Energie

Publiziert am 14. Juli 2023 von Matthias Zehnder

Schäumend bersten die Brecher auf dem Sand: Welle um Welle rollt von Westen an die norwegische Küste. Die Surfer, die sich hier am Borestranden in die Fluten stürzen, nehmen sich winzig aus vor dem grünblauen Ozean. Gegen die Kraft der Wellen haben sie keine Chance. Das Meer, das ist pure Energie.

Sei Jahrmillionen brechen sich hier die Wellen. Davon erzählt, etwas nördlich von hier, in Stavanger, das Norsk Oljemuseum, das Norwegische Erdölmuseum. Es zeigt, wie das Ölgeschäft zur wichtigsten Industrie Norwegens geworden ist und Stavanger zu seiner Hauptstadt. Im Museum erzählt die Ausstellung «Dype hemmeligheter» (Geheimnisse der Tiefe), wie das Erdöl vor den Küsten von Norwegen entstanden ist.

Das Erdöl besteht aus Algen und Plankton, die vor 200 Millionen Jahren hier im Meer lebten. Vor der Küste Norwegens herrschten ideale geologische Bedingungen für die Bildung grosser Ölvorkommen. Nach langer Suche wurden die Norweger 1969 fündig und stiessen auf Öl. Die Entdeckung des Ekofiskfelds zwischen Schottland und Norwegen löste den norwegischen Ölboom aus.

Heute ist das Geschäft mit Erdöl und Erdgas der mit Abstand wichtigste Wirtschaftszweig Norwegens. Die Branche beschäftigt über 200’000 Menschen und macht drei Viertel der norwegischen Exportwirtschaft aus. An zweiter Stelle steht übrigens der Lachs.

Es ist paradox: Während Norwegen sein Geld mit Erdöl verdient, setzt das Land für sich selbst voll auf erneuerbare Energien. Im Jahr 2000 produzierte Norwegen 99,6 Prozent der Elektrizität mit Wasserkraft. Mittlerweile ist der Anteil der Wasserkraft auf rund 90 Prozent gesunken. Zugelegt hat dafür die Windkraft. Sie ist inzwischen die zweitwichtigste Energiequelle im Land.

Auf den Strassen Norwegens fährt mehr als jedes fünfte Auto mit Strom. Zum Vergleich: In der Schweiz ist es etwa jedes fünfzigste Auto. 2022 betrug der Anteil der E-Autos an den Neuzulassungen 80 Prozent. Stromer prägen nicht nur in Oslo das Stadtbild. Auch auf dem Land, an der Küste und in den Bergen machen E-Autos gefühlt die Hälfte des Verkehrs aus. Ladestationen sind allgegenwärtig. Hinter dem nächsten McDonalds oder dem Meny-Supermarkt kann man seinen Stromer ebenso aufladen wie neben der Berghütte auf dem Haukeli-Pass.

Das gleiche Land, das für Europa zum überlebenswichtigen Lieferanten von Erdgas und Erdöl geworden ist, wendet sich selbst mit Nachdruck von fossilen Energieträgern ab. Das Erdölmuseum in Stavanger thematisiert denn auch die problematische Seite des Erdöls. Die Auswirkungen der riesigen Bohrinseln in der Nordsee, manche höher als der Eiffelturm und ungleich schwerer. Auch den Klimawandel thematisiert das Museum. Ein ganzer Bereich ist den Auswegen aus der Ölabhängigkeit gewidmet, den möglichen Alternativen zum schwarzen Gold.

Auch über die verheerenden Unfälle mit Erdölplattformen vor der Küste Norwegens informiert das Museum. Dargestellt sind sie in senkrecht aufgestellten, aufgeschnittenen Pipelinestücken. Innen sind Bilder von brennenden Plattformen zu sehen und aus Tiefseeventilen auslaufendes Öl. Aussen auf dem rostigen Stahl steht in weissen Buchstaben: «Hva lærer vi?» – Was lernen wir?

Gemeint ist der Umgang mit der Sicherheit und der Umweltbelastung der Erdölförderung. Es ist die Frage, die mich bis an Borestranden begleitet. «Hva lærer vi?» – was lernen wir? Irgendwo in der Ausstellung in Stavanger steht, dass es ohne Energie kein Leben gibt. Das stimmt. Jeder Mensch und jedes Tier verbrennt Energie. Die Zellatmung in unserem Körper ist ein Verbrennungsprozess. Im Museum ist natürlich gemeint, dass unser Leben nicht mehr ohne Energie vorstellbar ist.

Die Industrialisierung und die technische Entwicklung seit der Erfindung der Dampfmaschine im 18. Jahrhundert waren nur dank Energie möglich. Erst Kohle, dann Erdgas und Erdöl. Heute wissen wir, dass die Sucht nach immer mehr Energie uns und unseren Planeten kaputt macht. Unseren Körper macht die Sucht nach Zucker krank, den Planeten die Folgen der Verbrennung fossiler Energieträger.

«Hva lærer vi?» Am Strand von Bore werfen sich die Surfer in ihren Neoprenanzügen noch einmal in die Wellen. Am Horizont gleitet ein Kreuzfahrtschiff vorbei. Es ist die «Sky Princess», ein Schiff mit 19 Stockwerken und über 5000 Menschen an Bord. Im endlosen Blau der Nordsee wirkt selbst dieser Riese winzig, geradezu lächerlich.

«Hva lærer vi?» Was können wir aus dem norwegischen Paradoxon lernen? Einerseits fördert der Staat Erdöl und verdient damit viel Geld, andererseits tut er alles dafür, damit seine eigenen Bürger möglichst wenig von dem schwarzen Stoff verbrauchen. Ich bohre meine Zehen in den warmen Sand von Borestranden und lausche dem ewigen Gleichklang der Wellen, die sich hier seit Jahrmillionen brechen.

Das Erdölmuseum hat schon recht: Ohne Energie geht es nicht. Aber es muss kein Erdöl mehr sein. Der 200 Millionen Jahre alte Stoff ist eine chemisch reichhaltige Ressource. Wir sind ganz schön blöd, einen so wertvollen Rohstoff einfach zu verbrennen. Vom Klimawandel ganz zu schweigen. Norwegen hat gezeigt, dass der Umstieg auf die E-Mobilität schnell geht, wenn der Staat die richtigen Anreize setzt. Wir müssen nur wollen.

«Hva lærer vi?» Für heute genug. Heute war ein schöner Tag hier: 18 Grad die Luft, 16 Grad das Wasser. Ich schüttle den Sand aus meinen Kleidern und atme noch einmal tief die salzige Luft der Nordsee ein. Og hva har du lært?

Mit diesen Zeilen aus Stavanger grüsse ich Sie herzlich aus meinen Sommerferien, einen eigentlichen Wochenkommentar gibt es heute nicht. Ich wünsche Ihnen viel Energie.

Stavanger, 14. Juli 2023, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

Ein Kommentar zu "Energie"

  1. Norwegen ist genauso geschäftstüchtig wie die Schweiz. Der Reichtum der Norweger basiert auf Oel und Gas. Bei uns sind es Pharma und Uhren und noch ein bisschen Tourismus und Industrie. Die Norweger haben ihren Staatsfonds, um für die Zukunft den Reichtum zu verwalten. Anything wrong with this?

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