Fünf Biografien

Publiziert am 8. Juli 2016 von Matthias Zehnder

Einen eigentlichen Wochenkommentar gibt es heute nicht – der Wochenkommentar macht eine kleine Sommerpause. Dafür gibt es aktuelle Lesetipps. Heute: fünf Biografien. Mindestens eine davon wird Sie überraschen.

Wenn Sie trotzdem einen Wochenkommentar lesen möchten, empfehle ich Ihnen diese drei Kommentare der letzten Wochen, die leider immer noch aktuell sind:

Warum Populisten die Demokratie zu Grabe tragen

Es geht nicht um Werte, sondern um Perspektiven

So vergiften Politiker unsere Sprache – und unsere Herzen

Vergessen Sie nicht, bei der Lektüre ab und zu auf die Werbung zu klicken. Jeder Klick bringt ein paar Rappen. Das ist nicht viel, aber immerhin.

Die Bücher sind übrigens, wie immer, bei der Buchhandlung Bider&Tanner in Basel vorrätig. Unter jedem Lesetipp finden Sie den Link zum Online-Bestellbereich von Bider&Tanner, Sie können aber auch einfach in der Buchhandlung nach den Büchern fragen.

Aber jetzt zu den Lektüretipps.

Die erste Biografie handelt von einem Menschen, mit dessen Geschichten wir alle aufgewachsen sind, ohne eine Ahnung davon zu haben wer der Mann war, der sie erfunden hat:

Michael Ende

sommerbio_endeDen Autor von Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer, von Momo und von Die unendliche Geschichte haben wir als freundlichen Mann mit weissem Rauschebart im Gedächtnis. Ihn als jungen, bartlosen Mann mit schwarzen Haaren zu sehen, irritiert deshalb. Erst recht, wenn von den Kämpfen und Krämpfen die Rede ist, die dieser junge Mann durchstand. Michael Ende, 1929 in Garmisch geboren, ist der Sohn des surrealistischen Malers Edgar Ende (1901–1965). Gegen das surrealistische Erbe des Vaters hat er sich lange gewehrt – bis er es in Geschichten umsetzen konnte. Dabei wollte er keineswegs Kinderbücher schreiben. Eigentlich wollte Ende Dramatiker werden. Deshalb besuchte er die Schauspielschule Otto Falckenberg in München. Seine dramatischen Versuche blieben jedoch erfolglos. Auf Anklang stiessen lediglich die Couplets und Lieder, die er für Kabaretts schrieb. Ende der 50er Jahre schrieb er die Geschichte vom Negerjungen Jim und dem Lokomotivführer Lukas. Am Anfang der Geschichte stand ein Bild: eine Kartonschachtel mit Löchern, die vom Postschiff auf der kleinen Insel Lummerland abgegeben wird. Damit ähnelt das Vorgehen von Ende dem seines Vaters, der sich oft in einen dunklen Raum zurückzog und wartete, bis ihm ein Bild auftauchte, das er dann rasch skizzierte. Aus heutiger Sicht überrascht, wie kontrovers die Bücher von Michael Ende aufgenommen wurden. Ende wurde von Kritikern und Kollegen Eskapismus vorgeworfen: Flucht vor der Realität. Die Kritiker verstanden nicht, dass für Ende die Phantasie ein Teil der Realität ist – und das Mittel, um mit ihr fertig zu werden.

Birgit Dankert: Michael Ende. Gefangen in Phantásien. Biographie. Lambert Schneider, 312 Seiten, ISBN 978-3-650-40122-9

Das Buch ist hier erhältlich.

Die zweite Biografie handelt von einem Entdecker, der zum Revolutionär wurde:

George Forster

sommerbio_forsterAls die Welt noch gross war, weit und unerforscht, wurde ihr Gewicht in Erfahrungen gewogen. So lautet der erste Satz dieses Buches über Georg Forster (1754–1794), Schriftsteller, Naturforscher, Entdecker, Zeichner, Übersetzer – und Revolutionär. Und das Buch ist so schön wie dieser erste Satz. Forster war bei der zweiten Weltumsegelung von James Cook an Bord und hat dabei die Natur gesehen, geschmeckt, gerochen, ertastet, gehört und sie gezeichnet. Und dann hat er über sie nachgedacht. Mit Cook bereiste Forster als erster Europäer die Antarktis, sah die Südsee, bereiste Neuseeland, Tahiti, die Osterinsen und Feuerland. Gleichzeitig bahnte sich in Europa ein politischer Umsturz an: die grosse Revolution von 1789. Forster war auch bei diesem Umsturz dabei: Er rief 1793 die Mainzer Republik aus, die erste Republik auf deutschem Boden. Jürgen Goldstein portraitiert den Mann, der Naturforschung und Politik wie kein Zweiter vereinte und einer ganz neuen Idee anhing, der Idee, dass es so etwas wie eine natürliche Revolution gebe. Ein spannendes Buch.

Jürgen Goldstein: Georg Forster. Zwischen Freiheit und Naturgewalt. Matthes & Seitz Berlin, 301 Seiten, ISBN  978-3-95757-090-1

Das Buch ist hier erhältlich.

Die dritte Biografie handelt von einer Revolutionärin, einer Kämpferin für die Frauenrechte, die auch vor Bomben nicht zurückschreckte:

Emmeline Pankhurst

sommerbio_suffragetteDieser Tage hat Basel den 50. Geburtstag des Frauenstimmrechts gefeiert. Basel war damit der Schweiz voraus – zur Schande der Männer dauerte es noch einmal über 20 Jahre, bis die Frauen in der ganzen Schweiz das Stimmrecht erhielten. Der Kampf der Frauen um politische Rechte ist indes viel älter. Dieses Buch erzählt die Geschichte von Emmeline Pankhurst (1858–1928), die sich so gründlich über die Verhältnisse in ihrem Land empörte, dass sie zur bekanntesten und radikalsten der Suffragetten wurde. So nannten sich die Frauen, die vor dem ersten Weltkrieg in England für ihr Wahlrecht kämpften. 1903 gründete Pankhurst die radikal-bürgerliche Woman’s Social and Political Union (WSPU) und verwandelte die bisher friedliche, aber erfolglose Frauenbewegung in einen zum Teil gewalttätigen Aufstand der Frauen. Pankhurst und ihre Mitstreiterinnen organisierten Blockaden und ketteten sich an Zäune und Gebäude. Die Obrigkeit reagierte mit Gewalt: Demonstrantinnen werden verprügelt und verhaftet. Die Verhafteten traten in den Hungerstreik, die Anhängerinnen von Pankhurst warfen Bomben und legten Brände. Kurz: Der Kampf der Frauen eskalierte. Die Suffragetten nahmen übrigens zum Entsetzen des Establishments noch ein Recht in Anspruch, das bis dahin nur die Männer hatten: Sie rauchten in der Öffentlichkeit. Der erste Weltkrieg unterbrach die Kämpfe und danach erhielten Frauen ab 30 Jahren, die im Besitz von Grundeigentum waren, das Wahlrecht. Und heute wählen die Tories zwischen zwei Frauen, wer nächste Premierministerin des Landes werden soll. Eine aufwühlende Geschichte.

Emmeline Pankhurst: Suffragette. Die Geschichte meines Lebens. Steidl, 344 Seiten, ISBN 978-3-95829-050-1

Das Buch ist hier erhältlich.

Die vierte Biografie handelt von einem Mann meines Herzens, einem meiner Hausheiligen, einem Schreiber, den ich Vorbild nicht zu nennen wage, den zu lesen sich heute (leider) wieder lohnt:

Kurt Tucholsky

sommerbio_tucholskyDas Erstarken der rechten Parteien, der aufflammende Nationalismus, der Kampf der Mittelschicht um Besitz – in einer ganzen Reihe von Aspekten ähnelt unsere Zeit sehr der Zeit der Weimarer Republik. Mit keinem Namen ist diese Zeit zwischen den beiden Weltkriegen publizistisch so verbunden wie mit dem Namen Kurt Tucholsky. Hellsichtig hat er früh vor den Nationalsozialisten gewarnt – und sich früh deprimiert von seinem Deutschland abgewendet und nach Schweden zurückgezogen. Dieses Buch erzählt das Leben des grossen Journalisten und Publizisten. Zitate aus Artikeln und Essays des Mannes, der unter vielen verschiedenen Namen schrieb, machen diese Biografie zu einer wunderbaren Einführung in die Gedankenwelt von Tucho. Viele seiner Sätze wirken, als seien sie auf heute bezogen. Etwa: Mir fällt auf, wie heute beinah jeder Erfolg den hysterischen Charakter einer geistigen Epidemie an sich trägt, schreibt Tucholsky Ende Mai 1935 resigniert an seine Schweizer Freundin Nuuna, Automarken; Mode; Bücher; Einstein; Faschismus –alles hat diesen atemlosen, jappenden, anilinfarbigen Zug. Ein Buch, das man mit dem Bleistift in der Hand lesen muss, um immer wieder begeistert Sätze und Gedanken hervorzuheben – begeisternd und erschreckt über deren erneute Aktualität.

Rolf Hosfeld: Tucholsky. Ein deutsches Leben. Biographie. Siedler, 320 Seiten, ISBN: 978-3-88680-974-5

Das Buch ist hier erhältlich.

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Und jetzt, Überraschung, empfehle ich Ihnen die Biografie eines Reaktionärs. Denn eigentlich ist er ein Revolutionär:

Metternich

sommerbio_metternichClemens Fürst von Metternich (1773–1859) gilt als Inbegriff des konservativen, ja reaktionären Politikers. Der Diplomat und Staatsmann im Dienste Österreichs spielte eine führende Rolle auf dem Wiener Kongress, als es galt, Europa nach dem Sturz Napoleons neu zu ordnen. In der Schule haben wir gelernt, dass er als Antirevolutionär die liberalen Bewegungen bekämpfte und das vornapoleonische Europa wiederherstellte. Wir haben also gelernt, dass Metternich ein Mann von vorgestern war. Wolfram Siemann lehrt uns mit seiner Biografie eines Besseren: Er zeigt, dass Metternich so moderne Ideen hatte, dass er von seinen Zeitgenossen nicht verstanden wurde. Metternich hatte nämlich mit einem Problem zu kämpfen, mit dem wir es heute wieder zu tun haben: mit überschäumendem Nationalismus. Er erkannte die Gefährlichkeit des Nationalismus und wollte vermeiden, dass in Europa Territorien nach nationalistischen Kriterien, also geordnet nach Sprachen und Ethnien, organisiert werden. Wenn heute Politiker und Historiker Nationen als haltlose Konstruktionen und reine Fiktion bezeichnen, können sie sich eigentlich auf Metternich berufen. Dessen Ziel war es, in Europa eine stabile Ordnung wiederherzustellen. Wolfram Siemann zeichnet kenntnisreich und mit vielen Belegen nach, wie der österreichische Diplomat dabei vorging. Sein Buch beschreibt, wie das moderne Europa am Reissbrett entstanden ist – auch die Schweiz. Wer hätte das gedacht, dass Metternich ein so modern denkender Politiker war. Kein Zweifel: Dieses Buch ist ebenso dick wie lohnend zu lesen.

Wolfram Siemann: Metternich. Stratege und Visionär. Eine Biografie. C.H. Beck, 983 Seiten, ISBN 978-3-406-68386-2

Das Buch ist hier erhältlich.

Fünf Gedankenanstösse

4 Kommentare zu "Fünf Biografien"

  1. Biografien von fünf Menschen, die unter anderem substanziell Neues und/oder unkonventionell Altes in die Welt bringen wollten. Nach über 50 Jahren persönlicher Erfahrung damit heisst für mich die Regel dafür nach wie vor: 20 – 60 – 20. Das heisst, was immer du an Neuem und/oder Unkonventionellem in die Diskussion bringst: 20 Prozent werden es ablehnen – 60 Prozent ist es Wurst – 20 Prozent interessieren sich dafür. In einer Demokratie hat es Neues oder Unkonventionelles schwer. Insbesondere dann, wenn die 60 Prozent wie derzeit populistisch aufgeladen sind.

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