Digitale Medien führen nicht zu Einsamkeit. Im Gegenteil.

Publiziert am 4. Mai 2018 von Matthias Zehnder

Diese Woche war ich zu Gast im «Club» auf SRF. Anlass war das neue Buch des deutschen Hirnforschers und Psychiaters Manfred Spitzer über Einsamkeit. Er sagt: Einsamkeit sei eine Krankheit, die schmerzhaft, ansteckend und tödlich sein könne. Insbesondere förderten heute die Digitalisierung und ganz besonders die Sozialen Medien die Vereinsamung. Damit bin ich nun gar nicht einverstanden. Sicher: Masslos gebraucht und also missbraucht können digitale Kommunikationsmedien schädlich sein. Insgesamt aber bringen sie uns näher zusammen. Deshalb: Eine kleine Widerrede.

Einsamkeit ist eine tödliche Krankheit und wesentliche Schuld daran haben die digitalen Medien. Das behauptet der deutsche Psychiater Manfred Spitzer, der in der Vergangenheit immer wieder Schlagzeilen mit Büchern gemacht hat, in denen er sich gegen die Digitalisierung richtete. Mit Büchern wie «Vorsicht Bildschirm! Elektronische Medien, Gehirnentwicklung, Gesundheit und Gesellschaft» (2002) oder «Digitale Demenz. Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen» (2012) schreibt er seit Jahren mit steilen Thesen gegen die Digitalisierung an. Auch im neusten Buch über die Einsamkeit[1] kriegt der Computer sein Fett weg.

Zunächst aber behauptet Spitzer, dass Einsamkeit eine grassierende Krankheit sei, die immer mehr um sich greife. Er führt dafür verschiedene Begründungen an. Eine davon: die Digitalisierung. Dazu später mehr. Eine weitere: Die Urbanisierung. Immer mehr Menschen leben in Städten – und immer mehr Menschen leben da allein. Spitzer nennt Zahlen für Deutschland, der Trend gilt aber auch in der Schweiz: Seit 1970 hat sich die Zahl der Einpersonenhaushalte in der Schweiz verdreifacht.[2] In gut einem Drittel der rund 3.7 Millionen Privathaushalte in der Schweiz lebt nur eine Person. Das entspricht 16 % der Bevölkerung.[3] In Basel sind die Zahlen noch höher: Hier waren 2017 46 % der Haushalte Single-Haushalte.[4]

Auch Singles können glücklich sein

Bloss – was beweist das? Das Bundesamt für Statistik erwartet, dass der Trend zum Einpersonenhaushalt weiter anhält: Bis im Jahr 2045 soll die Zahl der Alleinlebenden in der Schweiz von aktuell 1,3 auf 1,7 Millionen Menschen steigen. Dann wären im Jahr 2045 38 % aller Haushalte lediglich von einer Person bewohnt. Das BFS nennt als Gründe für den kontinuierlichen Anstieg der kleineren Haushalte die rückläufigen Geburtenzahlen und die höhere Lebenserwartung. Immer mehr junge Erwachsene leben allein und vor allem Frauen leben nach dem Tod ihres Mannes alleine weiter.

Die Menschen leben also häufiger allein – aber einsam fühlen sie sich deswegen nicht. Laut der Gesundheitsbefragung des Bundesamts für Gesundheitswesen fühlen sich Zwei Drittel der Schweizerinnen und Schweizer nie einsam, ein Drittel manchmal, 3 % ziemlich häufig, 2 % fühlen sich sehr häufig einsam.[5] Einsamkeitsgefühle haben insgesamt in den letzten Jahren abgenommen – und sie nehmen laut dieser Befragung im Alter eher ab. Unterschiede ergeben sich aber zwischen Schweizern und Migranten: Wer in der Schweiz lebt, aber im Ausland geboren ist, fühlt sich signifikant häufiger einsam.

Es geht nicht um Alleinsein, es geht um Abgeschnittensein

Das zeigt recht deutlich: Die Frage ist nicht, mit wie vielen Menschen jemand zusammenlebt. Auch wer alleine lebt, kann glücklich sein und viele Freunde haben. Unglücklich und einsam fühlt sich, wer sich abgeschnitten fühlt von seinen Sozialkontakten. Es ist kein Zufall, dass der Anteil derer, die sich einsam fühlen, unter den im Ausland geborenen deutlich höher ist. Migranten fühlen sich eher abgeschnitten von ihren sozialen Beziehungen und leiden darunter, dass sie auf ihr soziales Umfeld verzichten müssen.

Nun sagt Manfred Spitzer aber: Digitale Medien machen einsam. Er schreibt zum Beispiel, dass sich häufiger einsam fühlt, wer die sozialen Medien täglich mehr als zwei Stunden nutzt. Spitzer schreibt: Soziale Medien schaden der Gesundheit. Allerdings macht Spitzer in diesem Fall aus einer Korrelation eine Kausalität: Es ist gut möglich, dass sich einsamer fühlt, wer häufig soziale Medien nutzt – aber vielleicht ist die Einsamkeit nicht die Folge der Nutzung, sondern ihre Ursache, es nutzt also häufig soziale Medien, wer sich einsam fühlt? Auch Spitzer gibt zu, dass es diese Möglichkeit gibt –  nur wischt er sie sofort vom Tisch und ist der Meinung, dass die sozialen Netzwerke schädlich seien.

Digitale Medien als Weg aus der Einsamkeit

Sicher: Im Übermass genutzt sind Facebook und Twitter garantiert schädlich. Und je jünger die Kinder, desto eher sollen sie bitte draussen spielen, statt am Computer zu sitzen. Aber im Übermass ist auch Lesen und Wassertrinken schädlich. Das Problem ist nicht das Lesen oder Facebook, sondern das Übermass – oder, wie Paracelsus sagte: Die Dosis macht das Gift. Wenn es so wäre, dass soziale Medien einsam und unglücklich machen würden, dann hätte das in den Gesundheitsdaten der Schweiz längst heftige Spuren hinterlassen müssen. Denn Schweizer nutzen die sozialen Medien sehr intensiv. 93 % der Schweizerinnen und Schweizer besitzen ein Smartphone.[6] Laut dem Digi-Monitor, einer repräsentativen Studie der Igem,[7] haben 2017 in der Schweiz 72 % der Bevölkerung über 15 Jahren WhatsApp genutzt, 45 % nutzten Facebook, 21 % nutzten Instagram. Die Zahlen sind schon seit mehreren Jahren derart hoch, dass sie Einfluss auf die Gesundheitsstatistik hätten, wäre der Zusammenhang zwischen der Nutzung digitaler Medien und etwa Einsamkeitsgefühlen so stark, wie Manfred Spitzer das behauptet.

Ich glaube deshalb: Das Gegenteil ist wahr. Wer heute keinen Zugang zu digitalen Medien, insbesondere zu WhatsApp hat, schliesst sich selber aus der Gesellschaft aus. Ohne WhatsApp sind Kinder und Jugendliche ab etwa elf, zwölf Jahren von ihren sozialen Kontakten abgeschnitten und sind von der Kommunikation mit ihren Kolleginnen und Kollegen ausgeschlossen. Das führt rasch zu Einsamkeit. Früher, als es noch keine Smartphones gab, haben wir uns jeweils um eine bestimmte Uhrzeit an einem bestimmten Ort getroffen. Ein beliebter Ausgangspunkt in Basel war etwa die Telefonkabine auf dem Barfüsserplatz. Jede Stadt hatte solche Treffpunkte. Wer nicht zum richtigen Zeitpunkt da war, hatte keinen Anschluss an seine Gruppe.

Ohne WhatsApp geht es heute nicht mehr

Heutige Jugendliche dagegen mäandern durch die Stadt: Sie sprechen sich situativ per WhatsApp ab, teilen sich gegenseitig mit, wo sie gerade sind – und sie halten sich dabei oft mehrere Optionen offen oder wechseln im Laufe des Abends die Gruppe. Möglich ist das nur, weil sie sich auf einfache Art und Weise verständigen können. Ohne diese Verständigungsmöglichkeit per WhatsApp verliert ein Jugendlicher den Anschluss an seine Peers sofort. Das gilt auch für die Schule: Der Klassenchat auf WhatsApp hat längst den Klassenalarm abgelöst. Ja, im Klassenchat geben sich die Schülerinnen und Schüler gegenseitig Tipps für die Hausaufgaben, Lösungen werden herumgereicht, mitunter mutiert der Klassenchat zum elektronischen Nachhilfeunterricht. Mittlerweile bestätigen Studien (die Spitzer nicht zitiert), dass Messenger wie WhatsApp den Dialog mit Familie und Freunden fördert.[8] Laut der Studie wissen 65 % der Befragten durch Messenger eher darüber Bescheid, wie es ihren Freunden und Bekannten geht.

Im Vergleich zu heutigen Jugendlichen waren wir damals kommunikative Holzhacker. Klar: Im Notfall konnte man auf das schwarze Wandtelefon mit dem gekringelten Kabel zurückgreifen – musste sich aber bewusst sein, dass die ganze Familie das Telefongespräch mithören konnte. Resultat: Wir hatten untereinander viel weniger Kontakt, tauschten uns weniger aus über Hausaufgaben, Lehrer und die anderen Widrigkeiten des Lebens – waren also einsamer in unserem Schülersein.

Digitale Kommunikation als Chance

Nein, WhatsApp und andere digitale Medien sind keine Allheilmittel. Aber es ist genauso dumm, sie einfach in Bausch und Bogen abzulehnen. Ich glaube vielmehr, die ablehnende Haltung von uns Erwachsenen ist darauf zurückzuführen, dass wir diese Medien nur aus der Elternperspektive kennen. Dafür, dass man als Kind mal von einem Baum fällt oder als Jugendlicher in den Ausgang geht, dafür haben wir Verständnis, weil wir es selbst auch erlebt haben. Dass man mit seinen Kollegen chattet und sich gegenseitig per Instagram und Facebook auf dem Laufenden hält, dafür fehlt uns das Verständnis, weil wir es selbst nicht erlebt haben. Das ist aber nicht das Problem der digitalen Medien – das ist das Problem von uns Erwachsenen.

Was tun, wenn einem die Erfahrung fehlt? Hier finden Sie fünf Tipps für einen sinnvollen Umgang mit sozialen Medien und digitaler Kommunikation – für Ihre Kinder, oder für Sie selbst:

  • Mach nur etwas aufs Mal. Konzentriere Dich auf das, was Du gerade machst: fokussier Dich.
  • Leg das Handy bewusst immer mal wieder weg. Beim Essen am Familientisch gilt bei uns Handyverbot – manchmal ist es auch gut, das Handy in einen anderen Raum zu legen, wenn man sich auf ein Buch oder eine Matheaufghabe konzentrieren will oder wenn man sich ganz einfach erholen möchte.
  • Schreib online oder auf dem Handy nie etwas, was Du nicht ausdrucken und schriftlich Deinen Kollegen abgeben könntest. Es mag sich wie mündliche Kommunikation anfühlen – ein Chat bleibt schriftlich, er lässt sich abspeichern oder am Bildschirm fotografieren. Lass deshalb immer auch etwas Vorsicht walten.
  • Nutz soziale Medien nicht an Stelle von richtigen Begegnungen, sondern um die richtigen Begegnungen zu organisieren.
  • Bei aller Vorsicht: Nutz die sozialen Medien zur Kommunikation –  und zwar nicht nur mit Gleichaltrigen. Warum nicht mit Omi skypen oder einen Onkel-und-Tanten-Chat auf WhatsApp gründen? Geht doch!

Basel, 4. Mai 2018, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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[1] Manfred Spitzer: Einsamkeit – die unerkannte Krankheit; schmerzhaft, ansteckend, tödlich. Droemer/Knaur, 320 Seiten, 23.10 Franken; ISBN 978-3-426-27676-1 – das E-Book gibts hier: https://amzn.to/2JNxsoX

[2] Vgl. https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bevoelkerung/familien/formen-familienleben.html

[3] Vgl: https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bevoelkerung/stand-entwicklung/haushalte.html

[4] Vgl. http://www.statistik.bs.ch/zahlen/tabellen/1-bevoelkerung/haushalte.html

[5] Vgl. https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/gesundheit/erhebungen/sgb.assetdetail.1661806.html

[6] Vgl. https://www.comparis.ch/comparis/press/medienmitteilungen/artikel/2017/digital/smartphone-modelle/applesamsung

[7] Vgl. https://www.igem.ch/digimonitor-studie-mediennutzung/

[8] Vgl. Repräsentative Studie des deutschen Kantar TNS-Instituts, http://www.tagblatt.ch/nachrichten/panorama/studie-whatsapp-foerdert-kommunikation;art253654,5114174

5 Kommentare zu "Digitale Medien führen nicht zu Einsamkeit. Im Gegenteil."

  1. Erneut ein spannendes Thema. Wie mir scheint, fokussiert dieser Wochenkommentar vor allem die Frage einer möglichen individuellen Vereinsamung, und was die digitalen oder sogenannten sozialen Medien dafür oder dagegen bewirken (können). Mich beschäftigt mehr der gesellschaftliche Zusammenhalt. Wenn er für Kopf, Herz, Hand und Fuss fehlt, kann das zu einer psychosozialen Verarmung im Sinne von mangelnder Geborgenheit im Lebensraum führen. Soziale Medien sind auch hier kaum eine Ursache, aber vielleicht doch ein Instrument, das eine trügerische Kompensationsmöglichkeit bieten kann.

  2. Ich zitiere aus einem Lied (Völlig vernetzt) von Udo Jürgens des Jahres 2008 (!). Besser kann man es nicht beschreiben (besingen…)
    ***
    Ich bin völlig vernetzt und völlig verlor’n
    von Technik umzingelt bis über die Ohr’n
    Bin fernbedient, und zwar komplett
    und sowas von Internet.

    Bin völlig vernetzt, die Handys vibrier’n
    weil alle mich per SMS bombardier’n
    drück‘ ich in der Hektik dann irgendwo drauf
    geht draußen am Parkplatz mein Kofferraum auf

    Im Auto geht’s weiter, der Fortschritt läßt grüßen
    der Gurt, er stänkert, ich soll ihn schließen
    und die Navitante meckert mich an
    ich soll gefälligst rechts ‚rum fahr’n

    Völlig vernetzt, ich würd‘ dich so gern seh’n
    Völlig vernetzt, doch ich muß leider fernseh’n
    Völlig vernetzt, komm in die Wunderwelt Online
    Völlig vernetzt, HIER LERNST DU SCHNELL DAS ALLEINSEIN

    Die tollen Geräte, SIE WIRKEN SO HARMLOS
    doch mach ich was falsch, dann geht der Alarm los
    Die ganze Straße, das wollte ich nicht,
    die ist auf einmal ohne Licht.

    Ja völlig vernetzt und völlig im Eimer
    keinen Stress, so die Technik zwischen Salzburg und Weimar
    Nun fragst du auch noch, ob ich mich zu dir setz‘
    ich fürcht‘, ich geh‘ jetzt auch noch dir ins Netz.

    Völlig vernetzt, ich würd‘ dich so gern seh’n
    Völlig vernetzt, doch ich muß leider fernseh’n
    Völlig vernetzt, komm in die Wunderwelt Online
    Völlig vernetzt, HIER LERNST DU SCHNELL DAS ALLEINSEIN.

  3. Ja, es muss nicht einsamer machen, wenn man sich in Chats austauscht. Aber dass man sich unverbindlich an einem Abend anderen Gruppen anschliesst, weil das ja vielleicht interessanter ist, führt zur Unverbindlichkeit. Ich kann ja auch im letzten Moment noch absagen….
    Gibt es noch spontane Gespräche in Zügen, Bussen und Trams? Jeder ist beschäftigt und nimmt seine Umgebung kaum noch wahr. Das ist schade.
    Und noch was anderes…. Im Kommentar Lehrer als Widrikkeit zu bezeichnen bringt unserer Gesellschaft auch nicht viel, das finde ich depektierlich und vor allem sehr unnötig!!!

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