Fünf Gedankenanstösse im Herbst

Publiziert am 7. Oktober 2016 von Matthias Zehnder

Einen eigentlichen Wochenkommentar gibt es heute nicht – der Wochenkommentar macht Herbstpause. Dafür gibt es aktuelle Lesetipps. Heute: fünf Sachbücher – also fünf höchst anregende Gedankenanstösse. Das fünfte Buch wird sie gleich in doppelter Hinsicht überraschen. Wenn Sie trotzdem einen Wochenkommentar lesen möchten, empfehle ich Ihnen diese drei Kommentare der letzten Wochen, die immer noch aktuell sind:

Die Burka als Ausdruck persönlicher Freiheit:
http://www.matthiaszehnder.ch/wochenkommentar/burka/

Die Politik macht Lügen lange Beine
http://www.matthiaszehnder.ch/wochenkommentar/luegen-in-der-politik/

Warum Mofas gefährlicher sind als Terroristen
http://www.matthiaszehnder.ch/wochenkommentar/terroristen/

Vergessen Sie nicht, bei der Lektüre ab und zu auf die Werbung zu klicken. Jeder Klick bringt mir ein paar Rappen. Das ist nicht viel, aber immerhin.

Die Bücher sind, wie immer, bei der Buchhandlung Bider&Tanner in Basel vorrätig. Unter jedem Lesetipp finden Sie den Link zum Online-Bestellbereich von Bider&Tanner, Sie können aber auch einfach in der Buchhandlung nach den Büchern fragen. Sie sind alle vorrätig.

Aber jetzt zu den fünf Lektüretipps.

Das erste Buch führt zurück ins Europa der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und schlägt einen Bogen vom Ersten Weltkrieg bis in die Nachkriegsjahre des Zweiten Weltkriegs.

Höllensturz

herbst1_hoellensturzIan Kershaw ist ein Spezialist für die Hitlerjahre und den Zweiten Weltkrieg und ohne zu übertreiben wohl einer der bedeutendsten Historiker unserer Zeit. Sein neues Buch ist keine Spezialabhandlung, sondern bietet einen breiten Überblick über Europa von 1914 bis 1949. Kershaw schlägt in einer packenden Erzählung den Bogen vom Attentat in Sarajewo, das den Ersten Weltkrieg auslöste, bis zum Kalten Krieg Ende der 40er Jahre. Bei der Lektüre erschrickt man unweigerlich, denn Kershaw führt die Kriege letztlich auf drei Faktoren zurück, die uns heute nur allzu bekannt vorkommen: Auf einen aggressiven Nationalismus, auf tiefe Konflikte zwischen den Klassen und das Scheitern des Kapitalismus in den 20er Jahren. Das Buch lässt sich deshalb nicht nur als fulminanten Überblick über die Geschichte Europas lesen, sondern auch als Fanal an uns heutige. Wehe, Ihr habt die Probleme noch einmal nicht im Griff. Kurz: Spannend, packend – und Kershaw hat bereits eine Fortsetzung versprochen.

Ian Kershaw: Höllensturz. Europa 1914 bis 1949. DVA, 768 Seiten, 45.50 Franken; ISBN 978-3-421-04722-9

Das Buch ist hier erhältlich.

Die Krise des Kapitalismus war also laut Kershaw einer der Gründe für den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Warum es ohne Kapitalismus doch nicht geht, davon handelt das zweite Buch:

Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung

herbst2_kapitalismusAm Anfang dieses Buchs steht eine Frage, welche die Queen von England nach der Finanzkrise gestellt hat: «Wie konnte es sein, dass niemand diese Krise vorhergesehen hat?» Die britischen Ökonomen hatten darauf keine Antwort. Denn die Ökonomie hat sich, so Ulrike Hermann, verrannt in mathematischen Theorien, die kein Nachdenken über die heutigen Krisen beinhalten. Hermann schreibt: «Zum Dogmatismus der Mainstream-Ökonomie gehört, dass sie die wichtigsten Theoretiker ihres eigenen Faches einfach ignoriert. Adam Smith, Karl Marx und John Maynard Keynes werden an den Universitäten kaum mehr gelehrt.» Die heutige Ökonomie tue so, als seien Smith und Keynes gestrig, halte sich selbst dabei aber im Vorgestern auf. Herman ist überzeugt, dass die meisten heutigen Ökonomen keine Ahnung davon hätten, was es bedeutet, wenn globale Grosskonzerne herrschen oder Banken Geld aus dem Nichts schöpfen. Daher sei die Ökonomie heute so oft überfordert. Das spannende Abenteuer Kapitalismus verstehe man nur, wenn man seine klügsten Theoretiker kennt. Also Smith, Marx und Keynes. In genau diese Denker führt Herman auf gut verständliche Art und Weise ein. Und siehe da: So mancher Schleier lüftet sich. Das Schöne daran: Trotz trockenem Thema liest sich das buch zuweilen so spannend wie ein Krimi.

Ulrike Hermann: Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung. Die Krise der heutigen Ökonomie oder Was wir von Smith, Marx und Keynes lernen können. Westend Verlag, 228 Seiten, 24.50 Franken, ISBN 978-3-86489-141-0

Das Buch ist hier erhältlich.

Bei Lichte besehen geht es auch im Kapitalismus schnell um Philosophie. Kritisch mit dem Kapitalismus auseinandergesetzt hat sich auch Jean-Paul Sartre. Er ist einer der Helden in diesem wunderbaren Buch, meinem dritten Lesetipp:

Das Café der Existenzialisten

herbst3_existenzialismusWie macht man Philosophie aus Aprikosencocktails? Für Sartre kein Problem – und höchst unterhaltend, wenn Sarah Bakewell darüber berichtet. Sie erzählt in diesem Buch zum ersten Mal die Geschichte der Existenzialisten. Im Zentrum stehen Heidegger und Sartre. Der Deutsche hockt in seiner Hütte im Schwarzwald und sinnt über das Sein nach, der Franzose sitzt in Pariser Cafés und schreibt wie besessen über die Welt, den Ekel und die Bourgoisie. Bakewell erzählt aber auch von Husserl und Merleau-Ponty, Simone de Beauvoir, Albert Camus, Iris Murdoch, Colin Wilson und vielen anderen. Kurz: Sarah Bakewell doziert nicht abstrakt über Philosophie, sondern lässt die Protagonisten des Existenzialismus in einer meisterhaften Kollektivbiographie wiederauferstehen. Das ist höchst unterhaltend, teilweise richtig spannend – und ganz nebenbei informativ. Die Gespräche der Philosophenfreunde über das Sein, die Freiheit und Aprikosencocktails vergisst man nicht so leicht wieder.

Sarah Bakewell: Das Café der Existenzialisten. Freiheit, Sein und Aprikosencocktails. C.H. Beck Verlag, 448 Seiten, 32.50 Franken; ISBN 978-3-406-69764-7

Das Buch ist hier erhältlich.

Um die Existenz geht es auch im vierten Buch, um die Existenz der Presse nämlich.

Lückenpresse

herbst4_lueckenpresseIn Deutschland schimpfen AfD und Pegida die Medien «Lügenpresse», in der Schweiz redet die SVP verächtlich von den «Mainstreammedien». Ist was dran an der Kritik oder sind das nur politische Propaganda? Sicher ist: Die etablierten Medien stecken in einer Glaubwürdigkeitskrise. Die öffentliche und die veröffentlichte Meinung driften gefährlich auseinander. Das ist nicht nur in Deutschland so, sondern auch in der Schweiz, in den USA und in vielen weiteren Ländern: Die so genannten Leitmedien geraten immer mehr unter Beschuss. Ulrich Teusch untersucht den Vorwurf der Lügenpresse und kommt zum Schluss, dass Lügen nicht das Problem sind. Teusch stellt zwei andere, weit gravierendere Faktoren ins Zentrum seiner Analyse: die sehr selektive Auswahl von Information (er redet sogar von Unterdrückung wesentlicher Informationen) und das Messen mit zweierlei Mass. Beide Defizite sind laut Teusch kein Zufall, sondern strukturell im Mediensystem verankert. Wenn sich daran nichts ändere, gehöre der Journalismus, wie wir ihn kannten, bald der Vergangenheit an.

Ulrich Teusch: Lückenpresse: Das Ende des Journalismus, wie wir ihn kannten. Westend Verlag, 224 Seiten, 24.50 Franken; ISBN 978-3-86489-145-8

Das Buch ist hier erhältlich.

Eine sehr überraschende Diagnose über die Demokratie fällt das fünfte Buch, das ich Ihnen ans Herz legen möchte:

Gegen Wahlen

herbst5_wahlenWahlen sind undemokratisch. Diese überraschende These vertritt der holländische Autor David van Reybrouck. Immer weniger Menschen sind Mitglieder einer Partei, beteiligen sich am politischen Leben und nehmen an Wahlen teil. Wahlen werden heute als Synonym für die Demokratie angesehen. Das ist aber falsch. In der Geschichte der Demokratie waren es nicht die Wahlen, sondern das Los, das demokratische Repräsentation sicherstellte. Eine Lotterie demokratischer als Wahlen? Ja, meint David van Reybrouck und wer sein Buch liest, kann ihm nur zustimmen: Schon Aristoteles bezeichnete das Los als demokratisch, die Wahl aber als aristokratisch. Wer sieht, wie es bei Wahlen in den USA zugeht, kann ihm nur zustimmen. Wahlen gibt es erst seit der französischen Revolution und sie wurden nicht etwa eingeführt, um Demokratie zu ermöglichen, sondern im Gegenteil um den Mob von der Macht fernzuhalten. Das Wahlrecht hatten denn auch nur ganz bestimmte Menschen, in Basel zum Beispiel vermögende, reformierte Männer. Auch heute ist bei Lichte besehen eine Wahl immer auch mit Geld verbunden. Kein Zweifel: Das Los wäre demokraticher.

David van Reybrouck: Gegen Wahlen. Warum Abstimmen nicht demokratisch ist. Wallstein, 200 Seiten, 24.50 Franken, ISBN 978-3-8353-1871-7

Das Buch ist hier erhältlich.

So viel für heute. Weitere Lesetipps finden Sie unten.

Fünf Gedankenanstösse

Ein Kommentar zu "Fünf Gedankenanstösse im Herbst"

  1. „Lückenpresse“ – sehr gutes Wort.
    So wird jede Story ganz einfach nach dem Geschmack des Schreiberlings rund. Man lügt nicht, sondern blendet einfach die unangenehme Fakten (die einem nicht passen) aus. Aus dem Strauss von News die minütlich über den Ticker ins Haus flattern gibt es genug Auswahl, sich mit den Argumenten zu bedienen, die einem in den Kram passen, um danach seine Story zu basteln. Solche Berufsgeschichtenbastler gibt es auch in der Region Basel genug, man vergleiche nur mal die tendenziöse BaZ (in eine Richtung) mit der tendenziösen BZ (in die andere Richtung).
    Denn das Schreiben und wie es geschrieben wird, ist eine „Macht“, die Meinungen beeinflussen kann und Wichtiges entscheiden kann. Schon Gross- oder Kleinschreibung kann den Sinn drehen; wie es einem gerade gefällt:
    Die Angestellten ochsen in der Brüsseler EU-Zentrale.
    Die angestellten Ochsen in der Brüsseler EU-Zentrale.
    Tja – ein paar Kommas am falschen Ort können sogar über Leben oder Tod entscheiden:
    Der Sheriff sagt: „Wartet, nicht schiessen!“
    Der Sheriff sagt: „Wartet nicht, schiessen!“
    Nun noch ein paar Gedanken zum letzten Buch der Empfehlungen mit dem aktuellen Titel: „Wahlen abschaffen….“
    …..liegt ja voll bei den EU-Bürokraten im Trend: Aussagen wie: Das Volk ist zu dumm, richtig zu wählen – oder – Die Demokratie ist nicht der Königsweg sind ja inzwischen in Brüssel und dessen Leitpresse salonfähig geworden…
    Wobei: richtig wählen – wer bestimmt bloss, was richtig oder falsch zu sein hat? Für die EU-Funktionäre ist´s klar: Am liebsten sie selbst natürlich.
    Aber auch in der Schweiz soll der Urnengang begraben werden. So sehen es zumindest ein paar SP-Politiker aus Zürich. Nach ihrem schlechten Abschneiden und als ein paar Abstimmungen nicht in ihrem Sinn liefen, kam den „Volksvertretern“ über die Lippen, das Rentner oder Bürger so ab 75 Jahre nicht mehr abstimmen sollen dürfen. Sie verzerren bloss das Meinungsbild. Und überhaupt, sie betrifft ihre Wahl/Abstimmung ja dann eh nicht mehr. Eine Unverfrorenheit. Ich hoffe, die Bürger und Bürgerinnen werden sich bei der nächsten Wahl daran erinnern. Auch die 80-jährigen und älteren. Sie sind nämlich nicht so vertrottelt, um noch am politischen Leben teilnehmen zu dürfen, wie es die genannten SP-Politiker gerne hätten!

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