «Cybercowboys»: Barlow ist auf der 90 Quadratkilometer grossen Bar Cross Ranch seiner Eltern in Pinedale, Wyoming aufgewachsen. Das ist ein Bundesstaat im mittleren Nordwesten der USA, der bis Ende des 19. Jahrhunderts vor allem von Cheyenne und Lakota bewohnt wurde. Als Barlow zwölf Jahre alt war, randalierte er in der Schule und wurde deshalb an die Fountain Valley Military Academy in Colorado Springs geschickt. Da lernte er Bob Weir kennen. Gemeinsam sangen sie selbstgeschriebene Lieder: Barlow schrieb den Text, Weir die Musik. Barlow schrieb auch noch für Weir Liedtexte, als der längst von der Schule geflogen war und in San Francisco eine eigene Band gegründet hatte. Die Band hiess «Grateful Dead». So wurde Barlow zum Texter der wichtigsten Gruppe der Hippie-Zeit.[1]

1987 benutzte Barlow zum ersten Mal einen Computer – für die Buchhaltung auf seiner Ranch. Als er sich damit ins Internet einloggte, fühlte er sich an die Weiten seiner Felder in Wyoming erinnert und liess sich davon faszinieren. Bis 1988 führte er die elterliche Ranch und lebte vom Rinderzüchten. Dann verkaufte er die Farm und beritt nur noch die elektronischen Felder: Barlow rief gemeinsam mit Lotus-Gründer Mitch Kapor die Electronic Frontier Foundation (EFF) ins Leben; die beiden wurden (in bester Cowboytradition) zu den «Beschützern der Rechtlosen im Cyberspace».

Ihr müden Riesen aus Fleisch und Stahl

1996 unterzeichnete der damalige Präsident Bill Clinton ein Gesetz, das «unsittliche Inhalte» aus dem Internet verbannen sollte. Das Gesetz hiess Communications Decency Act. John Perry Barlow war damals gerade in Davos am Weltwirtschaftsforum. Als Reaktion auf das Gesetz veröffentlichte er von Davos aus A Declaration of the Independence of Cyberspace, also eine «Unabhängigkeitserklärung für den Cyberspace».[2] In kraftvoll poetischer Sprache fordert Barlow darin die Unabhängigkeit des Internets von jeglicher staatlicher Kontrolle.

So beginnt die Erklärung: Regierungen der industriellen Welt, ihr müden Riesen aus Fleisch und Stahl, ich komme aus dem Cyberspace, dem neuen Zuhause des Geistes. Als Vertreter der Zukunft bitte ich euch aus der Vergangenheit, uns in Ruhe zu lassen. Ihr seid nicht willkommen unter uns. Ihr habt keine Souveränität, wo wir uns versammeln. 1997 hat zwar das Oberste Gericht der USA grosse Teile des Communications Decency Acts als ungültig erklärt, weil das Gesetz gegen die im ersten Zusatz der amerikanischen Verfassung garantierte Redefreiheit (First Amendment) verstösst. Die Fragen sind seither aber etwa dieselben geblieben.

Pornos und Hakenkreuze

Inwiefern muss der Staat die Benutzer des Internets vor gefährlichen Inhalten schützen? Wie stark darf der Staat das Internet also regulieren? Wie weit soll die Eigenverantwortung der Internetbenutzer gehen? Das grösste Problem ist dabei, dass das Internet ein globales Medium ist, die Vorstellungen darüber, was ein gefährlicher Inhalt ist, aber sehr regional sind. In Europa ist zum Beispiel das Bild einer nackten, weiblichen Brust in der Regel unproblematisch. In den USA gilt das bereits als Sittlichkeitsverstoss und in islamischen Ländern ist es streng verboten. Umgekehrt haben Amerikaner kein Problem mit Waffen und Bildern von Gewalt, während Europäer wesentlich zurückhaltender sind.

Einig ist sich die Welt nur in Bezug auf Extremfälle. Kinderpornographie zum Beispiel oder Terrorpropaganda des selbsternannten Islamischen Staats IS sind in allen Ländern der Welt verboten. Facebook-Chef Mark Zuckerberg konnte deshalb an der Anhörung vor EU-Parlamentariern diese Woche damit prahlen, dass sein Netzwerk 99 Prozent der IS-Propaganda mittlerweile automatisiert eliminiere.[3] Viel schwieriger ist es, wenn sich einzelne Länder über die Beurteilung von Inhalten nicht einig sind. Ein Beispiel dafür sind Informationen über die kurdische PKK, die in der Türkei als Terrororganisation eingestuft wird, aber nicht im Westen. Selbst scheinbar so eindeutige Symbole wie das Hakenkreuz können zu Konflikten führen. Als das Europäische Parlament 2005 auf deutsche Initiative hin ein europaweites Verbot des Hakenkreuzes vorschlug, protestierten britische Hindus dagegen. Im Hinduismus und im Buddhismus ist die Svastika seit Jahrhunderten ein Glückssymbol.[4]

Ein Internet voller Barrieren

Als grösste Gefahr im Netz betrachten Experten mittlerweile nicht unerwünschte Inhalte wie das Hakenkreuz, sondern die (datenmässige) Ausbeutung der Internetbenutzer durch Konzerne wie Facebook. Seit heute gilt deshalb in der EU ein neues Datenschutzgesetz, das den europäischen Konsumenten mehr Macht über ihre eigenen Daten verleihen soll: die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO).[5] Diese Verordnung schützt die Grundrechte und Grundfreiheiten natürlicher Personen und insbesondere deren Recht auf Schutz personenbezogener Daten, heisst es da. Das klingt gut. Bloss hat die EU vergessen den Anwendungsbereich der Verordnung zu spezifizieren. So gelten im europäischen Internet ab heute dieselben Regeln für datenausbeuterische Konzerne im Stil von Facebook wie für die Dorfwebsite – oder für meinen Blog.

Was das genau bedeutet, weiss niemand. Jede Website speichert gezwungenermassen gewisse Daten ihrer Benutzer, sonst könnte sie nicht funktionieren. Möglicherweise haben nun kleine Blogger wie ich grössere Probleme – noch ist nicht bekannt, wie die DSGVO genau umgesetzt (und durchgesetzt) wird. Das neue Datenschutzgesetz zieht zwar wichtige, rote Linien für die Grosskonzerne – beseitigt damit aber möglicherweise wichtige Publikationsfreiheiten für die Internetöffentlichkeit. Und die nächste Barriere im Internet steht schon kurz bevor: Am 10. Juni stimmt die Schweizer Bevölkerung über das neue Geldspielgesetz ab.[6] Das neue Gesetz sieht technische Zugangssperren vor, die es verhindern, dass Schweizer Internetbenutzer die Webseiten von ausländischen Onlinespielanbietern laden können, die sich nicht an die Regeln der Schweiz halten.

Zivilisation des Geistes

Im Abstimmungsbüchlein schreibt der Bundesrat, die Schweiz folge damit dem Beispiel von 17 europäischen Staaten, die solche Sperren bereits einsetzen, namentlich gegen illegale Sportwetten. Jetzt sagen Sie vielleicht: Das ist doch nichts als vernünftig. Die Schweiz setzt auf ihrem Staatsgebiet ihre eigenen Regeln durch und es gibt nun mal Sportwetten, die illegal sind. Vielleicht. Aber was ist der Unterschied zwischen der Schweiz, die Webangebote von Sportwetten sperrt, und einem Land wie China, das den Zugang zur Website von CNN sperrt? Beide Länder schützen ihre Bürger nur vor Inhalten, die in ihren jeweiligen Ländern illegal sind. Anders gesagt: Wo sind Leitplanken, Sicherheitsnetze und technische Verbote im Internet sinnvoll – und wo untergraben sie das Recht auf Informationsfreiheit?

Am Schluss seiner Unabhängigkeitserklärung für den Cyberspace schrieb John Perry Barlow: Wir werden uns über den gesamten Planeten ausbreiten, auf dass keiner unsere Gedanken mehr einsperren kann. Wir werden im Cyberspace eine Zivilisation des Geistes erschaffen. Möge sie humaner und gerechter sein als die Welt, die Eure Regierungen bislang errichteten.[7] Das hat, wir wissen es mittlerweile, nicht geklappt. Die Zivilisation des Geistes hat klein beigegeben vor aufmerksamkeitsheischenden Websites, geldgierigen Pornoanbietern, verbrecherischen Betrügern, staatlichen Zensurbehörden – und übermächtigen Oligarchen wie Mark Zuckerberg. Und John Perry Barlow? Er ist am 7. Februar in San Francisco gestorben. Herzprobleme. Vielleicht hat ihm die Entwicklung seines geliebten Cyberspaces das Herz gebrochen.

Aber all die schlechten Nachrichten heissen nicht, dass wir die Vision eines freien Internets nicht aufrechterhalten sollten. Wäre es nicht klüger, statt immer mehr Geld in Sicherheitszäune, Leitplanken und Airbags im Internet zu investieren, das Geld für die Bildung seiner Benutzer auszugeben? Wäre es nicht zielführender, unseren Kindern zu erklären, wie man richtige Nachrichten von falschen unterscheiden kann, als im Internet einen technischen Kampf gegen die Fake-News-Windmühlen zu führen? Wäre es nicht schöner, mündige Bürger wüssten selbst was gut ist für sie im freien Netz?

Basel, 25. Mai 2018, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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[1] Siehe Matthias Zehnder: Gefahr aus dem Cyberspace? Das Internet zwischen Freiheit und Zensur. Basel: Birkhäuser Verlag 1998.

[2] Vgl. https://www.eff.org/de/cyberspace-independence. Eine gute, deutsche Übersetzung von Stefan Münker findet sich hier: https://www.heise.de/tp/features/Unabhaengigkeitserklaerung-des-Cyberspace-3410887.html

[3] Vgl. http://www.bbc.com/news/live/uk-politics-parliaments-44210723

[4] Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Swastika

[5] Vgl. https://dsgvo-gesetz.de/

[6] Vgl. https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/abstimmungen/20180610/Geldspielgesetz.html

[7] Vgl. https://www.heise.de/tp/features/Unabhaengigkeitserklaerung-des-Cyberspace-3410887.html

4 Kommentare zu "Gegen ein Internet mit Leitplanken und Airbag"

  1. Der Ansatz mit der Bildung gefällt mir. Im ABC einer Bildung für die Zukunft, mit dem ich europaweit auf Tournee bin, steht bei B: Lernreicher Unterricht wird nicht mehr vor allem mit Rennbahnpädagogik in Jahrgangsklassen organisiert, wo konkurrenzorientiert für gute Noten gelernt wird, und möglichst keine Fehler gemacht werden dürfen. In einer Schule für die Zukunft verbringen Lernende ihre Zeit immer weniger passiv mit Zuhören. Wissen lässt sich selbstverantwortet auch im Internet finden. Wichtig für den Wissenserwerb und einen nachhaltigen Lerngewinn ist das Tun. Angesagt ist deshalb qualifiziert und qualifizierend angeleitete Projektarbeit. Sie findet vornehmlich fächerübergreifend und interessenorientiert im Rahmen von relevanten Inhalten und Themen statt. Gesellschaft und Wirtschaft brauchen eigenständige, kritische und kreative Lösungsfinder*innen: Teamfähige Menschen, die erfahrungs- und ergebnisreich kooperieren können.

  2. Es scheint mir eine träumerische und etwas weltfremde Vorstellung zu sein, im Internet könne die totale Freiheit herrschen, ganz losgelöst vom menschlichen Unwesen, ganz auschliesslich erbauender Bildung gewidmet. Ja es wäre sicher klüger das Geld in die Bildung zu investieren – aber eben, wo alle Zutritt haben geschieht auch alles was Menschen so umtreibt. Auch in der Politik wäre es klüger, mehr Geld für die Bildung auszugeben, statt für Steuererleichterungen von Grosskonzernen, welche nicht selten dieser Welt enormen Schaden vielfältigster Art zufügen. All diese Träume führen aber nicht weiter, denn auch das Internet ist ein Spiegel der Menschheit, welcher es an global-sozialer Kompetenz massiv fehlt. Wie soll Rechtsstaatlichkeit aufrecht erhalten werden, wie soll Demokratie möglich sein, wenn sie im World-Wide-Web ohne Regeln unterlaufen werden kann. Die sogenannte Selbstverantwortung wird nur von Verantwortungsbewussten wahrgenommen und zwar nach seinen eigenen Regeln, die nicht unbedingt die meinen sein müssen. Wir Menschen haben es in der ganzen Geschichte unserer Zivilisation nicht fertiggebracht, Kriege global zu verhindern, wir im Westen haben es allerdings geschafft sie dorthin zu verlagern, wo sie uns nicht so sehr schmerzen. Aber es war eine zivilisatorische Leistung, Regeln aufzustellen, eine Rechtsbasis zu schaffen um ein Miteinander zu ermöglichen. Wir sind so, wie wir sind, auch im Internet. Wir mögen das bedauern, aber das führt uns nicht weiter.

    1. Wir sind so, wie wir sind: Ausgestattet mit einem Gehirn, das vor allem deshalb so gross und so schwer ist, weil es uns dazu verhelfen soll, Gier zu befriedigen. Bildung und Demokratie sehe ich als Gegengifte, auf die ich nach wie vor setze. Auch wenn es oft nicht viel bringen kann. Doch: Einen anderen Weg sehe ich nicht!?

      1. Auch ich sehe keinen anderen Weg. Den sehe ich allerdings nur mit den Regeln, welche sich die Demokratie gibt, auch im Internet. Ich würde es beispielsweise begrüssen, wenn jeder Autor im Internet zu seinem Namen stehen müsste, ohne sich hinter einem Pseudonym verstecken zu dürfen. Dies wäre sicher einschränkend, aber anständig.

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