Hätte Wilhelm Tell der Lehrerin die Hand gegeben?

Publiziert am 9. Dezember 2016 von Matthias Zehnder

Stellen Sie sich vor, Sie müssten Hals über Kopf Ihr Haus verlassen. Sie haben gerade noch Zeit, eine Tasche zu packen. Was nehmen Sie mit? Und wenn Sie sich das überlegt haben – was bedeutet das für Ihr Leben, so lange Sie nicht flüchten müssen? Und was bedeutet es für unseren Umgang mit den Menschen, die in die Schweiz geflüchtet sind? Der Kanton Basel-Landschaft hat diese Woche darauf geantwortet: Er verlangt künftig den korrekten Gruss. Per Gesetz. Und das im Land, das sich auf die Geschichte von Wilhelm Tell beruft und seine Weigerung, korrekt zu grüssen.

Gestern habe ich geträumt, ich müsse flüchten. Im Traum hatte es dunkle Wolken am Horizont, darüber erhob sich eine schwarze Rauchsäule. Ein ständiges Donnern war zu hören, übertönt von einzelnen, hellen Krachern. Es roch nach Staub und nach Feuer. Dunkle Wolken und helles Krachen kamen näher. Im Traum wusste ich, dass ich rasch das Allerwichtigste in eine kleine Tasche packen und mich zu einem Sammelplatz begeben musste, wo ein Bus wartete. Meine Frau und die Kinder waren schon irgendwo in Sicherheit. Ich war allein im Haus. Im Traum war deshalb mein grösstes Problem: Was nehme ich mit? Was ist dieses Allerwichtigste?

Ich packte planlos ein paar Kleider in eine Tasche, eine Zahnbürste, Rasierzeug und ein Deo. Im Traum schraubte ich das Deo sogar auf, um mich zu vergewissern, dass da noch genug Duft für eine Flucht vorhanden ist. Die Tasche war jetzt halb gefüllt. Draussen krachte es zweimal laut und erschreckend nah. Aus einem Riss in der Zimmerdecke rieselte Staub auf den Boden. Was sollte ich noch einpacken? Fotos? Bücher? Dokumente! Genau! Ich kramte in der Schublade und stopfte das Maturzeugnis und die Urkunden von Lizentiat und Dissertation zu Zahnbürste und Deo in die Tasche. Was noch?

Computer? Zu gross. Laptop? Weiss nicht. Handy! Unbedingt! Da ist mein ganzes Leben drauf. Rein damit. Und ein Ladekabel dazu. Ob es da Strom hat, wo wir hinfahren? Und Netzabdeckung? Egal. Was noch? Rasch, es donnert wieder! Wie lässt sich so ein Leben in eine Tasche packen?

34’000 neue Flüchtlinge – pro Tag

Statistisch gesehen kommt es laut der Welt-Flüchtlingsorganisation UNHCR jeden Tag 34’000 Mal zu einer Flucht: rund 34’000 Menschen werden jeden Tag gezwungen, ihr Heim zu verlassen. Insgesamt sind derzeit 65,3 Millionen Menschen auf der Flucht – so viele waren es noch nie. 21,3 Millionen davon sind Flüchtlinge im engeren Sinn. Mehr als die Hälfte davon ist noch nicht 18 Jahre alt. 10 Millionen Menschen sind staatenlos, haben also weder eine Nationalität, noch verfügen sie über Rechte wie Bildung oder Gesundheitsversorgung.

Am Sonntag zünden wir bereits die dritte Kerze auf dem Adventskranz an. Während wir uns hier in Glühweinseeligkeit die Bäuche mit Weihnachtssüssigkeiten vollschlagen, herrscht im Nahen Osten, wo die eigentliche Weihnachtsgeschichte spielt, ein unbarmherziger Krieg. Russische Kriegsflugzeuge bombardieren ununterbrochen Aleppo. Das syrische Regime und seine Verbündeten stehen kurz vor einem Sieg. Die humanitäre Lage ist katastrophal.

Frisch oder doch Brecht?

Im Traum wanderte ich planlos durch unser Haus. Es ist ein Haus voller Bücher. Macht es Sinn, irgendein Buch herauszupicken und mitzunehmen? Marcel Reich-Ranicki beschreibt in seiner Autobiographie, wie er am 28. Oktober 1938 morgens früh um 7 Uhr von einem Schutzmann geweckt wurde. Ranicki war damals Student in Berlin. Er war ausgewiesen worden und musste innert fünf Minuten packen und dem Schutzmann folgen. Weil er gerade am Lesen von Balzacs Roman «Die Frau von dreissig Jahren» war, steckte er das Buch ein. Später, im Zug, bereute er seine Wahl. Der Roman interessierte ihn nicht. Er hatte das falsche Buch mitgenommen auf seine Flucht. Welches Buch also sollte ich einstecken? Die Autobiographie von Wolf Biermann, die ich gerade lese? Oder doch eines der Bücher, die mir Fundamente waren im Leben? Vielleicht den «Stiller» von Max Frisch, oder den «Galileo» von Brecht, «Nathan der Weise» von Lessing oder die Gedichtanthologie von Ulla Hahn? Es krachte wieder. Ich zog den Kopf ein. Meine Mütze. Ich musste meine Helmut-Schmidt-Mütze einpacken.

Man könnte meinen, dass die katastrophale Situation im Nahen Osten in der Adventszeit auch hierzulande ein Thema ist. Dass es gerade die Schweizerinnen und Schweizer empört, wie viele Menschen zur Flucht gezwungen werden. Doch die Politiker beschäftigen sich bloss mit Fragen des Anstands: Der Kanton Basel-Landschaft will Bildungsgesetz und Kantonsverfassung verändern. Darin steht, dass die Schülerinnen und Schüler die hiesigen gesellschaftlichen Werte achten müssen. Welche Werte das sind, steht nicht. In der Bundesverfassung lautet der erste Satz nach den Allgemeinen Bestimmungen: Die Würde des Menschen ist zu achten und zu schützen. Wäre das ein gesellschaftlicher Wert, auf den wir uns einigen könnten? Bloss: Was ist Würde? Für Schiller ist Würde der Ausdruck der Geistesfreiheit des Menschen gegenüber seinen Trieben. Später schreibt Schiller in den Epigrammen allerdings: Nichts mehr davon, ich bitt euch. Zu essen gebt ihm, zu wohnen. Habt ihr die Blösse bedeckt, gibt sich die Würde von selbst.

Der staatliche Zwang als zentraler Wert

Der Kanton Basel-Landschaft meint wohl weder das eine, noch das andere. Im zweiten Absatz, den der Kanton im Bildungsgesetz ändern will, heisst es (§ 64 Abs. 1 d): Die Schülerinnen und Schüler nehmen an hiesig gängigen Ritualen teil. Was sind hiesig gängige Rituale? Geht es dabei eher um das Bedecken der Blösse oder den Ausdruck der Geistesfreiheit? Weder noch. Der Kanton Basel-Landschaft präzisiert: Die Schüler hätten an den hiesig gängigen Ritualen teilzunehmen, namentlich dem Handschlag. Echt jetzt? Die gesellschaftlichen Werte, um die sich die Integration dreht, bestehen aus dem korrekten Gruss? Gib Pfötchen, brav!

Online sind sich die Kommentierenden einig: Wer in die Schweiz kommt, hat sich den hiesigen Werten anzupassen. Wer sich weigert, solle gleich abgeschoben werden. In der «Diskussion» hinterfragt niemand den Sinn des Handschlags und warum dieser Gruss so zentral für unsere Werte sein soll. Wir reden ja hier nicht von der Primarschule, sondern von der Oberstufe. Wenn uns damals im Gymnasium jemand hätte zwingen wollen, einem Lehrer die Hand zu geben, hätten wir einen Aufstand gemacht. Nicht des Handschlags wegen, sondern des Zwangs wegen. Logisch.

Der zentrale hiesige Wert soll ein Zwang sein? Ob zum Handschlag, zum Handkuss, zur Verneigung oder zum Purzelbaum ist völlig egal. Der Staat, der sich doch so gerne auf Wilhelm Tell beruft und dessen Weigerung, den Hut auf der Stange zu grüssen, verlangt als zentralen Wert von Migrantenkindern den korrekten Gruss. Damit geben wir keine Würde, wir nehmen sie. Das kann nicht unser Ernst sein.

Die wichtigen Dinge sind unsichtbar

Im Traum setzte ich mir meine Helmut Schmidt-Mütze auf und schloss die halbleere Tasche. Ich war plötzlich ganz ruhig. Ich erinnerte mich im Traum, was Marcel Reich-Ranicki gemacht hatte, als ihm der Balzac-Roman nicht gefiel. Er merkte nämlich, dass er noch etwas auf seine Reise mitgenommen hatte, etwas, was freilich unsichtbar war: Ich hatte aus dem Land, aus dem ich nun vertrieben wurde, die Sprache mitgenommen, die deutsche, und die Literatur, die deutsche. Ich realisierte im Traum, dass nicht die Bücher wesentlich waren, sondern dass ich sie gelesen hatte. Auf die inneren Bücher kam es an. Und so war es auch bei den Fotos, den Möbeln, ja dem ganzen Haus: Es kam nicht auf die Fotos an, sondern darauf, dass ich das, was auf ihnen abgebildet war, erlebt hatte. Es kam nicht auf das Haus an, sondern darauf, dass ich darin mit meiner Familie gelebt hatte. Es kam nicht darauf an, was ich hatte, sondern was ich lebte.

Ich öffnete die Haustür, es krachte laut – und ich erwachte am Boden neben meinem Bett. Im Fallen hatte ich den Bücherstapel auf meinem Nachttisch umgeworfen. Ich liess die Bücher liegen, beruhigte meine Frau, die erschrocken das Licht angemacht hatte, und ich nahm mir vor, wieder mehr Zeit auf das Leben zu verwenden. Auf das Leben mit den Menschen, die ich liebe. Die wirklich wichtigen Dinge im Leben sind unsichtbar. Und wohl auch die wirklich wichtigen Werte.

Geranien, Minarette, Stacheldraht: Über das Fremde in der Schweiz

3 Kommentare zu "Hätte Wilhelm Tell der Lehrerin die Hand gegeben?"

  1. Je inhaltloser Pädagogik ist, desto strengere Rituale braucht es. Das ist auch bei den Religionen so: Je abstruser, desto mehr Popanz. Und auch mit den Männern: Je doofer ein Politiker, desto länger seine Krawatte. Ich trage seit 40 Jahren keine mehr. Oft gehörte ich deshalb nicht so richtig dazu. Das spürt Mann. Vor allem auch bei Frauen. Auch, dass es damit wieder ernster wird! Vielleicht kommt ja auch noch ein Gesetz zum Krawatte-Tragen-Müssen? Das wäre doch was für unsere Politikerinnen und Politiker. Die haben ja sonst ausser Abstimmen à la Penaltyschiessen nicht wirklich viel Spannendes zu tun. Mal etwas anderes, als sich immer mit diesen Ablenkungsmanövern wie beispielsweise seit gefühlten 100 Jahren mit der so genannten Masseneinwanderungsinitiative, oder jetzt dann mit der so genannten Kündigungsinitiative herumzuschlagen. Wo kein Mensch mehr versteht, was eigentlich Sache ist und wohin es geht. Bei Krawatten wäre das anders. Da geht es um Kopf, Hals und Kragen! Keine Beschäftigungstherapie. Und Krawatten wären für die Medien wahrscheinlicher geiler zu vermarkten als Bildung, Gesundheit, Kultur, Soziales, Verkehr, Wirtschaft und alle diese No-Gos zusammen.

  2. DIESES ZENARIAO, WELCHES M.Z. OBEN DRAMATISCH-FILMREIF BESCHRIEB
    (Ich packte planlos ein paar Kleider in eine Tasche, eine Zahnbürste…Die Tasche war jetzt halb gefüllt. Draussen krachte es zweimal laut und erschreckend nah. Aus einem Riss in der Zimmerdecke rieselte Staub auf den Boden. Was sollte ich noch einpacken? Fotos? Bücher? Dokumente! Genau! Ich kramte in der Schublade und stopfte das Maturzeugnis und die Urkunden von Lizentiat und Dissertation zu Zahnbürste und Deo in die Tasche. Was noch? Computer? Zu gross. Laptop? Weiss nicht. Handy! Unbedingt! Da ist mein ganzes Leben drauf. Rein damit. Und ein Ladekabel dazu.)
    IST TEILWEISE (NICHT IMMER) BEI FLÜCHTENDEN REAL.
    Und nach solch Überlebenskämpfen/Todesqualen hat man im Gastland, welches Zahnarzt, Coiffeur, Schulbildung, Kleidung, Unterkunft, Abonnemente ermöglicht, urplötzlich nur noch solche undankbare Probleme wie ob jetzt das Kind der Kleinklassenlehrerin, der Förderlehrerin, der Integrationshelferin, der Logopädin, der Freizeitaktivierungstherapeutin etc… wie usus im GASTland kurz die Hand geben soll? Neben Respekt sowas wie auch DANKbarkeit zollen soll? Da halt ich es mit unserer aller geschätzten SP-Bundesrätin Simmonetta Sommaruga, welche human das Flüchtlingswesen in der Schweiz betreut und diese Frage mit einem klaren JA beantwortet.

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