Eine Messe für das Buch
Es ist paradox: Eigentlich ist die Frankfurter Buchmesse das weltweit wichtigste Hochamt für das Buch. Regelmässig wird an der Messe aber der Tod des Buchs verkündet. Ich war da, als die CD-ROM das Buch ablösen wollte, das elektronische Buch das Drucken überflüssig machen und das Internet die Branche auslöschen sollte. Gestern bin ich mal wieder nach Frankfurt gepilgert und habe dem Buchmarkt meinen Tribut gezollt. Allen Unkenrufen zum Trotz sind sie alle noch da: Suhrkamp und Rowohlt, Campus und Herder, Kein&Aber und Diogenes und zwar mit Büchern. Vor allem aber waren da viele Menschen, die leidenschaftlich über Bücher diskutiert haben. Autorinnen und Autoren, Verlegerinnen, Agenten, Übersetzer. Ich habe viele wache, kluge Gesichter gesehen. Das stimmt mich zuversichtlich. Aber auch 2024 fürchtet sich die Branche vor einem neuen Trend. Diesmal geht es nicht um eine neue Technologie, oder nur am Rande. In meinem Wochenkommentar sage ich Ihnen diese Woche wovor sich die Verlage fürchten und was mich dennoch hoffnungsvoll stimmt.
Sie ist riesig, sie ist laut und alle paar Jahre wird da der Tod des Buchs verkündet: die Frankfurter Buchmesse. Ich erinnere mich gut, wie 1993 zum ersten Mal neue Medien an der Messe vertreten waren. Neue Medien, das waren damals vor allem CD-ROMs, Video und Onlinedatenbanken. 1994 waren Beobachter schon überzeugt, dass «silbernen Zeiten» auf die Buchbranche zukommen. Auf CD-ROM gab es bei Rowohlt zum Beispiel Robert Musils Nachlass, alle 10’427 Seiten auf einer einzigen, silbernen Scheibe. Oder bei Ullstein das «Guinness-Buch der Rekorde». Vor allem aber ermöglichten die CD-ROMs «animierte Bücher», die nicht nur Texte und Bilder, sondern auch Töne und bewegte Bilder enthielten. Eines der Label hiess «Living Books». Mein Lieblingstitel war ein animiertes Bilderbuch: Aesops Fabel «The Tortoise and the Hare». Diesen Titel gab es bald auch auf Deutsch «Die Schildkröte und der Hase». Meine Kinder erinnern sich heute noch an einen rappenden Biber, der auf einem Baumstrunk scrappt: «Ich bin der Biber mit der Kappe, meine Raps sind nicht von Pappe».
1996 meldete die Buchmesse, Multimedia habe stark zugelegt: 1500 von 6700 Ausstellern boten elektronische Produkte an. «Das Scheibenbuch ist im Vormarsch, das gedruckte im Rückzug», schrieb der Schweizerische Feuilletondienst der sda. Ganz so schnell ging es dann nicht. Zur 50. Ausgabe der Frankfurter Buchmesse 1998, übrigens mit der Schweiz als Gastland, verzeichnet die Messe bereits wieder einen Rückgang bei den Multimedia-Anbietern. Die meisten Aussteller hatten keine separaten Stände mehr für die neue Medien, sie zeigten CD-ROMs und Datenbanken am selben Stand wie die gedruckten Bücher. Die Buchmesse meldete, ein Viertel aller Aussteller sei mittlerweile auch mit elektronischen Angeboten unterwegs, Tendenz steigend. Beobachter waren sich einig: Die letzten Tage des Buchs aus Leinen und Papier seien angebrochen.
Klobige Kästen
Und dann kamen die E-Book-Reader. Zu den ersten Firmen, die mit einem speziellen Lesegerät in Frankfurt gross auftrumpften, gehörte schon 2002 die Firma Gemstar. Gemeinsam mit BOL zeigte das Unternehmen in Frankfurt den GEB 2200. Das Gerät war etwa so gross wie eine Zeitschrift. Es verfügte über einen Farbbildschirm und ein eingebautes Modem. Damit liessen sich elektronische Bücher direkt aus dem Internet auf das Gerät herunterladen. Verfügbar waren nicht nur Buchtitel, sondern auch der gesamte redaktionelle Inhalt des Nachrichtenmagazins «Der Spiegel» als farbige eBook-Ausgabe, und das schon zwei Tage bevor der gedruckte «Spiegel» am Samstag ausgeliefert wurde. Das Gemstar-Gerät kostete damals rund 950 Franken – und das war zu viel: So richtig hob der Markt für E-Books nicht ab.
Das sollte sich 2007 ändern: Das war das Jahr, als Amazon mit einem eigenen E-Book-Reader ins Buchgeschäft einstieg. Ich berichtete damals für Schweizer Zeitungen: «Der ‹Amazon Kindle›, wie das Gerät laut der New York Times heissen soll, wird in der Lage sein, E-Books direkt aus dem Internet herunterzuladen – das konnten die sperrigen Reader bisher nicht.» Es sei eine «Mischung aus Surfbildschirm und Buchanzeigegerät: Man kann damit nicht nur Bücher von Amazon und Google herunterladen, sondern auch ganz normale Webseiten betrachten. Das könnte der Trick sein, mit dessen Hilfe sich das E-Book etablieren lässt.» Spoiler: war es nicht.
Hilfe, der Kindle kommt
2008 war der Kindle zum ersten Mal in Frankfurt an der Buchmesse zu sehen. Pessimisten waren überzeugt, dass es diesmal dem Buch wirklich an den Kragen gehe. Amazon war und ist ein Riese im internationalen Buchhandel. Er brachte die Verlage und den Buchhandel mit seinem Kindle zum Zittern. Um Amazon etwas entgegensetzen zu können, bildeten in Deutschland Buchhändlern wie Thalia, Weltbild, Hugendubel und der Buchgrosshändler Libri die «Tolino-Allianz». Bis heute bieten die Tolino-Geräte ähnliche Funktionen wie der Kindle. Während man mit einem Kindle aber nur bei Amazon einkaufen kann, haben Tolino-Besitzer mehr Freiheit bei der Wahl des Online-Buchladens. Neben Kindle und Tolino gibt es noch den Schweizer E-Reader-Hersteller PocketBook mit Sitz in Lugano, der viele E-Book-Formate unterstützt, und die Kobo-E-Reader. Kobo war ursprünglich ein kanadisches Unternehmen, heute ist es eine Tochtergesellschaft von des japanischen Rakuten-Konzers. Der Name Kobo ist übrigens ein Anagramm von «book».
So richtig abgehoben haben die E-Books aber nicht. Ich kommentierte damals unter dem Titel «Eins zu Null für Gutenberg», dass sich die grossen Buchverlage im Geschäft mit elektronischen Büchern «blaue Flecken statt schwarze Zahlen» geholt hätten. Nach grossspurigen Sprüchen zogen Grossverlage wie Bertelsmann, AOL Time Warner oder Random House ihren elektronischen Reihen den Stecker. Allerdings gab keiner der Grossverlage das E-Book-Geschäft ganz auf: Neben Papierbüchern wollten sie alle auf kleinem Feuer weiterhin elektronische Titel anbieten.
Sechs Prozent Marktanteil
Der Umsatz mit elektronischen Büchern ist zwar in den letzten Jahren kontinuierlich gewachsen, aber sehr langsam. 2010 lag der Marktanteil von E-Books noch unter einem Prozent des Gesamtumsatzes der Buchindustrie. Seither ist der Anteil jedes Jahr etwa um ein halbes Prozent gewachsen. 2023 lag der Umsatzanteil von E-Books im deutschen Publikumsmarkt bei knapp sechs Prozent. In den USA sieht das anders aus: Da betrug der Umsatzanteil von E-Books bereits 2014 über 30 Prozent. Ein Grund dafür könnte schlicht sein, dass in den USA Buchhandlungen für viele Menschen weniger gut erreichbar sind.
Heute ist hierzulande kaum mehr die Rede davon, dass E-Books gedruckte Bücher verdrängen könnten. Neu gibt es die Reader zwar in Farbe, sie sollen so auch Comics anzeigen können. Kindle, Tolino, PocketBook und Kobo sind vor allem beliebt als Reisebegleiter: Sie ermöglichen es, umstandslos beliebig viele Bücher an den Strand oder in die Berge mitzunehmen. An der Buchmesse spielen sie heute keine Rolle mehr. Amazon wird heute weniger als Gefahr für Verlage, als für den stationären Buchhandel wahrgenommen: Gerade der starke Franken verleitet viele Schweizerinnen und Schweizer dazu, beim amerikanischen Onlinehändler zu deutschen Preisen Bücher zu kaufen.
Eine Halle für «New-Adult»
Für Diskussionen sorgte an der Buchmesse dieses Jahr nicht eine neue Medientechnik, sondern ein neues Buchgenre: «New-Adult» heisst es. Die Buchmesse widmet dem Genre in Frankfurt eine eigene Halle. Der Unterschied zum übrigen Messebetrieb ist eklatant: Während an den Messeständen von Rowohlt, Kiepenheuer&Witsch oder Reclam mittelalterliche Menschen mit Brille dominieren, tummeln sich in der Halle 1 an der Messe vor allem junge Menschen. Die Halle ist in Pink, Lila und Violett getaucht. Es ist viel von Liebe die Rede und es sind viele Herzen zu sehen. Und die meisten Stände sind englisch angeschrieben. «Be romantic, dark & extraordinary», sagt der Vajona-Verlag. «Reading was my first love» heisst es bei Knaur. «Reading is a lifelong love story», hofft die Buchmesse. Der Phantasie, oder besser: der Fantasy sind keine Grenzen gesetzt.
Die Halle ist gut besucht. Was dabei auffällt: Im Bereich Young Adult und Fantasy gibt es einen starken Trend zum englischsprachigen Original. In den Niederlanden lag der Marktanteil englischsprachiger Bücher 2023 laut Verlegerverband bei 25 Prozent, im Young Adult-Segment überschritt der Anteil laut GfK die 60-Prozent-Marke. In Skandinavien, im deutschsprachigen Raum und im Baltikum ist die Entwicklung ähnlich. Anders sieht es in Frankreich und Italien aus: Da liegt der Marktanteil englischsprachiger Bücher laut Nielsen bei knapp einem Prozent. Ein Grund für den Boom der englischsprachigen Romance-Titel ist TikTok: Im Video-Netzwerk, das vor allem junge Menschen nutzen, gibt es eine grosse BookTok-Community. Vielleicht ist es aber auch wie in der Pop-Musik: So manche Schnulze, die auf Englisch toll klingt, treibt einem auf Deutsch die Schamröte ins Gesicht.
Viel Schub durch #BookTok
Eine Auswertung von Media Control für Deutschland, Österreich und die Schweiz zeigt, dass der Umsatz mit Büchern, die auf #BookTok erwähnt werden, in Deutschland im Vergleich zum Vorjahr einen Umsatzsprung von über 25 Prozent gemacht haben. Das Genre Young Adult legte sogar um 46 Prozent zu. In der Schweiz zeigt sich die Entwicklung mit einem Zuwachs von insgesamt knapp 20 Prozent etwas schwächer. Der Buchhandel frohlockt über den neuen Boom. Für die deutschsprachigen Verlage ist der Trend dagegen ein Problem, weil die jungen Leser oft zum englischsprachigen Original greifen.
Der Besuch in der Young-Adult-Halle zeigt, dass Verlage wie Knaur, Vajona oder Penguin deutschsprachige Titel jetzt einfach englisch promoten. «Finde deine nächste Lovestory», plakatiert zum Beispiel «@penguinlovestories». Auch die Buchmesse selbst setzt auf englische Slogans und zwar auch ausserhalb der Young-Adult-Halle. «Reading changes the world», plakatiert die Messe zum Beispiel und ruft auf zu «Read. Reflect. Relate.» Das tönt natürlich besser als ein steifes «Lesen verändert die Welt. Lesen. Nachdenken. Verbinden.» Aber auch da ist es wie bei Popsongs: Auf Englisch klingen die Slogans so cool, dass man gar nicht erst in Versuchung kommt, darüber nachzudenken, was sie bedeuten.
Gummibärchen-Literatur
Die Verleger, die ich an der Messe getroffen habe, waren sich übrigens alles andere als einig in der Beurteilung der Young-Adult-Bücher. Die einen finden es schön, dass junge Menschen sich wieder mit roten Ohren in Bücher vertiefen, die anderen bezeichnen die rosarot eingeschlagenen Liebesgeschichten als «Gummibärchen-Literatur», die nicht in den Buchhandel gehöre, sondern allenfalls an den Bahnhofskiosk. Ich habe mich in meiner Jugend auch in Bücher vertieft, die meine Eltern, hätte es den Ausdruck damals schon gegeben, als «Gummibärchen-Literatur» bezeichnet hätten. Ich denke an die Buchreihen von Enid Blyton, die Detektiv-Geschichten rund um Jan von Knud Meister und Carlo Andersen und natürlich an Karl May. Für mich war das der Einstieg in die Literatur. Vielleicht landen die Leserinnen und Leser der rosaroten Bücher in der Young-Adult-Halle in ein paar Jahren also auch bei Suhrkamp, Rowohlt und Diogenes. Nicht mehr in Rosarot, dafür aber mit Brille.
Mich hat der Besuch in Frankfurt zuversichtlich gestimmt. Ich habe viele wache und interessierte Gesichter gesehen. Menschen, die leidenschaftlich über Bücher diskutierten. Sicher: Die Buchmesse ist eine Buch-Business-Messe. Trotzdem (oder gerade deshalb) finde ich es wunderbar, wenn auf der zentralen Bühne von 3Sat Denis Scheck eine halbe Stunde lang mit Frank Schätzing über dessen neuen Roman «Helden» und die Gefühlslage der Menschen im 13. Jahrhundert diskutiert – oder Arno Geiger Moderatorin Ariane Binder erklärt, warum der abgedankte Kaiser Karl V. zu Beginn seines neuen Romans «Die Reise nach Laredo» nackt ein Bad nimmt.
Auf was es ankommt
Es sind drei Punkte, auf die es dabei ankommt. Frank Schätzing, Arno Geiger und all die anderen Autorinnen und Autoren erzählen zuallererst Geschichten. Das ist auch bei vielen Sachbuchautoren so, denken Sie etwa an Yuval Noah Harari. Menschen brauchen Geschichten. Ob diese Geschichten auf CD-ROM, einem E-Book-Reader oder im klassischen Buch verbreitet werden, ist erst einmal gar nicht so wichtig. Ein richtiges Buch ist schlicht in den meisten Fällen die beste Hülle für eine solche Geschichte. Es ist schön, es ist praktisch und man wird nicht abgelenkt beim Lesen.
Der zweite Punkt: Wir möchten Geschichten von Menschen hören. Geschichten, die von Menschen handeln, vor allem aber Geschichten, die uns von Menschen erzählt werden.
Der dritte Punkt: Der Zauber eines Buchs macht seine Sprache aus. Es ist wunderbar, wenn eine Autorin, ein Autor einen Gedanken so in Worte fassen kann, dass uns die Sprache berührt, dass uns die Worte etwas erklären oder dass wir uns mit den Worten verbinden können. Nehmen Sie dieses schlichte Beispiel aus der «Reise nach Laredo» von Arno Geiger. Kaiser Karl ruht nach dem Bad in seinem Garten:
Er fühlt sich jetzt besser als in der Früh, es hat damit zu tun, dass ein Mensch, wenn er gebadet ist, für einige Zeit von sich eine bessere Meinung hat. Auch die Zukunft ist nicht mehr so klein und dumm. In dieser Verfassung hält Karl es sogar für möglich, dass seine Gedanken ihre frühere Genauigkeit wiedererlangen. (Seite 20)
Es hat damit zu tun, dass ein Mensch, wenn er gebadet ist, für einige Zeit von sich eine bessere Meinung hat. Das ist schön gesagt und macht mich schon deshalb froh. Ich bin deshalb überzeugt, dass es noch lange gute Bücher geben wird – ganz einfach deshalb, weil wir sie brauchen.
Basel 18. Oktober 2024, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch
PS: Nicht vergessen – Wochenkommentar abonnieren. Dann erhalten Sie jeden Freitag meinen Newsletter mit dem Hinweis auf den neuen Kommentar, einen Sachbuchtipp, einen Tipp für einen guten Roman und das aktuelle Fragebogeninterview. Einfach hier klicken. Und wenn Sie den Wochenkommentar unterstützen möchten, finden Sie hier die entsprechenden Möglichkeiten – digital und analog.
PPS: Wenn Sie den Wochenkommentar nur hören möchten, gibt es auch eine Audioversion. Hier der Link auf die Apple-Podcast Seite oder direkt auf die Episode:
Quellen:
Eingangsbereich der Frankfurter Buchmesse am Donnerstag, 17. Oktober 2024.
Bild: mz
Cronau, Sabine (2024): Steht der Buchmarkt am Wendepunkt? In: Börsenblatt. [https://www.boersenblatt.net/news/verlage-news/steht-der-buchmarkt-am-wendepunkt-343293?ss360SearchTerm=verkaufszahlen; 18.10.2024].
Schulte, Christian (2024): Rasantes Wachstum Für #BookTok-Titel. In: Börsenblatt. [https://www.boersenblatt.net/news/buchhandel-news/rasantes-wachstum-fuer-booktok-titel-348685?ss360SearchTerm=verkaufszahlen; 18.10.2024].