Eigenverantwortung: Von der Ausrede zur Chance

Publiziert am 23. Oktober 2020 von Matthias Zehnder

Der Bundesrat, verschiedene Politiker und die Wirtschaft haben in Sachen Coronapandemie immer wieder zu Eigenverantwortung aufgerufen. Bei Lichte betrachtet ist das nichts anderes als eine billige Ausrede: Man schiebt an den Einzelnen ab, was der Staat nicht bestimmen will. Dabei wäre mehr Eigenverantwortung in der Krise tatsächlich eine Chance. Doch Eigenverantwortung setzt voraus, dass die Menschen nicht nur wissen, was sie wie tun müssen in der Pandemie, sondern vor allem auch warum sie es tun müssen. Eigenverantwortung setzt eine starke Moral voraus. Aber Moral gilt als ökonomisch nicht essenziell, ja sogar als störend. Unsere Gesellschaft verheddert sich deshalb in Widersprüche. 

Eigenverantwortung. Noch nie war so häufig davon die Rede wie in den letzten Tagen. Bundesrat Berset pries an seinen Auftritten vor den Medien in den letzten Tagen die Eigenverantwortung gleich mehrfach. Auch viele andere Politiker rufen zu Eigenverantwortung auf und das nicht nur in der Schweiz. Es scheint in der Coronakrise eine Art Zaubermittel zu sein. FDP und SVP setzen auf Eigenverantwortung als Alternative zu staatlich verordneten Massnahmen oder Verboten. Eigenverantwortung spielt deshalb in der Schweiz bei der Pandemiebekämpfung eine grosse Rolle. Aber was ist damit genau gemeint?

Kümmern wir uns zuerst um die Verantwortung: Was bedeutet Verantwortung genau? Der Duden definiert «Verantwortung» so: «Verpflichtung, dafür zu sorgen, dass (innerhalb eines bestimmten Rahmens) alles einen möglichst guten Verlauf nimmt, das jeweils Notwendige und Richtige getan wird und möglichst kein Schaden entsteht».[1] Verantwortung bedeutet also, dass ein Mensch für sein Verhalten im weitesten Sinn haftet: Wer Verantwortung übernimmt, steht für die möglichen Folgen einer Handlung ein und legt allenfalls dafür Rechenschaft ab.

Verantwortung vor jemandem

Wenn jemand Verantwortung übernimmt, bedeutet das, dass er (oder sie) Verantwortung für etwas oder jemanden übernimmt und zwar vor etwas oder jemandem. Ich übernehme zum Beispiel Verantwortung für ein Kind vor dem Gesetz und damit vor der staatlichen Autorität. Oder ich übernehme Verantwortung für mein Handeln vor Gott (das ist etwas aus der Mode gekommen), vor der Natur (darauf basiert der Umweltschutz) oder vor meinem Chef (in der Firma).

Die Videoversion des Kommentars gibt es hier.

Entsprechend gibt es unterschiedliche Arten der Verantwortung. In der Firma, um hinten zu beginnen, haben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Ergebnisverantwortung. Es kommt also in aller Regel darauf an, welches Ergebnis sie mit ihrer Arbeit erzielen, sei das nun eine Wand, die gestrichen werden muss, sei das ein Geldbetrag, der über dem Strich übrig bleiben muss. Gegenüber Kindern (und Mitarbeitern) haben Eltern (und ChefInnen) Führungsverantwortung. Sie müssen also gegebenenfalls darüber Rechenschaft ablegen, ob und wie sie ihre Kinder oder Untergebenen angeleitet haben. Gegenüber Gott, der Natur und der Menschheit haben wir alle Handlungsverantwortung. Hier kommt es auf die Art an, wie ich eine Handlung ausführe, ob ich mich also moralisch korrekt verhalte oder ob ich wenig CO2 verursache.

Die Frage nach dem «Warum»

Bei der Eigenverantwortung fallen viele dieser Aspekte ineinander. So ist der Führende und der Geführte identisch: Wir führen uns selbst. In manchen Bereichen sind wir auch unsere eigene Autorität, vor der wir die Verantwortung übernehmen, weil es keine andere Prüfinstanz für das Verhalten gibt. Eigenverantwortung heisst also, dass ich Verantwortung für mich vor mir selbst übernehme. Das ist ganz schön anspruchsvoll, weil es viel Wissen und Moral voraussetzt. Wenn der Bundesrat und Politiker also für das Übernehmen von Eigenverantwortung plädieren, müssen wir uns fragen: Sind die Bedingungen dafür erfüllt, dass die Menschen in der Schweiz Eigenverantwortung in der Covid-Krise übernehmen können?

Wenn Sie in einer Firma Menschen führen, dann wissen Sie, dass es dabei auf drei Aspekte ankommt: Natürlich muss das «Was» klar sein. Die MitarbeiterInnen müssen wissen, welche Aufgaben Sie zu erledigen und was sie zu tun haben. Wichtiger als das «Was» ist das «Wie»: Firmen differenzieren sich selten darüber, was sie machen, sondern vor allem damit, wie sie es machen. Am allerwichtigsten aber ist das «Warum».[2] Wenn die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter das «Warum» verinnerlicht haben, brauchen sie auf der Ebene von «Was» und «Wie» oft kaum mehr Anweisungen. Mit anderen Worten: Wenn Sie als Führungskraft in einer Firma Verantwortung übernehmen wollen, müssen Sie ihren MitarbeiterInnen das «Was» und das «Wie» klar machen. Wenn Sie möchten, dass Ihre MitarbeiterInnen eigenverantwortlich handeln, müssen Sie Ihnen das «Warum» klar machen.

Die Informationsebene

Damit schlagen wir den Bogen zurück zur Eigenverantwortung, die der Bundesrat und viele PolitikerInnen von der Bevölkerung verlangt. Wir können uns zuerst fragen, ob das «Was» allen klar ist. Natürlich, sagen Sie jetzt vielleicht, schliesslich berichten die Medien seit März kaum über etwas anderes. Doch da überschätzen Sie vermutlich die Bevölkerung. Die intensive Mediennutzung beschränkt sich zunehmend auf eine Informationselite, eine intellektuelle Schicht, die viel liest, hört und schaut. Eine ganze Reihe von anderen Gesellschaftsschichten hat sich von professionellen Informationsmedien abgekehrt.

Mittlerweile ist es auch gar nicht mehr so einfach, ohne bezahltes Abonnement an Informationen heranzukommen. Mit Ausnahme der Gratiszeitungen sind alle grossen Zeitungen in der Schweiz daran, Paywalls hochzuziehen. Ihre Inhalte sind nur noch für zahlende Abonnenten zugänglich. Das gilt auch für die Inhalte über die Pandemie. Die «New York Times» hält das anders: Die Zeitung hat Informationen rund um das Thema Coronavirus frei für alle zugänglich gemacht und so einen Beitrag zur besseren Information der Bevölkerung geleistet. Wir sind aus einem Grund in der Schweiz besser dran: Wir verfügen mit der SRG und einem Netz von Lokalfernsehstationen über einen medialen Service Public. Wir sehen jetzt in der Pandemie, dass es eine starke SRG für eine gute Information der Bevölkerung braucht. Es ist in diesem Zusammenhang interessant, dass genau jene politischen Parteien, die für mehr Eigenverantwortung plädieren, auch für einen Abbau beim medialen Service public votieren.

Auch wenn Medien breit verfügbar wären – Medienkonsum setzt ein Mindestmass an Bildung voraus. Wir haben in der Schweiz erschreckend viele funktionale Analphabeten und viele Menschen sind keiner Landessprache mächtig. Wenn wir verlangen, dass die Bevölkerung Verantwortung übernimmt, müssen wir dafür sorgen, dass auch diese Menschen einen niederschwelligen Zugang zu guten und sachlichen Informationen haben. Die Informationen müssen also auf Deutsch auch in einfacher Sprache zugänglich sein – und sie müssen in vielen weiteren Sprachen verbreitet werden.

Die Ebene des «Warum»

So viel zur Informationsebene, also zum «Was» und zum «Wie». Es bleibt das «Warum». Es bleibt also die Frage, warum die Bürgerinnen und Bürger eigenverantwortlich handeln sollen. Warum sie sich engagieren, warum sie sich und andere schützen sollen. Es ist die Frage nach dem Sinn, nach Ethik und Moral. Diese Frage nach dem Sinn kann man nicht von einer wissenschaftlichen Taskforce beantworten lassen. Die Ethik hat keine Fürsprecher in Wirtschaftsverbänden. Die Moral bringt keinen Umsatz. Vielleicht ist es sogar umgekehrt: Die Konsumenten versuchen, das Sinn-Loch, das sie spüren, mit Konsum zu stopfen. Konsum erfüllt die Menschen aber nur sehr vorübergehend, deshalb müssen die Konsumenten immer weiter konsumieren. Und das ist natürlich im Interesse der Wirtschaft. Oder ist das zu zynisch gedacht?

Wenn der Bundesrat dazu aufruft, eigenverantwortlich zu handeln und alle nicht essenziellen Kontakte und Tätigkeiten zu vermeiden, dann meint er damit Tätigkeiten, die der Wirtschaft etwas bringen. Soziale Aktivitäten, Kultur und Religion sind aus dieser Perspektive «nicht essenziell». Doch das ist zu kurz gedacht. Denn Sinn im Leben (und damit Moral) finden viele Menschen in genau jenen Bereichen.

Wirtschaftlich verkraftbar, aber nicht moralisch

Menschen können nicht eigenverantwortlich handeln, wenn sie darin keinen Sinn sehen. Wir brauchen in der Bekämpfung dieser Pandemie deshalb nicht nur eine hervorragende Informationsebene, die sachlich und einfach verständlich über das «Was» und das «Wie» der Pandemie aufklärt. Wir brauchen auch eine moralisch-ethische Ebene des «Warum». Kultur, Soziales und, ja: auch Religion dürfen deshalb nicht einfach als ökonomische Quantité négligeable zur Seite geschoben werden.  Genau jene Bereichen, die aus wirtschaftlicher Sicht möglicherweise «nicht essenziell» sind, genau aus diesen Bereichen können die Menschen das «Warum» schöpfen. Gerade in einer Krise. Der Regierungsrat des Kantons Bern hat heute nicht nur Bars, Clubs, Diskotheken und Tanzlokale geschlossen, sondern auch Museen, Lesesäle von Bibliotheken und Archiven, Kinos, Konzerthäuser und  Theater[3]. Er hat generell Veranstaltungen mit mehr als 15 Personen verboten, also auch Vorträge, Gottesdienste oder Lesungen. Lediglich Trauerfeiern dürfen weiterhin mit mehr als 15 Personen stattfinden. Wirtschaftlich mag das alles für die Gesellschaft verkraftbar sein, aber nicht moralisch auf dieser Ebene des «Warum».

Eigenverantwortlich handelnde Menschen sind das Ziel von Bildung und Erziehung. Kant nannte diese Menschen «mündig». Es wäre schön, wenn Staat und Politik von Eigenverantwortung nicht nur reden würden, Eigenverantwortung also nicht als Ausrede für eigenes Nicht-Handlen nutzen würden, sondern die «Erziehung zum mündigen Menschen» aktiv unterstützen würden. Mit Information, mit Bildung und mit Kultur. Dann würde Eigenverantwortung für die ganze Gesellschaft von der Ausrede zur Chance.

Basel, 23. Oktober 2020, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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Quellen

Bild: ©Daniel Jędzura – stock.adobe.com

[1] Duden, die Deutsche Rechtschreibung, vgl. https://www.duden.de/rechtschreibung/Verantwortung

[2] Siehe Simon Sinek: Start with Why. How Great Leaders Inspire Everyone to Take Action. New York: Portfolio 2009

[3] Vgl. Medienmitteilung des Regierungsrats des Kantons Bern vom 23. Oktober 2020: https://www.be.ch/portal/de/index/mediencenter/medienmitteilungen.meldungNeu.html/portal/de/meldungen/mm/2020/10/20201023_1625_gezielte_massnahmenzurbekaempfungderpandemie

6 Kommentare zu "Eigenverantwortung: Von der Ausrede zur Chance"

  1. Schön geschrieben. Könnte eine Rede von einer Kichenkanzel sein. Doch die Kirchen, ob evangelisch oder (insbesondere) katholisch sind halbleer (wie sogar CVP-Mitglied Ivo Corvini, Präsident des röm.-kath. Landeskirchenrates des Kantons Basel-Landschaft, kürzlich einräumen musste…)
    Heute regiert die kollektive Verantwortungslosigkeit. Leider.
    Man sieht es in den Chefetagen. Je verantwortungsloser, je mehr Boni. Siehe Grossbanken (CS und Co.). Man sieht es in den Verbänden (z.B. Handelskammer – überall Meinung haben; doch wenn’s „lätz“ kommt, ist man fein raus), da man als Verband (Gewerbekammer, Wirtschaftskammer usw) keiner direkten Verantwortung unterstellt ist.
    Oder Politik. Was wird da geredet unter der Bundesratskuppel; wenn’s anders kommt, z.B. bei der dem Volk angedrehten Personenfreizügikeit: ca. 8000 Zuwanderer kämen jedes Jahr, sei verkraftbar – hiess es von den „höchsten“ Stellen – gekommen ist es wahrlich anders, nämlich 80‘000 Zuwanderer pro Jahr netto sind gekommen in den letzten Jahren – wen juckts? Etliche von den Damen und Herren Stände- und Nationalräte sind immer noch im Amt am kassieren, und dies ohne Rot zu werden….
    Doch was reden wir über Grosses.
    Politik. Verbände. Firmen.
    Alles weit weg.
    Und sie sind nur Abbild vom Kleinen. Von der kleinsten sozialen Zelle, in der wir alle stecken, der Familie.
    Ein interessantes Beispiel, modern und hochgelobt, soll darlegen, was sich dort zur Verantwortungslosigkeit hin alles so ändert. Staatlich unterstützt notabene.
    Auf dem Bruderholz, am Jakobsbergholzweglein oder anders gesagt an der Reservoirstrasse befand sich Jahrzehntelang das Wasserreservoir der Stadt Basel. Daneben wirklich idyllisch und lauschig das Wasserwärter-Wohnhaus. Es wurde in Anlehnung an den Landschlössli-Stil erbaut. Darin wohnten zwei Wasserwärter-Familien. Die Männer besorgten den täglichen Unterhalt des Reservoirs, der Zuleitungen und der Filter. Verantwortung für „Ihr“ Wasserwerk. Die Frauen sorgten sich im Haus um die Wäsche, die Kinder, den zweigeteilten schönen Gemüsegarten. Die Blaumänner der Arbeiter rochen stets sauber. Verantwortung. Znüni und Zvieri nahmen die Männer zuhause ein. Verantwortlich. Die Kinder schwärmten in die nahegelegene Schule aus und lernten in gesunder „In/Out-House“-Ausgeglichenheit das Leben.
    Eigenverantwortung pur. Verantwortung – die Männer fürs Wasser, die Frauen fürs Mittagessen. Die Kinder halfen mit, wuchsen in intakter Umgebung auf und übernahmen ebenfalls kleine „Ämtli“.
    Oberuralt – so wird wohl der Tenor lauten.
    Tja, dann wird es wohl „im Heute“ besser sein?
    Die Filter, die Reservoirs, die Zuleitungen werden alle Computergesteuert, Ferngesteuert von der Zentrale aus. Kein Mann ist mehr vor Ort und muss zum Rechten schauen….
    Die Arbeiten am Computer, in der Zentrale, 24/7 Std./Tage. Verantwortlich ist der Computer.
    Aus dem Wasserwärterlandschlösschen wird z.Z. für teures Geld die „Tagesstruktur Bruderholz“ gebaut. Immer noch schön gelegen. Ideal. Die Kiddis werden morgens gebracht, mit den Wagen der Eltern. Danach verschwinden die Elterntaxis in der grauen Automasse Richtung Stadt. Nun sind sie frei. Die Kinder werden fremdbetreut. Die Verantwortung abgegeben.
    Die Betreuerinnen haben ebenfalls eigene Kinder. Die sie, bevor sie die fremden Kinder betreuen, ebenfalls in einer anderen Kita deponiert worden. Z.B. in Grenzach-Wyhlen, in Weil oder in St. Louis….
    Alle genervt von der Anfahrt wird nun die „Tagesstruktur“ durchgepeitscht.
    Alles nach Plan.
    Und so weiter, und so weiter.
    Die Verantwortungsspriale dreht sich weiter. Und hält die (Subventions-) Witschaft in Schach.
    Verantwortung?!?
    Wohl eher Chaos – dies aber zuverlässig organisiert und verwaltet.
    War das Abwartslandschösschenwohnhaus am Jakobsbergerholzweglein wirklich so oberuralt?

  2. Der Appell an die Eigenverantwortung gehört zum Spiel mit den gezinkten Karten der Manipulation. Es kommt mir vor eine doppelbödige, zynische Idee von Mächtigen und Reichen, die sich selber von Verantwortungen und Werten befreit haben, um tun oder lassen zu können, was und wie sie es wollen. Die Gewinne der Grosskonzerne und der Hochfinanz gehen auf Kosten von andern auf dieser Erde und zu Lasten unserer aller Umwelt. Wo die Ressourcen fehlen, kommt es zu Zusammenbrüchen. Der Kollaps einer Gesellschaft beginnt, wenn ihr das Vertrauen in ihre Zukunftsfähigkeit fehlt. Eine Zukunft jedoch, die mehrheitlich auf Illusionen gebaut ist, kann keine werden. Illusionen zu schüren, gehört zum Kopf-, Herz- und Handwerk der Hochfinanz. Scheusslich, wenn Medien, Politik und Wissenschaft sich dafür als Handlanger*innen einspannen lassen.

  3. „Aber Moral gilt als ökonomisch nicht essenziell, ja sogar als störend.“
    Lieber Herr Zehnder, wie um aller Welt kommen Sie zu einer solchen Aussage? Unsere Gesellschaft funktioniert nicht ohne Moral, allein schon weil nie und nimmer sämtliche Transaktionen und Interaktionen von der Polizei überprüft werden können und weil auch nicht alle moralischen Wertvorstellungen in Gesetzen kodifiziert sind. Dies gilt genauso für die Wirtschaft als Teil der Gesellschaft, die Wirtschaft funktioniert schlicht nicht ohne Moral.
    M.E. erinnert der Bundesrat genau daran, wenn er an die Eigenverantwortung appelliert. Er kann Grundprinzipien wie die AHA-Massnahmen verhängen, aber die Polizei kann unmöglich jeder und jedem zur Durchsetzung hinterherrennen. Die Umsetzung und angemessene Interpretation dieser Massnahmen liegen im Bereich der Eigenverantwortung. Wenn die Fallzahlen wieder so schnell steigen liegt das m.E. in erster Linie nicht daran, dass wir zu wenig oder die falschen Massnahmen hätten, sondern daran, dass die Massnahmen im Einzelnen nicht – oder nicht mehr – konsequent befolgt werden.
    Und was die Priorisierung angeht: wir müssen nun mal die Anzahl der menschlichen Interaktionen verringern, um das Risiko von Ansteckungen zu reduzieren. Die Priorisierung von Gesundheit, Arbeit und Bildung ist m.E. absolut sachgerecht und entspricht auch der Bedürfnispyramide: in einer Krise muss zuerst das Überleben sichergestellt werden. Abgesehen davon, wäre es schlimm um unsere Moral bestellt, wenn sie tatsächlich davon abhängen würde, ob wir (kurzfristig) ein Museum oder Konzert besuchen können.

    1. Lieber Herr Mumenthaler, so absolut zitiert, stimmt der Satz sicher nicht. Da haben Sie recht. Aber es stellt sich schon die Frage nach dem Verhältnis von Ökonomie und Moral resp. Verantwortung (und damit meine ich NICHT die KVI). Kann man mit gutem Gewissen Tabak anbauen? Kann die Schweiz mit guten Gewissen mehr Geld für die Subvention von Tabakbauern ausgeben als für die Tabakprävention? Ich habe in den letzten Tagen einige interessante Kommentare von Ökonomen gelesen, die sagen, Schutzmassnahmen seien für die Wirtschaft kurzfristig möglicherweise teuer, mittel- und langfristig aber ökonomisch lohnenswert. Ich glaube (und ich meine das nicht anklagend), Moral hat in der Ökonomie nur einen sehr begrenzten Stellenwert. Wenn es anders wäre, müsste der Staat nicht Regeln erlassen, die es ökonomisch uninteressant machen, zum Beispiel ein Auto zu verkaufen, das viele Schadstoffe emittiert.

      Die Priorisierung von Gesundheit, Arbeit und Bildung, sagen Sie, sei absolut sachgerecht. Nun ist es (resp. war es) meine Arbeit, Vorträge zu halten vor Publikum. Die Arbeit von Musikern ist es, Musik zu spielen vor Publikum. Die Arbeit von Tanja Grandits ist es, viele Gäste zu bewirten. Es ist vor dem Hintergrund des Gesundheitsschutzes absolut nachvollziehbar, dass diese Arbeiten eingeschränkt werden. Es bedeutet aber, dass Sie bei Ihrer Priorisierung entweder die Arbeit aus der Aufzählung streichen oder innerhalb der Arbeitswelt eine Priorisierung vornehmen. Ein Konzert ist verzichtbar, das Einkaufen im Souvenirladen ist unverzichtbar. Heisst: Kultur ist Schönwetterprogramm. Und dagegen wehre ich mich. Kultur ist nicht einfach eine Schönwetterveranstaltung, sondern sie macht den Menschen aus. Ist es so nachvollziehbarer?

  4. So wie hier die Diskussion um die Moral geführt wird, gehört sie zum Spiel mit den gezinkten Karten der Manipulation: Mal so, mal so … und dann wieder total anders … und dann wieder gar nicht … und immer so weiter im Kreis herum. Was zur Zeit speziell auch im Zusammenhang mit Corona abgeht, finde ich ganz und gar nicht harmlos. Vor allem auch für junge Menschen nicht: Jetzt nicht … und auch für ihre Zukunft nicht, die so keine sein kann und wird. – Laut Studien, die es schon lange zum Beispiel im Zusammenhang mit psychisch schwer kranken Menschen gibt, wird auf diese Art eine Verwirrung bewirkt, die Schizophrenie „produzieren“ kann. Eine Desorientierung, die sich sukzessive auch im Gehirn festzusetzen droht, und die u.a. mit Realitätsverlust, Wahnvorstellungen oder Störungen des Denkens verbunden sein kann. Das ist keine Verschwörungstheorie. Diese Produktion von Verwirrung findet alltäglich und weltweit statt. Sie macht mehr oder weniger absichtlich Menschen abhängig, hilflos und manipulierbar. Das fühlt sich gar nicht hoffnungsfroh-verheissungsvoll-zuversichtlich an. Aber je länger die Mehrheit die Augen und Ohren vor dieser Realität verschliesst, umso irreparabler wird der Schaden sein. – Krankheit und Tod gehören zum Leben. Achten wir darauf, dass dabei unsere Seelen heil sein und bleiben können.

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