Warum wir dem Doomscrolling verfallen sind

Publiziert am 18. März 2022 von Matthias Zehnder

Können Sie das Smartphone kaum mehr aus der Hand legen? Verfolgen Sie die Nachrichten aus der Ukraine im Minutentakt? Wechseln Sie nur noch zwischen Livetickern und Newsangeboten über den Krieg? Sie sind nicht allein: Das Phänomen heisst «Doomscrolling», also etwa «Untergangsblättern». Und das ist in diesen Tagen sehr verbreitet. Schuld ist die Evolution. Einmal mehr. Schlechte Nachrichten waren für unser Überleben als Spezies schlicht wichtiger als gute. Die Medien machen sich das seit jeher zu Nutzen und zeigen vor allem schlechte Nachrichten. Das heisst aber nicht, dass Sie sich dem Doomscrolling zum Krieg ausliefern müssen. In meinem Wochenkommentar erkläre ich Ihnen, wie unser Gehirn auf schlechte Nachrichten reagiert, wie die Medien das ausnutzen und wie Sie dem Doomscrolling entkommen können. Gerade jetzt.

Heftige Explosionen am Flughafen von Lwiw. Ukraine hofft auf neun Fluchtkorridore. Russland greift laut Pentagon zunehmend zivile Einrichtungen an. Rakete schlägt in Wohngebiet im nördlichen Teil von Kiew ein. Es sind solche Nachrichten, die derzeit unseren Alltag prägen. Wenigstens den Alltag von jenen Menschen, die Nachrichten konsumieren. Und das sind nicht wenige. Wer einmal damit begonnen hat, die Apps von «Spiegel» und «Zeit», SRF und NZZ anzuschauen, kommt fast nicht mehr davon los. Die Gefahr ist gross, dass man sich in den Nachrichtentickern und Liveblogs verliert. Dass man von einem Angebot zum Nächsten wechselt, mit dem Finger auf dem Bildschirm nach unten streicht und halb erwartungsvoll, halb ängstlich darauf wartet, dass eine neue Nachricht über den Kriegsverlauf in der Ukraine erscheint. Das ist Doomscrolling.

«Doom» heisst auf Deutsch «Verderben» und scrollen meint, den sichtbaren Bereich des Bildschirms verschieben, so wie wenn man eine Schriftrolle aufrollt. Ein deutsches Wort gibt es nicht dafür, deshalb hat es «scrollen» auch schon in den Duden geschafft. «Doomscrolling» meint nicht das verderbliche Scrollen, sondern das Scrollen nach Verderben: Viele Menschen können in Krisen nicht mehr von schlechten Nachrichten lassen. Das war schon in der Corona-Krise so, es hat sich jetzt im Krieg in der Ukraine verschärft. Warum ist das so? Und was können wir dagegen tun?

Der unheilvolle Negativitätseffekt

Doomscrolling ist keine persönliche Schwäche, sondern die Folge davon, dass unser Gehirn schlechte Nachrichten als wichtiger einstuft als gute Nachrichten. Neuropsychologen bezeichnen das als «Negativity Bias», als Negativitätseffekt: Schlechte Gefühle und schlechtes Feedback haben mehr Einfluss als gute, und schlechte Informationen werden vom Gehirn gründlicher verarbeitet als gute. Wir bilden schneller schlechte Eindrücke und Stereotypen und sie sind auch widerstandsfähiger als gute. Das ist keine neue Entdeckung: Schon in den 70er-Jahren haben Psychologen von der «Positive-Negative-Asymmetry» gesprochen: Negative Stimuli, also Nachrichten, Bilder oder andere Formen von Input, haben bei derselben Intensität eine höhere Wirkung als positive Erlebnisse. Das bedeutet: Wir nehmen schlechte Nachrichten stärker wahr als gute und wir erinnern uns besser an schlechte Nachrichten als an gute. 

Das ist ein Problem und zwar nicht nur, wenn es um Nachrichten geht. Ein schlechtes Feedback kann schwerer wiegen als neunundneunzig Lobreden. Ein feindseliges Gesicht unter den Zuhörern kann uns aus dem Konzept bringen, auch wenn links und rechts davon lauter gut gelaunte Zuhörerinnen und Zuhörer zu sitzen. Das liegt nicht etwa daran, dass die Betroffenen einfach etwas empfindlich oder zu wenig abgehärtet sind. Studien haben gezeigt, dass ein negatives Bild, etwa das Foto eines toten Tieres, mehr elektrische Aktivität im Gehirn verursacht als ein positives Bild, etwa das Foto eines Kuchenstücks. Das bedeutet: Es ist nicht eine Frage der psychischen Befindlichkeit, ob negative Nachrichten stärker wirken als positive, unser Gehirn ist neurologisch so programmiert.

Das Schlechte ist mächtiger als das Gute

Es scheint ein universelles Phänomen zu sein: Das Schlechte ist mächtiger als das Gute. Eine einzige Fliege kann die Suppe für uns ungeniessbar machen, – umgekehrt funktioniert die Sache nicht. In der Psychologie gibt es das Trauma, ein schlechtes Erlebnis, das den Betroffenen über Jahre beschäftigt und verfolgt. Ein positives Gegenstück hat das Trauma nicht, es gibt nicht einmal ein Wort dafür. Ein schlechtes Erlebnis gräbt sich ein in unser Gedächtnis – selbst das schönste Erlebnis verflüchtigt sich dagegen erstaunlich rasch. 

«Der Negativitätseffekt ist ein simples Prinzip mit alles andere als simplen Folgen», schreiben deshalb Roy F. Baumeister und John Tierney in ihrem Buch «Die Macht des Schlechten». Er führe dazu, dass wir Menschen «schreckliche Entscheidungen fällen». Der Negativitätsbias erkläre, warum Länder in Kriege stolpern und Ehepaare sich scheiden lassen. Der Negativitätseffekt «fördert Stammesdenken und Xenophobie». Er sorge für von grundlosen Ängsten geschürten Zorn unter US-Amerikanern, vergifte die Politik und sorge dafür, dass man Demagogen wählt. 

Die Evolution ist schuld. Mal wieder

Aber warum ist das so? Warum reagieren wir stärker auf schlechte Bilder und Nachrichten als auf gute? Vermutlich war diese Reaktionsweise in der Vergangenheit nützlich, um zu überleben. Wer schneller und stärker auf Gefahren reagiert, hat eine höhere Chance, sie zu überleben. Für die frühen Hominiden war es überlebenswichtig, rechtzeitig zu bemerken, dass da ein Löwe hinter dem Felsen lauert, ob das Gegenüber bewaffnet ist und wer im Kreis der Anwesenden allenfalls böse Gefühle hegt. Dagegen ist es nicht überlebenswichtig, sich die Schönheit des pfeifenden Rotkehlchens zu merken und das Lächeln auf den Gesichtern der Freunde. Unser Gehirn filtert also die vielen Eindrücke, die es von der Welt erhält. Der Filter im Gehirn lässt nur jene Informationen durch, die wichtig sind. Und wichtig war evolutionär alles, was mit Überleben zu tun hat. 

Vermutlich ist es diese Prägung, die uns heute einholt, wenn wir Nachrichten über den Krieg in der Ukraine oder über den Verlauf der Pandemie lesen. Wobei es zwischen der Coronakrise und dem Krieg einen wesentlichen Unterschied gibt: Gegen Corona konnten wir alle etwas tun. Wir konnten Masken tragen, die Hände waschen, Abstand halten und uns impfen. Gegen den Krieg können wir nichts tun. Wir können uns nur informieren. Deshalb machen wir das rund um die Uhr – und das führt zu Doomscrolling.

Only bad news are good news

Die Medien haben längst darauf reagiert, dass schlechte Nachrichten besser rezipiert werden als gute. Davon zeugt die alte Journalistenweisheit: Only bad news are good news. Weil schlechte Nachrichten, Schlagzeilen über Gewalt, Vulkanausbrüche, Erdbeben, Waldbrände, Unfälle und Verbrechen den Schutzfilter unseres Gehirns problemlos durchdringen, bringen die Medien überproportional viele solche Meldungen. Das gilt ganz besonders im Internet, wo sich das mediale Angebot weniger nach der Relevanz und dem tatsächlichen Geschehen richtet, als nach den Klicks der Konsumentinnen und Konsumenten. 

Das hat fatale Folgen, weil es zu einem Verfügbarkeitsfehler führt: Weil nur schlechte Nachrichten über die Welt zur Verfügung stehen, schätzen wir den Zustand der Welt schlechter ein, als er ist. Das hat der schwedische Arzt und Statistiker Hans Rosling in seinem Buch «Factfulness» auf eindrückliche Weise gezeigt. Mit Befragungen auf der ganzen Welt hat er beweisen können, dass wir aufgrund der schlechten Nachrichten in den Medien systematisch die Gefahren auf der Welt überschätzen und den Entwicklungszustand der Welt unterschätzen. Das gilt auch für den Krieg in der Ukraine. Die Medien zeigen uns vor allem Nachrichten über Gefechte, Raketenangriffe und Bombenabwürfe. Wie die Menschen einander helfen, wie sie mutig füreinander einstehen, das erfahren wir viel weniger.

Aber es gibt sie, die guten Nachrichten. Aus der Ukraine, aber auch aus Russland. Zum Beispiel die Nachricht darüber, dass die russische TV-Journalistin Marina Owsjannikowa live in den Abendnachrichten des ersten Programms mit einem Plakat in der Hand gegen den Krieg protestierte. Für mich ist sie so etwas wie ein moderner Winkelried, – ich habe deshalb ein Bild ihrer Protestaktion zur Illustration dieses Kommentars gewählt. Und natürlich gibt es gute Nachrichten über den Einsatz des Westens. Es ist beeindruckend und berührend, wie viele Menschen sich für geflüchtete Ukrainerinnen und Ukrainer einsetzen. Mila Kuni und Ehemann Asthon Kutcher haben mehr als 30 Millionen Dollar Spenden für die Ukraine eingeworben. Arnold Schwarzenegger hat sich in einer zehnminütigen Videobotschaft (mit russischen Untertiteln) an seine «russischen Freunde» gewendet, um ihnen «die Wahrheit» zu sagen. Und natürlich die vielen Menschen in Polen, in Deutschland, in vielen anderen Ländern und auch in der Schweiz, die ganz selbstverständlich ukrainische Geflüchtete bei sich zu Hause aufnehmen. Es gibt auch Gutes auf der Welt. 

Beherrschen Sie deshalb Ihre steinzeitlichen Instinkte und lassen Sie sich nicht zum Doomscrolling verführen. Bloss: Wie soll das gehen? Drei konkrete Tipps:

  1. Informieren Sie sich über den Krieg in der Ukraine – aber ein- oder zweimal am Tag genügt. Wenn Sie gute und sachliche Informationen per Podcast haben möchten, habe ich ihnen hier die besten sachlichen Nachrichtenpodcasts über den Krieg in der Ukraine zusammengestellt. 
  2. Sie können Ihr Gehirn nicht abschalten, das geht nicht. Aber Sie können dafür sorgen, dass Ihr Kopf eine Pause kriegt vom Krieg. Zum Beispiel mit guter Musik, am besten, indem Sie selber Musik machen. Oder mit Meditation, mit Tai Chi, mit einem Waldlauf oder einem Spaziergang, mit Gewichtheben oder Boxen, einfach mit einer Aktivität, die sie wieder mit Ihrem Körper vereint und die dazu führt, dass Sie sich wieder selber spüren.
  3. Suchen Sie gezielt gute Nachrichten. Wie die Nachricht vom Protest der russischen Fernsehjournalistin Marina Owsjannikowa. Speichern Sie diese Nachrichten oder drucken Sie sie aus. Legen Sie sich einen Ordner an mit Good News. Versuchen Sie, jeden Tag mindestens eine gute Nachricht abzulegen.

Sie werden erstaunt sein, wie sich schon nach wenigen Wochen Ihr Weltbild verändert. Denn es gibt nichts Gutes, ausser: Man sieht es.

Basel, 18. März 2022, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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PPS: Wenn Sie den Wochenkommentar nur hören möchten, gibt es jetzt hier eine Audioversion (noch im Experimentalstadium). Hier der Link auf die Apple-Podcast Seite oder direkt auf die Episode:


Quellen

Bild: © KEYSTONE/EPA/DSK

Baumeister, Roy F. (2020): Die Macht des Schlechten. Frankfurt/New York: Campus Verlag.

Baumeister, Roy F.; Bratslavsky, Ellen; Finkenauer, Catrin und Vohs, Kathleen D. (2001): Bad is Stronger than Good. In: Review of General Psychology 5/4. S. 323–370. doi:10.1037/1089-2680.5.4.323. [10.1037/1089-2680.5.4.323; 18.3.2022].

Hebel, Christina (2022): TV-Journalistin Marina Owsjannikowa»Ich bin jetzt der Feind Nummer eins hier«. In: DER SPIEGEL. [https://www.spiegel.de/ausland/russland-interview-mit-tv-journalistin-marina-owsjannikowa-ueber-ihren-protest-a-b596557d-8302-4e34-a88e-5c00d4a91b44; 18.3.2022].

Lazarus, John (2021): Negativity bias: An evolutionary hypothesis and an empirical programme. In: Learning and Motivation 75. S. 101731. doi:10.1016/j.lmot.2021.101731. [10.1016/j.lmot.2021.101731; 18.3.2022].

Lewicka, Maria; Czapinski, Janusz und Peeters, Guido (1992): Positive-negative asymmetry or ‘When the heart needs a reason’. In: Eur. J. Soc. Psychol. 22/5. S. 425–434. doi:10.1002/ejsp.2420220502. [10.1002/ejsp.2420220502; 18.3.2022].

Rosling, Hans (2018): Factfulness. Berlin: Ullstein.

Schwarzenegger, Arnold (2022): I Have a Message for My Russian Friends. In: The Atlantic. [https://www.theatlantic.com/ideas/archive/2022/03/schwarzenegger-russia-ukraine-war-message/627100/; 18.3.2022].

Spiegel (2022): Ashton Kutcher Und Mila Kunis Werben 30 Millionen Dollar Für Die Ukraine Ein:»Wir Sind überwältigt«. In: DER SPIEGEL. [https://www.spiegel.de/panorama/leute/ashton-kutcher-und-mila-kunis-werben-30-millionen-dollar-fuer-die-ukraine-ein-wir-sind-ueberwaeltigt-a-fed9c487-73fc-43e9-84af-f2ea5eab3843; 18.3.2022].

The Decision Lab (2022): Negativity Bias. In: The Decision Lab. [https://thedecisionlab.com/biases/negativity-bias; 18.3.2022].

Zehnder, Matthias (2017): Die Aufmerksamkeitsfalle. Basel: Zytglogge.

2 Kommentare zu "Warum wir dem Doomscrolling verfallen sind"

  1. „Man“ sagt…, „wir“ sind dem…..= Verallgemeinernd (und gefährlich).
    Hoffentlich ist die nicht die ganze Allgemeinheit dem „Doomscrolling“ (neues, unbekanntes, schönes deutsches Wort) verfallen.
    Einmal am Tag die traurigen News gucken reicht für mich. Täten dies alle, bliebe mehr Zeit zum Beten, Frieden senden, Meditieren, Stille und Inne halten. Kann man übrigens auch sehr gut alleine im Kleinen, im Tram, auf der Autobahn, im Imbissrestaurant – wirkt genau so wie Gutmenschen-Medienwirksam-Überhöht gross inszeniert in Kirchen, Demos, Konzertsälen, Rathausflaggen und teuren Lichtprojektionen…
    Wenn, ja wenn man sich Zeit dafür nimmt und seine Gedanken wirken lässt – und nicht dauernd aufs Handy glubscht, welches heute wohl als „Narrenkastl“ von der Gruppe Jon Fox trefflich bezeichnet würde (damals meinten sie damit noch den Fernseh‘)…..
    Sehnsüchtiger Narrenkastel-Gruss von einer schöneren, friedlicheren, freieren, lieblicheren, bunteren und besseren Welt um 1986

  2. Der Lärm der Medien gehört zum Sound der Angst, die in den Köpfen herrscht. – Mit und in den Füssen die Kraft der Erde wahrnehmen. Sie durch den Körper strömen lassen. Im Grunde gut sich aufrichten. Mit Rückgrat aufrecht und aufrichtig, wahrhaftig und wirklich in der Welt sein. Die Angst und das Chaos aus dem Kopf raus lassen. Ihn für das Licht des Himmels frei und offen halten. Mit Herz, Kopf, Hand und Fuss friedvoll und mit Würde durchs Leben gehen. Hier und jetzt: für sich, und auch für und mit andern. Gemeinsam anstatt einsam. Liebe zum Leben statt Angst vor dem Tod.

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