Ein kleines Plädoyer für den Anstand

Publiziert am 15. Dezember 2017 von Matthias Zehnder

Wir müssen uns nichts vormachen: Anstand ist veraltet. Das Wort riecht nach Konfirmandenanzug und Mottenkugeln und macht einen so vergessenen Eindruck wie die Gideon-Bibel in der Nachttischschublade eines Hotelzimmers. Und doch ist es, wenn wir das Jahr 2017 Revue passieren lassen, genau das, was uns heute fehlt: Anstand. Innere Haltung. Zurückhaltung. Ein Plädoyer für den Anstand.

Anstand ist gar nicht so einfach zu definieren. Ursprünglich meinte Anstand das Anstehen-lassen, etwa das Aufschieben von Kampfhandlungen. Aus dem, was wohl ansteht, ist der heutige Anstand geworden. Heute ist Anstand zunächst gutes Benehmen, aber mehr als blosse Höflichkeit. Anstand heisst, sich der Sittlichkeit gemäss zu verhalten. Wieder so ein altes Wort. Sittlich ist ein Verhalten dann, wenn es sich nach einer Moral ausrichtet, also nach einem (philosophischen) Kompass. So gesehen heisst anständig sein, sich moralisch (richtig) zu verhalten.

Anstand hat diese rein oberflächliche Ebene: Gib schön anständig die Hand. Dieses Kleid ist unanständig kurz. Aufzustehen im Tram, wenn ein alter Mensch einen Platz sucht, ist eine Frage des Anstands. Aber bei näherer Betrachtung ist Anstand eben mehr als eine Sammlung von Benimmregeln. Schon der legendäre Adolph Freiher Knigge hat nicht einfach einen Benimmratgeber geschrieben, sondern ein Buch mit dem Titel Über den Umgang mit Menschen.[1] Im Vorwort schreibt er, die Regeln des Umgangs müssten auf die Lehren von den Pflichten gegründet sein, die wir allen Arten von Menschen schuldig sind, und wiederum von ihnen fordern können. Zu Grunde liegen müsse ein System, dessen Grundpfeiler Moral und Weltklugheit sind.[2]

Unanständiges Amerika

Wenn ich sage, dass es uns heute an Anstand fehlt, dann meine ich genau das: Es fehlt an einem Verhalten, dessen Grundpfeiler Moral und Weltklugheit sind. Es geht nicht um äussere Benimmregeln, es geht um die nach aussen hin sichtbaren inneren Werte. Wenn heute etwas die Welt prägt, dann ist es die Gier: Hemmungsloser Konsum, hemmungslose Eigensucht, hemmungsloser Reichtum. Symbolfigur dafür ist Donald Trump. Seine Grab them by the pussy-Sprüche, die Frauen auf Konsumgut reduzieren. Seine America first-Politik, die unverhohlen eine Politik des Egoismus ist. Seine Steuerreform, die vor allem Reiche wie ihn entlastet. Seine Art, wie er Gegner niedermacht. Das alles ist zutiefst unanständig, nicht nur, weil es sich nicht gehört, sondern weil es zeigt, dass Trump ausser Gier und Eigennutz keinerlei inneren Kompass hat.

Ganz besonders hat sich das diese Woche bei der Nachwahl in Alabama gezeigt, als Donald Trump den republikanischen Kandidaten Roy Moore unterstützte, obwohl Moore vorgeworfen wird, er habe Teenager belästigt (was bisher nur ein Verdacht ist) und obwohl er mehrfach die Bibel (oder besser: seine Interpretation der Bibel) über die amerikanische Verfassung gestellt hatte. Trump ist ein zweifelhafter Republikaner immer noch lieber als ein Demokrat. Oder anders gesagt: Macht und Einfluss sind ihm wichtiger als Anstand. Ideologie siegt über Moral.

Anstand? Fehlanzeige

Die Schweiz ist natürlich weit entfernt von amerikanischen Verhältnissen. Oder? Wenn ich dieser Tage Zeitung lese, bin ich mir da nicht so sicher. Auch in der Schweiz werden politische Kämpfe ideologischer geführt und immer häufiger ohne jeden Anstand. Derzeit zum Beispiel der Kampf um die SRG. Die NoBillag-Befürworter fahren zum Teil sehr grobes Geschütz auf. Oder der Kampf gegen Europa, der tatsächlich nicht mehr nur ein Kampf gegen die EU ist. Eine grosse Rolle spielen dabei die Kommentare im Internet, nicht nur in den sozialen Medien, sondern auch unter Artikeln und Beiträgen im Web.

Anstand? Fehlanzeige. Obwohl ich mir immer wieder vornehme, mich dadurch nicht ablenken zu lassen, gerate ich manchmal ins Lesen solcher Kommentare. Nach ein paar Minuten fühle ich mich jeweils so beschmutzt, dass ich aufstehen und körperlich Distanz zwischen mich und den Bildschirm bringen muss. Das anonyme Schreiben im Web tut den Menschen nicht gut. Es entmenschlicht sie.

Keine Hemmungen, keine Hoffnungen

Mani Matter schrieb in seinem berühmten Lied «Hemmige»,[3] dass es nicht die glatte Haut sei oder der fehlende Schwanz, was die Menschen vom Schimpansen unterscheide, sondern dass si hemmige hei. Man stelle sich die Männer vor, wenn es anders wäre, schreibt Matter, und ein hübsches meiteli derhär komme. Aber es passiere eben nichts, die Männer schauten höchstens chly uf d’bei, wil mir hemmige hei. Doch diesen Teil von Matters Lied haben Weinstein, Trump und viele andere Männer widerlegt, die Frauen hemmungslos als Freiwild betrachten.

Und was ist mit dem Rest von Matters Lied? Er schreibt, wenn man sich anschaue, was heute der Menschheit drohe, sehe man schwarz, nicht nur mehr rot. Man könne nur hoffen, dass si hemmige hei. Diese Hoffnung ist, nach diesem 2017, ehrlich gesagt nicht mehr sehr gross. Mir scheint vielmehr, die Menschheit werde immer hemmungsloser, verfolge immer hemmungsloser die eigenen, egoistischen Ziele, vom Austritt aus dem Klimaabkommen, über die Erlaubnis, Glyphosat weiter zu verwenden, bis zur Selbstverständlichkeit, mit der wir mit unseren Autos weiter die Luft verpesten. Hemmige? Fehlanzeige.

Der Weg von Michelle Obama

Wie sollen wir bloss darauf reagieren? Wie können wir umgehen mit den Cyberbullies, den Übergriffigen, den Gierigen, den Egoisten? Anstand ist kein Laserschwert, mit dem man sich eine Schneise erkämpfen kann. Anstand ist keine Zauberrüstung, die einen unverwundbar macht. Viele Rechte halten Anstand für eine Schwäche. Ich glaube, es gibt nur einen Weg, wie wir auf die Unanständigkeit der Welt antworten können. Es ist der Weg, den die damalige First Lady Michelle Obama an der Democratic National Convention im Juli 2016 ausrief: When they go low, we go high![4]

Anstand ist Haltung, ist Selbstbeherrschung, ist Respekt. Damit gewinnt man keine Twitterduelle und keine Schmutzdebatten, man kommt deswegen nicht im Fernsehen, nicht mal im Lokalradio. Aber man kann sich am Abend, vor dem Zubettgehen, offen in die Augen schauen. Axel Hacke, der soeben ein wunderbares Buch[5] über Anstand veröffentlich hat, definiert den Anstand so: Unter Anstand würde ich einen Sinn für Gerechtigkeit verstehen, auch ein grundsätzliches Gefühl der Solidarität mit anderen Menschen, für Fairness, also für den Gedanken, dass man sich an die Regeln auch dann hält, wenn mal gerade keiner guckt, für Ehrlichkeit also und Offenheit, auch sich selbst gegenüber. Und Aufrichtigkeit: zu handeln und zu reden ohne Hintergedanken. Fähig zu sein, das eigene Reden und Handeln kritisch zu sehen. Und den Willen zu haben, sich an diese Gebote zu halten, so gut es geht.

Seien wir anständig

Und vielleicht das wichtigste: Anstand gilt gegenüber allen Menschen. Ein Anstand, der nur gegenüber bestimmten Menschen gilt, den gibt es nicht. Es ist für mich deshalb unverständlich, dass das Basler Parlament bereit ist, Geld zum Schutz für den Weihnachtsmarkt auszugeben, nicht aber für den Schutz der jüdischen Gemeinde.[6] Das ist unanständig. Vielleicht müsste man sogar sagen: Anstand gilt gegenüber allen Wesen. Warum zum Beispiel sollten Menschen mehr Rechte haben als Gorillas oder Schimpansen?[7]

Nein, Anstand ist nicht populär, man kann ihn sich nicht ans Revers heften wie ein Rotary-Pin und es gibt keine Anstand-Fan-Shirts. Es lässt sich auch nicht behaupten, dass es sich lohnt, anständig zu sein – es ist einfach richtig. 1931 veröffentlichte Erich Kästner seinen Roman «Fabian», den Roman eines Moralisten. Schon 1931 kommt Kästner zum Schluss, dass es für einen anständigen Menschen, einen Normalmoralisten, keinen Platz habe auf der Welt: Der Roman endet damit, dass Fabian in einen Fluss springt, weil er einen Jungen retten will, der in den Fluss gefallen ist. Der kleine Junge schwamm heulend ans Ufer. Fabian ertrank. Er konnte leider nicht schwimmen. Dass Kästner schon 1931 zu dieser Diagnose kam, ist kein Trost, im Gegenteil: Zwei Jahre später kam Hitler an die Macht und der Anstand wurde in Deutschland ausgebürgert. Seien wir also anständig, damit sich die Geschichte nicht wiederholt.

Basel, 15. Dezember 2017, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

PS: Nicht vergessen – Wochenkommentar abonnieren. Kostet nichts, bringt jede Woche ein Mail mit dem Hinweis auf den neuen Kommentar und einen Buchtipp. Einfach hier klicken.

Quellen:

[1] Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Über_den_Umgang_mit_Menschen

[2] Vgl. Adolph Freiherr von Knigge: Über den Umgang mit Menschen. Neudruck der fünften Auflage, Stuttgart 2002, S. 444.

[3] Vgl. http://www.songtexte.com/songtext/mani-matter/hemmige-53c68f19.html

[4] Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=mu_hCThhzWU

[5] Axel Hacke: Über den Anstand in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wir miteinander umgehen. Verlag Antje Kunstmann, 192 Seiten, 26.50 Franken; ISBN 978-3-95614-200-0

[6] Vgl. https://www.srf.ch/news/regional/basel-baselland/terrorgefahr-kein-geld-fuer-juedische-gemeinde-basel

[7] Vgl. https://www.bzbasel.ch/basel/basel-stadt/rechtlich-unzulaessig-basler-regierung-will-primaten-initiative-nicht-dem-volk-vorlegen-131996335

3 Kommentare zu "Ein kleines Plädoyer für den Anstand"

  1. Man kann auch ANSTÄNDIG UNANSTÄNDIG sein, ganz subtil, zwischen den Zeilen, immer wieder gegen die eine Richtung schiessen. Eine Disziplin, welche insbesondere Journalisten bestens beherrschen (vgl. Medienmoloche wie SRF, AZ-Medien, Blick etc.). Das heimtückische daran, wer hat den schon die Zeit, alle deren Absonderungen genauestens auseinanderzunehmen und zu differenzieren. Die meisten Media-Konsumenten bemerken diese Tendenzen nicht mal mehr…
    Wattenpfeile abschiessen ist sehr beliebt in unserer Gesellschaft. Und immer schön lächeln dazu. Zähne zeigen, aber „anständig“. In unseren „Primeli“-Schulen beginnt es schon (vgl. „BaZ Online – Der tägliche Gang zur eigenen Hinrichtung“), geht in den „Sek“-Schulen weiter (vgl. „BaZ Online – Sekundarschule Reinach bespitzelt Eltern), in denen die Schulleiter huldigen, sie seien dann eine „anständige“ Schule bigott; zieht sich übers Arbeitsleben, die ganze Gesellschaft hindurch bis ins Pflegeheim (Bsp. Literatur div. u.a. „Ausgrenzung im Altenheim durch Mitbewohner“) weiter. Heilig kommt von Scheinheilig, oder ist es umgekehrt?
    Auch Blogger, weit gehen muss man nicht, da sie sogar in unserer Regio zu finden sind, sind davon nicht immer gefeit. Es gibt Extrembeispiele von „Unanstand“ (ich empfinde dieses traurige Gefühl bei Konsultation von arlesheimreloaded.ch zum Beispiel), welche mit Herabwürdigung und Bashing leider sogar noch Erfolg haben, aber auch die „erlauchten“ sind nicht so sakrosankt und hehr, wie sie sich immer zu geben versuchen…
    Gemach, gemach also; seien wir Vorsichtig mit dem überstrapazierten Begriff „Anstand“ (ähnlich dem Begriff „Sexismus“). Auch wenn die Glocken, gerade jetzt zur Weihnachtszeit, süsser und heller den je alles zu übertönen versucht sind…

  2. Viele der oft hoch unanständig auftretenden Clowns, Divas, Grossmäuler und Rüpel auf unserer Erde gehören zur globalen Kohorte der Ausbeuter*innen. In der Regel sind sie in den Wohlstandsländern von einer Mehrheit gewählt. Sie will daran nichts ändern, sondern hemmungslos weiter und kollektiv enorm unanständig von der Ausbeutung der Natur und der Menschen, die auf dieser Welt ausserhalb der Wohlstandsoasen leben, profitieren. In diesem Kontext finde ich es etwas scheinheilig, den anständigen Umgang unter den grundsätzlich Unanständigen zum Thema zu machen. Wichtiger scheint es mir, etwas zu tun, damit wir uns vom grundsätzlich hoch unanständigen Prinzip des hemmungslosen Wachstums, des Wettbewerbs und der Konkurrenz befreien können. Für ein anständig gutes Leben für alle.

  3. Jedes System hat Fehler. Leider stellen wir in der Schweiz immer öfters wegen Fehlern das ganze System in Frage. Wir schaffen dann neue Systeme, welche noch viel mehr und oft problematischere Fehler aufweisen als das bisherige System (z.B. KESB)! Wir müssen uns unbedingt darauf konzentrieren, auf demokratischem Wege immer wieder zu versuchen, Fehler in den bestehenden Systemen zu beheben anstatt immer wieder den gleichen Fehler zu begehen und mit der Abschaffung bestehender Systeme auch sehr viel Gutes zu zerstören. Ulrich König

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.