Fünf Lebensbilder an Stelle eines Wochenkommentars

Publiziert am 21. Juli 2017 von Matthias Zehnder

Einen eigentlichen Wochenkommentar gibt es heute nicht – der Wochenkommentar macht Sommerpause. Dafür gibt es aktuelle Lesetipps. Heute: fünf Biografien – also fünf höchst anregende Lebensbilder. Inspirierend sind sie alle, jedes auf seine Weise. Das fünfte Buch hat mich aber richtig begeistert. Wenn Sie trotzdem einen Wochenkommentar lesen möchten, empfehle ich Ihnen diese drei Kommentare der letzten Wochen, die immer noch aktuell sind:

Über die Trumpisierung des Kantons Basel-Landschaft
www.matthiaszehnder.ch/wochenkommentar/ueber-die-trumpisierung-des-kantons-basel-landschaft/

Warum es fatal ist, Politik als Deal zu sehen
www.matthiaszehnder.ch/wochenkommentar/warum-es-fatal-ist-politik-als-deal-zu-sehen/

Es sind die Medien, die für Terror sorgen
www.matthiaszehnder.ch/wochenkommentar/es-sind-die-medien-die-fuer-terror-sorgen/

Vergessen Sie nicht, bei der Lektüre ab und zu auf die Werbung zu klicken. Jeder Klick bringt mir ein paar Rappen. Das ist nicht viel, aber immerhin.

Die Bücher der folgenden Lesetipps sind, wie immer, bei der Buchhandlung Bider&Tanner in Basel vorrätig. Unter jedem Lesetipp finden Sie den Link zum Online-Bestellbereich von Bider&Tanner, Sie können aber auch einfach in der Buchhandlung nach den Büchern fragen. Sie sind alle vorrätig.

Wenn Sie die Bücher lieber als Kindle-E-Book von Amazon lesen möchten, finden Sie einen entsprechenden Bestelllink ebenfalls unter den Tipps.

Aber jetzt zu den fünf Lektüretipps.

Die erste Biografie handelt von einer der mächtigsten Frauen, die es je gab. Sie war Gattin eines flatterhaften Ehemanns, Mutter von 16 (!) Kindern – und Königin:

Maria Theresia. Die Macht der Frau

Königinnen gab es in der Geschichte viele – die Regentinnen unter ihnen lassen sich aber an einer Hand abzählen. Eine Königin war im Normalfall die dekorative Frau an der Seite des Königs. Frauen durften meist nur mangels eines Besseren regieren – und das heisst: eines Mannes. Das war auch bei Maria Theresia so: Ihr Vater überreichte ihr Zepter und Krone nur, weil ein männlicher Stammhalter ausgeblieben war. Doch Maria Theresia von Österreich nutzte die Gunst der Stunde, bestieg 1730 im Alter von 23 Jahren den Thron der Habsburgermonarchie und regierte ihr Land vier Jahrzehnte lang. Einfach war das nicht. Als Erbin der Habsburger führte sie drei Leben gleichzeitig: sie war nicht nur Herrscherin über ein riesiges Reich, sie war auch Gattin eines zuweilen flatterhaften Mannes und Mutter von sechzehn (!) Kindern. Diesen Rollen spürt Élisabeth Badinter in ihrer Biografie von Maria Theresia nach. Ihr Buch ist keine historische Studie über Österreich, sondern der Versuch, nachzuvollziehen und zu begreifen, wie Maria Theresia ihre unterschiedlichen Rollen bewältigen konnte. Es ist die Suche nach einer Persönlichkeit, ein psychologisches Portrait, das vor allem auf akribischer Recherche in den Tausenden von Briefen beruht, die Maria Theresia an ihre Familie, ihre Freunde und ihre Mitarbeiter geschrieben hat. Daraus ist weniger ein historisches Sachbuch, als ein emotionales Portrait einer überaus spannenden und widersprüchlichen Frau entstanden

Élisabeth Badinter: Maria Theresia. Die Macht der Frau. Zsolnay, 304 Seiten, 32.50 Franken; ISBN 978-3-552-05822-4

https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783552058224

http://amzn.to/2vbspas

Das zweite Lebensbild widmet sich einem Mann, dessen Leben hinter seinem Werk weit zurücksteht. Vielleicht besteht es deshalb aus Gesprächen:

Die Republik Nizon

Paul Nizon ist einer der letzten Überlebenden seiner Art: Elias Canetti war sein Trauzeuge, Siegfried Unseld sein Verleger, Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt waren seine Freunde, Ingeborg Bachmann, Günter Grass, Peter Handke und Thomas Bernhard seine Autorenkollegen auf Augenhöhe. Nizon ist ein manischer Schreiber, ein begnadeter Sprachkünstler. Dieses Buch basiert auf Gespräche, die der belgische Journalist Philippe Derivière mit Nizon geführt hat. Nizon sagt: Seit ich mit dem Schreiben begonnen habe, bin ich fest überzeugt, dass es die Wirklichkeit nur dann gibt, wenn es mir gelingt, sie in Worte zu fassen. In diesem Sinne wird das Leben von Paul Nizon erst durch dieses Buch wirklich. Er erzählt, wie er schreibt, wie er als Schriftsteller in Paris lebt, welchen Einfluss Van Gogh auf seine Vorstellung des Künstlerseins hat und was ihm die Familie bedeutet (er erklärt sich zum Masochisten). Obwohl der Text auf Gesprächen basiert, ragen viele Sätze wie gemeisselt aus den Seiten hervor Trotzdem bleibt das Buch gut lesbar und bietet einen schönen Einstieg ins Leben (und damit ins Werk) von Paul Nizon.

Paul Nizon: Die Republik Nizon. Eine Biographie in Gesprächen, geführt mit Philippe Derivière. Haymon Verlag, 216 Seiten, 26.90 Franken; ISBN: 978-3-7099-7277-9

https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783709972779/

http://amzn.to/2tDSXTH

Das dritte Lebensbild ist einem echten Helden gewidmet, einem Helden allerdings, den viele von uns heute nicht mehr kennen, und wenn, dann eher als Heiligen:

Bonhoeffer. Pastor, Agent, Märtyrer und Prophet

Als am 27. Juli 1945 in London ein Gedenkgottesdienst für Dietrich Bonhoeffer ausgerichtet wurde, erschütterte das Deutsche und Engländer gleichermassen: Die Deutschen waren erschüttert, dass dieser «gute» Deutsche tot war, die Engländer konnten kaum glauben, dass dieser tote Deutsche «gut» war. Dabei hätte alles auch ganz anders herauskommen können. Dietrich Bonhoeffer, deutscher Pastor und Theologe, hätte sich kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in sie USA absetzen können. Anfang Juni bis Ende Juli 1939 reiste Bonhoeffer zum zweiten Mal in die USA. Alles war für sein Bleiben vorbereitet. Doch Bonhoeffer kehrte zum Entsetzen seiner Amerikanischen Freunde nach Deutschland zurück. «Ich habe kein Recht, an der Wiederherstellung des christlichen Lebens in Deutschland nach dem Kriege mitzuwirken, wenn ich nicht die Prüfungen dieser Zeit mit meinem Volk teile», schrieb Bonhoeffer seinem amerikanischen Professor. Bonhoeffer beschränkte sich nicht aufs Zusehen in Deutschland: Er nahm öffentlich Stellung gegen die nationalsozialistische Judenverfolgung und engagierte sich im Kirchenkampf gegen die Deutschen Christen und den Arierparagraphen. 1938 schloss er sich der Widerstandsbewegung von Admiral Canaris an. 1940 erhielt er Redeverbot, 1941 Schreibverbot. 1943 wurde Bonhoeffer verhaftet und 1945 auf ausdrücklichen Befehl Adolf Hitlers hingerichtet. Diese Bonhoeffer-Biografie von Eric Metaxas liest sich so spannend wie ein Roman, gleichzeitig ist sie so lehrreich wie ein Sachbuch. Metaxas zeigt die verschiedenen Rolen von Bonhoeffer als Pastor, als Agent des Widerstands und schliesslich als Märtyrer und Prophet. Das Buch ist der Beweis, dass es den «guten» Deutschen tatsächlich gab – und dass er uns bis heute viel zu sagen hat.

Eric Metaxas: Bonhoeffer. Pastor, Agent, Märtyrer und Prophet. SCM Hänssler, 768 Seiten, 39.90 Franken; ISBN 978-3-7751-5271-6

https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783775152716

http://amzn.to/2u7HEEc

Das vierte Lebensbild dreht sich um einen echten Sonderling, einen Basler Patriarchen und gleichzeitig einen der ersten, modernen Manager der Schweiz:

Samuel Koechlin und die Ciba-Geigy

Wenn in Basel nach den Namen der Menschen gefragt wird, welche die Entwicklung der chemisch-pharmazeutischen Industrie geprägt haben, fällt sein Name selten: Samuel Koechlin ist kein Promi mehr in Basel. Trotzdem ist er im Stammbaum von Novartis eine sehr wichtige Figur: Er war in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts einer der Architekten der so genannten «Basler Heirat» der beiden Firmen Ciba und Geigy und der erste Konzernchef der Ciba-Geigy. Koechlin war einer der ersten modernen Manager der Schweiz. Er lehnte das Patriarchat der alten Patrons ab und setzte auf Kompetenz. Dabei war er selbst ein schräger Vogel. Koechlin war ein leidenschaftlicher Military-Reiter und ein guter noch dazu. 1956 nahm er sogar an den olympischen Spielen in Stockholm teil. In Basel war er dafür bekannt, dass er mit einem offenen VW Käfer Cabriolet durch die Stadt fuhr. Die Fahrertür des Wagens war verbeult, weil er da seine Pfeife auszuklopfen pflegte. In diesem Buch schildert Tobias Ehrenbold den Basler Wirtschaftskapitän als einer der ersten, modernen Manager und als einer der ersten Schweizer, der in globalen Dimensionen dachte. Das ist bis in die Details spannend.

Tobias Ehrenbold: Samuel Koechlin und die Ciba-Geigy. Eine Biografie. NZZ Libro, 176 Seiten, 36 Franken; ISBN 978-3-03810-254-0

https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783038102540

http://amzn.to/2tdG9zQ

Zum fünften und letzten Lebensbild: Es ist eine echte Trouvaille. Es sind Gespräche zwischen André Heller (70) und seiner Mutter Elisabeth (103). Die Gespräche sind wunderbar heiter, abgründig, lustig und weise – das perfekte Buch für den Nachttisch.

Uhren gibt es nicht mehr

André Heller ist ein Wiener Feuerkopf, ein mit allen Wassern gewaschener Künstler, Chansonnier und Kunstveranstalter. Heller ist heuer 70 Jahre alt geworden. Hellers Mutter Elisabeth ist 1914 geboren, also bereits 103 Jahre alt. Dieses Buch besteht aus achzehn wunderbaren Gesprächen zwischen André und Elisabeth. Es sind Gespräche, die wunderbar schweben zwischen Hellsichtigkeit der Hundertjährigen und Lakonie, zwischen Wiener Schmäh und Altersweisheit. Auf eine Frage von André antwortet Elisabeth etwa: Keine Ahnung. Unglaublich, was es alles gibt, das es nicht mehr gibt in meinem Hirn. Ein andermal fragt André Wie geht es dir? Träumst du viel? Darauf Elisabeth: Tagsüber, wenn ich wach bin, schon. Manchmal ist es einfach schön, zwei so vertrauten Menschen beim Gespräch zuzuhören. Manchmal treffen einen die schlichten Antworten von Elisabeth wie ein Schlag. Andre: Hast du viele Geheimnisse? Elisabeth: Einige schon, ein Mensch ohne Geheimnisse ist eine Schande. Oder André fragt: Mami, wenn du einmal jemand ganz Unerfahrenem erklären müsstest, was und wie die Menschen sind, was würdest du sagen? Elisabeth: Dass sie sich häufig überschätzen. André: In ihren Fähigkeiten? Elisabeth: Nein, in ihrer Wichtigkeit. Sie sind vielleicht fähiger, als sie glauben, aber unwichtiger, als sie denken. Das Buch ist voller solcher Perlen. Eine wunderbare Lektüre, die auf jedes besser assortierte Nachttisch gehört!

André Heller: Uhren gibt es nicht mehr. Zsolnay, 144 Seiten, 24.50 Franken; ISBN 978-3-552-05831-6

https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783552058316/

http://amzn.to/2v7OB56

So viel für heute. Ich wünsche Ihnen eine gute Sommerzeit.

Prerow, 21. Juli 2017, Matthias Zehnder; mz@matthiaszehnder.ch

PS: Nicht vergessen – Wochenkommentar abonnieren. Kostet nichts, bringt jede Woche ein Mail mit dem Hinweis auf den neuen Kommentar und einen Buchtipp. Einfach hier klicken.

2 Kommentare zu "Fünf Lebensbilder an Stelle eines Wochenkommentars"

  1. Lieber Matthias
    Herzlichen Dank für die wundervollen Lesetipps. Besonder angesprochen hat mich das Buch von André Heller. Ich erinnere mich auch, schon davon gelesen zu haben, hatte es mir allerdings nie besorgt – was ich jetzt schleunigst nachholen will.
    Darf ich dir auch mal einen Tipp geben? Aber vielleicht renne ich ja offene Türen ein damit….
    Ich las mit wachsendem Verständnis und grossem Ernst das Buch „unorthodox“ von Deborah Feldmann (siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Deborah_Feldman). Es ist das Buch einer starken Frau, einer denkenden Frau und erinnert mich an das Buch „Raffelas Geschichte“ von Ingrid Lavée (leider vergriffen). Raffaela ist die Frau eines orthodoxen Juden, hat viele Kinder, wird immer mehr eingesperrt, muss zwangsweise die Bibel lesen und es ist eindrücklich beschrieben, wie sie – je mehr sie liest und je mehr sie eingesperrt ist – selber anfängt zu denken, zu hinterfragen, zu analysieren und letztlich ausbricht. Zurück zu Deborah Feldmann: sie hat eine Fortsetzung geschrieben, die ich noch nicht gelesen habe. Kommt noch.
    Sommergrüsse!
    Beatrice

  2. Danke für diese Lesetipps. Das Buch mit dem Hellerschen Dialog interessiert mich. Nicht nur, weil meine Mutter und ich je denselben Jahrgang haben wie Elisabeth und André Heller. Auch weil ich mir unter anderem vorstellen kann, zu Dialogen angeregt zu werden, die ich mit meiner verstorbenen Mutter nie geführt habe.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.