Fünf Denkanstösse an Stelle eines Wochenkommentars

Publiziert am 28. Juli 2017 von Matthias Zehnder

Einen eigentlichen Wochenkommentar gibt es heute nicht – der Wochenkommentar macht Sommerpause. Dafür gibt es Denkanstösse in Form von aktuellen Lesetipps. Heute: fünf Sachbücher, die sich alle irgendwo im Spannungsfeld von Politik und Philosophie ansiedeln lassen. Auch das fünfte, das auf den ersten Blick von Religion und Evolution handelt – das sind heute höchst politische Themen. Wenn Sie trotzdem einen Wochenkommentar lesen möchten, empfehle ich Ihnen diese Kommentare, die sich alle mehr oder weniger direkt mit dem 1. August beschäftigen:

An Stelle einer 1. August-Ansprache: Heimat – eine Utopie

Potz Heimatland

Schafft die Nationalfeiertage ab!

Kleine Schweiz – was nun?

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Aber jetzt zu den fünf Lektüretipps.

Das erste Buch – der erste Denkanstoss: Ist Demokratie eigentlich zu verantworten? Wäre es nicht klüger, klügere Menschen als die uninteressierte und ungebildete Masse über so wichtiges entscheiden zu lassen wie das Schicksal des Landes?

Gegen Demokratie

Für den amerikanischen Philosophen Jason Brennan ist es absolut unverantwortlich, die Macht in die unfähigen Hände des Volkes zu legen, wie das in einer Demokratie geschieht. Laut Brennan gibt es in einer Demokratie drei Typen von Bürgern: Die uninteressierten und deshalb meinungslosen Hobbits, die meinungsstarken, aber nicht ausreichend informierten Hooligans und eine kleine Gruppe von rational denkenden Vulkaniern. Das Problem jeder Demokratie: Hobbits und Hooligans machen die erdrückende Mehrheit aus. Wäre es nicht vernünftig, Hobbits und Hooligans von der Macht auszuschliessen und das Schicksal des Landes in die Hände der rationalen Vulkanier zu legen? Jason Brennan fordert also eine Epistokratie – eine Herrschaft der Wissenden. Denn wenn man die Demokratie nach ihren Ergebnissen beurteile, falle das Urteil keineswegs berauschend aus: Lautstarke Meinungsmacher zwingen den Bürgern ihre fatalen Entscheidungen auf. Die Mehrheit der Wähler ist uninteressiert oder uninformiert und hat keine Ahnung von grundlegenden ökonomischen und politischen Zusammenhängen. Brennan fordert deshalb, das Stimm- und Wahlrecht nicht als Menschenrecht anzusehen, sondern es als Vorrecht für informierte Menschen zu begreifen. Ein provokantes Buch, dessen Lektüre zumindest dazu führen wird, dass Sie die Demokratie danach mit anderen Augen betrachten.

Jason Brennan: Gegen Demokratie. Warum wir die Politik nicht den Unvernünftigen überlassen dürfen. Ullstein, 464 Seiten, 32.50 Franken; ISBN 978-3-550-08156-9

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Das zweite Buch – der zweite Denkanstoss: Trump ist und macht sich unmöglich. Viele seiner Wähler aber sind einen zweiten Blick wert. Oder?

Hillbilly-Elegie

Dies ist der packende Lebensbericht von J. D. Vance, einem einundreissig Jahre alten Mann, der an der Yale University studiert hat und heute eine gute Stelle bekleidet, glücklich verheiratet ist und zwei quirlige Hunde besitzt. Ich habe dieses Buch also nicht geschrieben, weil ich etwas Ausserordentliches erreicht habe. Ich habe es geschrieben, weil ich etwas ziemlich Gewöhnliches erreicht habe – was den meisten Kindern, die so aufwachsen wie ich, eigentlich nie passiert. Ich bin nämlich in Armut aufgewachsen. Das Buch ist die erschütternde Geschichte des amerikanischen Rust Belt. J. D. Vance ist in Ohio aufgewachsen, in einer Stadt, die einmal ein Stahlstandort war und nach vielen Stellenstreichungen nur noch von Hoffnungslosigkeit geprägt ist. Es ist die Region, wo das Schicksal der weissen Arbeiterschicht am finstersten ist. Dieses Buch geht der Frage nach, was eigentlich im Leben wirklicher Menschen passiert, wenn es mit der Industrie bergab geht. Es geht darum, dass diese Menschen auf die schlimmen Bedingungen denkbar schlecht reagieren. Es geht um eine Kultur, die den sozialen Verfall in zunehmendem Maße befördert, statt ihm entgegenzuwirken, schreibt J. D. Vance. Das Buch ist keine wissenschaftliche Studie, es ist eher eine Familiengeschichte. Es ist die Geschichte der Hillbillys. J. D. Vance ist kein neutraler Beobachter. Er erzählt von seiner Heimat, seinen Freunden, seiner Familie. Er liebt die Menschen, von denen er erzählt, deshalb verrät er sie nicht. Und deshalb ist dieses Buch auch so packend. Es erklärt jenes Amerika, das wir sonst nur überfliegen, das Flyover-Country – es erklärt das Land, das Donald Trump gewählt hat.

  1. D. Vance: Hillbilly-Elegie. Die Geschichte meiner Familie und einer Gesellschaft in der Krise. Ullstein, 304 Seiten, 29.90 Franken; ISBN 978-3-550-05008-4

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Das dritte Buch – der dritte Denkanstoss: Was ist eigentlich ein Zufall? Ist es die Abwesenheit einer Ursache – oder vielmehr die Abwesenheit einer Erklärung? Und warum können wir so schlecht mit Zufällen umgehen?

Der Zufall, das Universum und du

Menschen können in Sekundenbruchteilen Gesichter erkennen und ihr Lieblingsgericht erschnuppern – mit Wahrscheinlichkeiten und Statistiken haben sie aber ihre liebe Mühe. Glück und Zufall bereiten uns Bauchweh. Wir neigen dazu, zufällige Ereignisse mit Geschichten zu erklären und im Zufall einen Sinn zu suchen. Dabei, schreibt Florian Aigner, ist die Wahrscheinlichkeit dafür, dass immer nur das Wahrscheinliche passiert, so gering, dass ein Ausbleiben des Unwahrscheinlichen selbst am allerunwahrscheinlichsten wäre. Das Paradoxe dabei: Die Welt richtet sich nach Naturgesetzen. Auch die Lottokugeln, die in die Becherchen purzeln, halten sich an die Gesetze der Physik. Obwohl diese Gesetze alle berechenbar sind, entziehen sich die Lottozahlen jeder Berechnung. In diesem Buch nimmt uns Florian Eigner mit auf eine Reise durch das Universum des Zufalls. Dabei ist es gar nicht so einfach zu erklären, was Zufall eigentlich ist. Abwesenheit einer Ursache? Oder bloss unser Unvermögen, der  Ursache auf die Spur zu kommen? Florian Eigner klärt und erklärt – und gibt dem Leser dabei einiges zu denken. Oder ist das Neutronenfeuer im Kopf doch nur Zufall?

Florian Aigner: Der Zufall, das Universum und du. Die Wissenschaft des Glücks. Christian Brandstätter Verlag, 284 Seiten, 29.90 Franken; ISBN 978-3-7106-0074-6

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Das vierte Sachbuch – der vierte Denkanstoss: Was passierte in der Geschichte der Schweiz abseits der Geschichtsbücher? Und was sagt uns das?

Die Schweiz als Ereignis

Am 1. September 1906 wird die Schweiz Schauplatz eines bizarren Terrorakts: Die russische Revolutionärin Tatjana Leontjewa will einen Handlanger des Zaren ermorden. Als der zweite Gang der Table d’Hôte im Hotel Jungfrau in Interlaken serviert wird, erhebt sich die Dame plötzlich, zückt eine Browning und feuert dreimal auf einen älteren Herrn, der am Nebentisch gerade eine Zeitung aufgeschlagen hat. Schwer getroffen und blutüberströmt sinkt er von seinem Stuhl. Auftrag erledigt? Nicht ganz: Leontjewa hat sich in der Person geirrt und einen Unbeteiligten erschossen. Am 20. April 1939 feiert der deutsche Diktator Adolf Hitler seinen 50. Geburtstag. Deutschland richtet seinem Führer eine riesige Feier. Staatsoberhäupter aus der ganzen Welt marschieren auf und gratulieren Hitler. Bloss der Schweizer Bundesrat fehlt. Minister Hans Frölicher macht sich deshalb Sorgen und kabelt nach Bern, der Bundesrat müsse zumindest Glückwünsche senden, dass die Schweiz abseitsstehe, falle auf. Der Bundesrat jedoch blieb standhaft und verweigerte den Knicks vor dem deutschen Führer. Diese zwei Geschichten haben keine Geschichte geschrieben. Dennoch zeichnen sie ein Bild der Schweiz. 50 solcher Anekdoten und Skandale hat Marc Tribelhorn zusammengetragen. Die Geschichten sind nicht nur höchst unterhaltsam zu lesen, sie verraten auch viel über Land und Leute in der Schweiz.

Marc Tribelhorn: Die Schweiz als Ereignis. NZZ Libro, 200 Seiten, 38 Franken; ISBN: 978-3-03810-261-8

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Das fünfte Sachbuch schliesslich – der fünfte Denkanstoss: Was, wenn die Bibel und die Naturwissenschaften in Bezug auf die Geschichte der Menschheit beide recht hätten?

Das Tagebuch der Menschheit

Die türkische Regierung hat dieser Tage die Evolution aus dem Lehrplan der Schulen verbannt. Der Grund: Die Lehre von Charles Darwin vertrage sich nicht mit dem muslimischen Glauben. Der Evolutionsbiologe Carel van Schaik und der Historiker Kai Michel gehen den gegenteiligen Weg: Sie versöhnen die Evolutionslehre mit der Bibel. Ihr Ausgangspunkt ist einfach: Die Menschen haben über Tausend Jahre lang an der Bibel geschrieben. Es ist deshalb anzunehmen, dass die (evolutionäre) Entwicklung der Menschheit ihre Spuren in der Bibel hinterlassen hat. Die beiden Wissenschaftler lesen die Bibel nicht als Wort Gottes, sondern als «Tagebuch der Menschheit», das verblüffende Einblicke in die kulturelle Evolution des Homo sapiens bietet. Und plötzlich beginnen die alten Worte neue Geschichten zu erzählen. Die Vertreibung aus dem Paradies zum Beispiel wird zur Erzählung darüber, wie die Menschen sich vom freien Jäger und Sammler zum sesshaften Bauern entwickelten – mit allen Vor- und Nachteilen, die sich daraus ergeben. Die Entwicklung des Ackerbaus ist nicht einfach ein Fortschritt, sondern auch verbunden mit Besitz und Verteidigung, Ungleichheit und Herrschaft, Patriarchat und Unterdrückung. Die Menschen mussten sich mühsam an die neuen Verhältnisse anpassen. Davon erzählt die Bibel in eindrücklicher Art und Weise. Sie erzählt, wie die Menschen versuchten, aus Katastrophen Lehren zu ziehen, in Unglück und Leid einen Sinn zu sehen. Die beiden Wissenschaftler spannen dabei den Bogen vom Garten Eden über den Exodus aus Ägypten bis nach Golgatha. Sie beweisen damit, dass die Bibel uns auch dann etwas angeht und uns etwas zu sagen hat, wenn wir nicht an sie glauben – und sie zeigen, dass Evolution und Religion kein Gegensatz sind, sondern das eine ein Teil des anderen. Man wünscht sich, man könnte dieses Buch Erdogan auf den Tisch legen und sagen: Lies!

Carel van Schaik, Kai Michel: Das Tagebuch der Menschheit. Was die Bibel über unsere Evolution verrät. Rowohlt, 576 Seiten, 32.50 Franken; ISBN 978-3-498-06216-3

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So viel für heute. Ich wünsche Ihnen eine gute Sommerzeit.

Berlin, 28. Juli 2017, Matthias Zehnder; mz@matthiaszehnder.ch

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Ein Kommentar zu "Fünf Denkanstösse an Stelle eines Wochenkommentars"

  1. „Jason Brennan: Gegen Demokratie. Warum wir die Politik nicht den Unvernünftigen überlassen dürfen.“ hat mich zu folgendem Rückschluss provoziert: Was ihr Staat wollen soll, legen in einer Demokratie die Stimm- und Wahlbürger*innen fest. Sie tun das mit ihrem besten Wissen und Gewissen. Und die Gewählten setzen die Entscheide bestmöglich um. Demokratie braucht von allen Beteiligten ein hohes Engagement und viel Geduld. Sie kann Rosen, aber auch Neurosen bringen. Vor allem dann, wenn im Mehrheitssystem der Demokratie recht haben und recht bekommen weit auseinander liegen. Die praktizierte Form der direkten Demokratie, die sich für die Schweiz bei einer gemächlicheren Entwicklung sehr bewährt hat, scheint dem Tempo der globalisierten Welt nicht mehr gewachsen. So surfen wir halt nach dem Motto „Rette sich wer kann!“ von Problemwelle zu Problemwelle, die andere aufwerfen.

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