Fünf Fragen, die sich nach dem Digitaltag stellen

Publiziert am 24. November 2017 von Matthias Zehnder

Diese Woche war die Schweiz digital. Sagten zumindest die Medien und der halbe Bundesrat. Bei Lichte besehen war der erste Digitaltag eine seichte Veranstaltung, die zwischen unverschämter Werbung und rührender Naivität pendelte. Die grossen Probleme sind anderswo. Rund um die Digitalisierung stellen sich in der Schweiz fünf Fragen, die nicht so einfach zu beantworten sind. Doch die fünfte Frage gibt Anlass zu Hoffnung.

Am Dienstag war Digitaltag. Firmen und Institutionen wollten laut eigenem Bekunden zeigen, welche digitalen Chancen auf die Bevölkerung warten. Es war irgendwie rührend – und erschreckend naiv. Die grosse Halle des Zürcher Hauptbahnhofes wurde zum Hub des Tages erklärt. Bundespräsidentin Doris Leuthard und Bundesrat Johann Schneider-Ammann dampften mit dem Digitalzug (so wurde der Zug tatsächlich genannt) aus der Westschweiz nach Zürich. Da warben grosse Firmen unverhohlen für ihre Dienstleistungen und Produkte.

Wie schief der Digitaltag aufgegleist ist, zeigt sich schon auf der Website:[1] Da sagen 16 wichtige Schweizer CEOs in kleinen Filmchen, warum die Digitalisierung für sie selbst, ihr Unternehmen und die Schweiz wichtig sei. Zu Wort kommen ausschliesslich Männer (!) und ausschliessliche die Chefs der üblichen Grossunternehmen und Institutionen, also von Coop, Credit Suisse, Swisscom oder UBS und von ETH oder EPFL. Natürlich sind die Grossen wichtig – aber die Digitalisierung wird gerade von kleinen, innovativen Firmen angetrieben. In der digitalen Welt ist Grösse nicht mehr unbedingt ein Vorteil. Es kommt auf die Schnelligkeit an. Viele dieser grossen Schweizer Firmen sind in der digitalen Welt Getriebene. Dass all die grossen CEOs jetzt weichgespülte Werbespots für die Digitalisierung abgeben, ist unglaubwürdig und, eben: rührend.

Die mediale Begleitung hatte die Qualität eines Fussballkommentars von Sascha Ruefer: Im Einzelnen durchaus korrekt, im Ganzen aber etwas naiv. Für viele Schweizer ergibt das eine Art Betty-Bossi-Digitalisierung mit Gelinggarantie beim Onlinekauf. Irgendwie aufregend, irgendwie neu und am Schluss gibt’s Superpunkte.

Die Digitalisierung findet statt. Daran lässt sich nicht rütteln. Es hat keinen Sinn, den Kopf in den Sand zu stecken und der vermeintlich guten, alten Zeit hinterherzuweinen. Es ist aber ebenso falsch, die Zukunft zu bejubeln wie ein südamerikanischer Fussballkommentator ein Goal. Ich sehe im Zusammenhang mit der Digitalisierung fünf Fragen, denen wir uns in der Schweiz endlich ernsthaft stellen müssen.

1) Wie gehen wir als Gesellschaft mit Menschen um, die nicht in der Lage sind, an einer digitalen Welt teilzunehmen, insbesondere mit Menschen, die in der digitalen Welt keine Arbeit finden?

Die Digitalisierung hat bis jetzt nicht dazu geführt, dass die Zahl der Arbeitsplätze zurückgegangen ist, im Gegenteil: Die Digitalisierung hat laut einer Studie von Deloitte zu mehr Arbeitsplätzen geführt.[2] Doch die Arbeitsplätze haben sich verschoben. Von der Digitalisierung besonders betroffen sind berechenbare Routinetätigkeiten, weniger gefährdet sind Tätigkeiten, die Sozialkompetenz, Kreativität, Intuition oder Unternehmergeist erfordern. Anders gesagt: Anspruchslose Tätigkeiten fallen weg, dafür gibt es immer mehr anspruchsvolle Stellen. Das bestätigt eine Studie der Konjunkturforschungsstelle KOF an der ETH Zürich: Einem steigenden Arbeitslosenrisiko ausgesetzt sind besonders Arbeitnehmer mit tiefen formalen Bildungsqualifikationen, Büroangestellte, Maschinisten und Hilfskräfte. Besonders betroffen sind übrigens jüngere Männer in der Deutschschweiz.[3]

Ob wir die Digitalisierung applaudierend umarmen, wie das die Bundesräte am Digitaltag gemacht haben, oder ob wir sie ablehnen, spielt gar keine Rolle. Diese Entwicklungen sind im Gang und wir müssen als Gesellschaft Antworten auf die Frage finden, wie dafür sorgen, dass in der Schweiz auch künftig Menschen (vor allem Männer) mit schlechtem Bildungsniveau eine Arbeit finden.

2) Wie sorgen wir als Gesellschaft dafür, dass wir nicht einfach wie ein kleines Gummientchen im Kielwasser hinter den grossen, amerikanischen Digitalkonzernen herschwimmen?

Was haben Google, Facebook, Apple, Microsoft und IBM gemeinsam? Es sind alles amerikanische Firmen. Diese Firmen prägen die digitale Zukunft und die Gegenwart sowieso. Mit Samsung (Südkorea), Huawei (China) und Siemens (Deutschland) gibt es unter den grössten Technologiefirmen der Welt zwar Unternehmen, die nicht in den USA domiziliert sind, die Schweiz hat jedoch nicht viel zu husten. Wir haben (gerade in Basel) einige interessante Softwarefirmen, aber in der digitalen Welt zählt Grösse. Dies deshalb, weil in der digitalen Welt die Geographie praktisch eliminiert ist. Google und Facebook sind deshalb die ersten, echten Weltfirmen. Der Schweiz bleibt die Rolle des quitschgelben Gummientchens, das im Kielwasser hinterherschwimmt – und von den Wellen tüchtig durchgeschüttelt wird.

Lässt sich das ändern? Kaum. Die Schweiz ist dafür viel zu klein. Sie kann höchstens dafür sorgen, dass das Gummientchen auch in Zukunft mitkommt. Dafür braucht es einerseits (weiterhin) Top-Ausbildungsgänge für Informatik und anverwandte Wissenschaften, nicht nur an der ETH, sondern auch an den Universitäten und den Fachhochschulen. Und andererseits muss die Schweiz die Grenzen offen halten und es möglichst vielen Top-Leuten ermöglichen, in der Schweiz zu arbeiten. Das Entwicklungszentrum von Google oder die Informatik-Cluster der Pharmaindustrie sind ein Anfang. Das gelingt aber nur, wenn sich die Schweiz nicht mit weiteren Grenzschliessungsinitiativen selbst ins Bein schiesst.

3) Wie schützen wir uns in der digitalen Welt, und zwar als Land, als Akteur und als Konsument?

Die Schweiz will mal wieder Kampfflugzeuge beschaffen. Der Verteidigungsminister und seine Mannen im Militär beschreiben in glühenden Farben, was passiert, wenn die Schweiz keinen Luftschild mehr hat. Gleichzeitig wird die Schweiz, werden Schweizer Firmen und Schweizer Computer ständig angegriffen aus dem Internet. Jeden Tag erleidet die Schweiz viele Tausend Angriffe durch Hacker und automatisierte Schadsoftware. Die Eindringlinge wollen digital klauen, sie treiben Wirtschaftsspionage oder sperren schlicht die Rechner und verlangen Lösegeld. Programme greifen unsere Daten ab, verfolgen, was wir online machen, wo wir sind, wie wir uns bewegen. Und die Armee will Flugzeuge beschaffen. Cybersicherheit und Datenschutz gehören zuoberst auf die Agenda der Landesverteidigung. Und zwar jetzt.

4) Welche Konsequenzen hat die Digitalisierung für die Schule und die Bildung insgesamt?

Digitalisierung in der Schule, das hiess bis jetzt meistens Computer im Klassenzimmer. Mittlerweile gibt es zum Beispiel an Gymnasien Notebook-Klassen, in denen auf Papier weitgehend verzichtet wird. Die Schüler schreiben im Unterricht auf ihren Notebooks, die Lehrer stellen die Unterlagen digital zur Verfügung. Mit anderen Worten: Die Digitalisierung findet an der Schule meistens auf der Ebene des Konsumenten statt. Also da, wo sie ohnehin stattfindet. Denn die Schülerinnen und Schüler leben längst digital. Wir haben kürzlich zu Hause ganz offiziell den letzten Klassenalarm vom Familienboard entfernt – selbst die Lehrer kommunizieren heute nur noch per Whatsapp. Doch darum geht es nicht.

Es geht darum, dass wir es unseren Kindern und Jugendlichen ermöglichen, früh aus der reinen Konsumentenperspektive herauszutreten und selbst digital aktiv und kreativ zu werden. Die Schweizer Schulen setzen extrem stark auf Sprache, auf Schreiben und Reden. Die Folge: Inzwischen machen in der Schweiz viel mehr Mädchen die Matura als Buben.[4] Also: Weniger Gruppenarbeiten und Diskussionen, mehr Programmierarbeiten und Rechnungen. Statt sich darüber zu streiten, ob Englisch oder Französisch als dritte oder vierte Fremdsprache eingeführt werden soll, könnten die Schulen ja auch eine Programmiersprache anbieten. Wichtig ist, dass möglichst viele Jugendliche einen konkret kreativen Zugang zu den digitalen Welten erhalten und nicht bloss in der Rolle des Konsumenten verharren.

5) Und schliesslich: Welche Folgen hat die Digitalisierung für uns als Menschen?

Die letzte Frage: Was bleibt eigentlich uns Menschen, wenn die Rechner immer besser werden? Ich vermute, dass wir aus Angst vor den Rechnern (bildlich gesprochen) möglichst schnell rechnen wollen – dabei haben wir auf ihrem eigenen Feld ohnehin keine Chance gegen die Computer. Der Mensch sollte sich darauf besinnen, was er der Maschine voraus hat, und diese Bereiche stärken. Im Wesentlichen sind das: Gefühle, insbesondere Empathie, Phantasie, also die Kraft, neue Dinge zu denken und Moral, also einen inneren Kompass für das Gute und das Richtige. Maschinen können Gefühle allenfalls simulieren, können über spezifische Mechanismen allenfalls neue Lösungen finden. Eine eigene Moral haben sie nie, weil sie letztlich immer Befehlen folgen.

Gefühle, Phantasie und Moral also – es trifft sich gut, dass das genau jene Qualifikationen sind, von denen Fachleute sagen (siehe erste Frage), dass sie künftig vermehrt gesucht sein werden. Doch dafür gibt es keine Betty-Bossi-Gelinggarantie und es braucht keinen Hub im Hauptbahnhof. Es braucht Menschlichkeit – und Zeit.

Basel, 24. November 2017, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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Quellen:

[1] https://digitaltag.swiss/

[2] https://www.nzz.ch/wirtschaft/zukunftsszenarien-2050-wie-algorithmen-die-arbeitswelt-umwaelzen-ld.1299726

[3] Vgl. https://www.research-collection.ethz.ch/bitstream/handle/20.500.11850/119378/eth-49558-01.pdf

[4] https://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/So-stark-geht-die-Schere-bei-der-MaturaQuote-auf/story/30934180 – overlay_input

2 Kommentare zu "Fünf Fragen, die sich nach dem Digitaltag stellen"

  1. Kontrastprogramm: Heute war ich von Lehrpersonen einer Sekundarschule zu einem Bericht über Ergebnisse ihrer Projektwoche eingeladen. Dabei haben Schüler*innen ihre Ideen für Optimierungen ihres Bildungsbetriebs vorgestellt. Sie wünschen sich unter anderem Computer, damit sie den Umhang mit den neuen Technologien lernen können. Ein Vorschlag war, dass alle 50 Franken bezahlen, damit sie sich WLAN im Klassenzimmer leisten können. Dies in der gleichen Woche, wo der Bund und die regionalen KMU ihr Hohes Lied der Digitalisierung singen: Ich erlebe solches wie gleich eine doppelte Faust aufs Auge!

  2. Ich hoffe, es wird einst die Zeit wiederkommen, in denen die Kehrichtentsorgunsmenschen, die Strassenwärter, die Blumenkohl-Pflanzer, die Broccolizurechtstutzer, die Lauch-in-Verpackungsfolien-eintüt-Herrichter, die Kanalisationsarbeiter, die Ablaufexpressentstopfungsservicemenschen, die Zoomitarbeiter, die Pflegenden – welche G e w a l t s a r b e i t leisten – wieder mehr (auch in der Gesellschaft) gelten.
    Anders als oft die Über-IT-EDV-Menschen, welche im „Kastensystem Schweiz“ heute ganz vorne stehen und welche am Ende des Monats ihr grosses Geld
    e r h a l t e n, haben die Aufgezählten und noch viele andere „Analog-Arbeitende“
    am Ende des Monats ihr Geld v e r d i e n t !

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