Freundlichkeit
Nach mancher Reise mag es geradezu eine Erleichterung sein, wieder die weissen Schweizer Strassenpfosten zu sehen oder das «Grüezi» in der Ankunftshalle des Flughafens Zürich. Nach Norwegen ist das für mich anders. Ich vermisse die Weite der Landschaft, die frische, saubere Luft, die entsteht, wenn Wald auf Meer trifft. Basel ist stickig im Sommer, stickig und stinkig: Man merkt, dass hierzulande nur eine kleine Minderheit ein Elektroauto fährt. Vor allem aber vermisse ich die Freundlichkeit der Menschen.
Am Morgen in der Bakeri, am Schalter der Mietwagenfirma, in der Shoppingbutikk, im Supermarkedet, auf der Strasse – die Norwegerinnen und Norweger, die ich getroffen habe, waren alle freundlich. Nicht übertrieben, nicht süsslich und auch nicht diese aufgesetzte, amerikanische Happyness. Ich würde es eine gelassene Freundlichkeit nennen. Ich war selbst erstaunt, wie wohltuend diese Art der Freundlichkeit ist: Sie macht ohne viel Zutun glücklich.
Im World Happiness Report belegt Norwegen seit vielen Jahren Spitzenplätze, meist etwas vor der Schweiz. Es könnte ja sein, dass die Norweger so freundlich sind, weil sie so glücklich sind. Ich glaube eher, es ist umgekehrt: Sie sind glücklich, weil sie so freundlich sind.
Denn die meisten anderen Faktoren, die zu Glück und Zufriedenheit beitragen, sind in Norwegen und in der Schweiz sehr ähnlich. Beide Länder sind sehr wohlhabend. Das Pro-Kopf-Einkommen ist in Norwegen mit $ 95’510 Dollar etwas höher als das in der Schweiz ($ 89’450). Der Gini-Koeffizient ist in Norwegen etwas tiefer als in der Schweiz, die Einkommensunterschiede im Land sind also etwas kleiner.
Norwegen und die Schweiz sind sehr sichere Länder mit einer niedrigen Kriminalitätsrate. Die Lebensqualität gilt in beiden Ländern als sehr hoch. Mit dem kleinen Unterschied, dass die Schweiz in Studien bezüglich Freundlichkeit immer wieder schlecht abschneidet. In Rankings unter Expats, die oft viele Länder kennen, schneiden nur Deutschland und Österreich ähnlich schlecht ab wie die Schweiz.
Fragt sich, warum das so ist. Die Datenlage ist eher dürftig. Expat-Studien nennen als Grund für die empfundene Unfreundlichkeit eine latente Fremdenfeindlichkeit der Schweizer. Zudem seien die Schweizer sehr konservativ und traditionsbewusst und legten grossen Wert auf ihre Privatsphäre. Das empfinden viele Expats als kühl. Schweizer scheinen für neue Menschen und Kulturen nicht so offen zu sein wie Menschen in anderen Ländern.
Das mag sein. Aber: Ich bin kein Expat und empfinde viele Schweizer trotzdem als unfreundlich. Nur an einer latenten Fremdenallergie kann es also nicht liegen. Nach fast 35 Jahren in Basel würde ich mich nicht mehr direkt als Fremden in Basel bezeichnen, auch wenn ich in Winterthur aufgewachsen bin. Warum also erlebe ich die Schweizerinnen und Schweizer oft als unfreundlich?
Oder umgekehrt: Warum sind die Norwegerinnen und Norweger so freundlich? Ein Schlüssel könnte die Gelassenheit sein. Norweger lassen sich (so habe ich es zumindest erlebt) kaum aus der Ruhe bringen. Auch an der Kasse im Supermarkedet oder in der Bensinstasjonsbutikk an der Autobahn strahlt das Personal eine freundliche Gelassenheit aus. Oder eine gelassene Freundlichkeit.
In der Schweiz hingegen erlebe ich viele Menschen als gestresst. Im Supermarkt, in der Espresso-Bar, an der Tankstelle – die Angestellten wirken alle, als seien sie massiv unter Druck. Und wenn sie freundlich sind, dann scheint das oft eher Mittel zum Zweck zu sein. Motto: Ein Lächeln bloss als Öl im Geschäftsgetriebe.
Das aber ist keine Freundlichkeit. Nur ein zweckfreies Lächeln ist freundlich. Freundlichkeit ist Wohlwollen ohne Agenda. Vielleicht setzt das diese Gelassenheit voraus, die ich in Norwegen erlebt habe und in der Schweiz vermisse.
Wie kommen wir zu mehr Gelassenheit und Freundlichkeit? Was hindert uns daran, anderen Menschen absichtslos freundlich zu begegnen? Ich glaube, ein Punkt ist, dass wir in der Schweiz Angst haben. Angst vor dem Fremden und dem Anderen, das wir schnell als Angriff empfinden, aber auch Angst voreinander. Weil wir uns unfreundlich begegnen, wird diese Angst noch geschürt. So entsteht eine Spirale aus Unfreundlichkeit und Angst.
Wie finden wir aus dieser Spirale hinaus? Sie ahnen es: Indem wir freundlicher sind.
Die Freundlichkeit der Norwegerinnen und Norweger hat mich beeindruckt. Ich nehme mir deshalb vor, freundlicher zu sein. Freundlicher und gelassener. Denn Freundlichkeit macht glücklich.
Mit diesen Zeilen wieder aus Basel grüsse ich Sie herzlich, einen eigentlichen Wochenkommentar gibt es nächste Woche wieder.
Basel, 21. Juli 2023, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch
Bild: Østervågkaien in Stavanger, Norwegen, am 13. Juli 2023 (mz)
2 Kommentare zu "Freundlichkeit"
Für Freundlichkeit muss und will ich nicht nach Norwegen reisen. So waren wir beispielsweise heute Vormittag im Wegmattenpark 35 Menschen, die sich beim «Allschwil bewegt soft» freundlich begegnet sind. Wie seit bald 10 Jahren: Immer wieder im Sommer (Link: http://www.allschwil-bewegt.ch). Und dies auch dann, wenn es uns der damalige Gemeindepräsident und heutige Regierungsrat Dr. Anton Lauber im 2012 nicht erlaubt hat. Merke: Freundlichkeit ist nicht nur eine Frage der puren Menschlichkeit, sondern auch systembedingt. – Diese Notiz widme ich ganz speziell allen friedensfreudigen Menschen, die in der Welt, wie sie ist, gemeinschaftsbildend mit Herz, Kopf, Hand und Fuss für eine heile Welt unterwegs sind: In und mit Liebe kann es gut werden!
Ich werfe noch in die Runde, füge hinzu dass man selbst eben auch anders ist in der Ferienzeit. Und so kommt es zurück.
Ich glaube nicht, das man in der Ferienzeit gestresst um Ladenschluss, während schon die Rollläden runtergefahren werden, noch einkaufen gehen muss. Logisch, murrt einem das Verkaufspersonal an.
Im Baucenter am Samstag noch schnell das total ungewaschene Velo vom der Tochter zur Express-Reparatur für den Sonntagsausflug geben… Und dann der barsche Velomechaniker erwidert: „So nehm ich das nicht an, ich bin doch kein Ferkel“….
Und ich glaube auch nicht, das man in den Ferien Administratives wie Autoschilder umtauschen muss, wenn man in einen anderen Kanton zieht. Und der Beamte hinter Glas zischt: „Im UG hat es Lavabos, so russig können sie nämlich sonst ihre Bleche behalten“….
All das fällt weg.
Die Leichtigkeit des Seins – Ferien….
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Noch ganz, ganz, ganz nebenbei: Er kann es nicht lassen, die Schweiz so hinzustellen: „…..Ich glaube, ein Punkt ist, dass wir in der Schweiz Angst haben. Angst vor dem Fremden und dem Anderen…..“
Die Schweiz ist im Ranking eines der weltoffensten und internationalsten Ländern mit einer „Multikultur“ die seinesgleichen sucht… Und mit 180’000 Personen Zuwanderung (2022) sicher das Gegenteil von verschlossen. Wobei diese Schwemm-Zahlen einem natürlich schon ängstigen können und nachts mit der Frage: „Wie soll das alles Enden“ um den Schlaf bringen; dafür muss man sich nicht entschuldigen.
Doch die Gedanken im CH-Dichtegewusel bleiben frei – Erinnerungen und Sehnsüchte dürfen sein: „Ich vermisse die Weite der Landschaft…..“, die Leere, die Natur…. Wunderbare Einigkeit, denn mir geht es gleich….