Digitale Ethik: «Was soll ich tun?»

Publiziert am 25. August 2023 von Matthias Zehnder

Vanille oder Erdbeere? Informatik oder Psychologie? Max oder Moira? Das Leben stellt uns ständig vor Entscheidungen. Immer mehr dieser Entscheidungen werden am Computer getroffen – und immer öfter entscheidet nicht der Mensch, sondern ein Algorithmus. Der kann beim besten Willen nicht aus dem Bauch heraus entscheiden, sondern braucht klare Vorgaben. Das ist ein Anwendungsfeld der digitalen Ethik. Diese Woche habe ich an der Berner Fachhochschule wieder meinen Einführungskurs in die digitale Ethik gehalten. Beim Unterrichten ist mir ein zentrales Problem aufgefallen, das uns alle betrifft. Diese Woche denke ich deshalb mit Ihnen über Kants Frage «Was soll ich tun?» nach. Kleiner Spoiler: Es geht dabei um Freiheit.

Auf Managementetagen taucht das Wort «Philosophie» meist nur als «Unternehmensphilosophie» auf: Gemeint sind damit die grundlegenden Werte und Ziele eines Unternehmens. Sie sollen den Firmen helfen, eine positive Reputation aufzubauen und sich von der Konkurrenz zu differenzieren. Google, Apple oder IKEA gelten als Firmen mit einer ausgeprägten Unternehmensphilosophie. Allerdings hat das hat mit der «richtigen» Philosophie etwa so viel zu tun wie der Spruch auf einem Glückskeks mit Aristoteles. Mit anderen Worten: Wer gestandenen Managern mit Philosophie kommt, kann nicht auf viel Aufmerksamkeit hoffen. Zu Unrecht, wenn ich das anmerken darf. Aber dazu gleich mehr.

Immanuel Kant, einer der wichtigsten Philosophen der Neuzeit, hat das Feld der Philosophie mit drei Fragen umrissen: 1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was darf ich hoffen? Gerade heute sollten uns alle drei Fragen zu denken geben. Im Alltag, auch in den Unternehmen, ist es aber vor allem die zweite Frage, die zunehmend für Probleme sorgt: Was soll ich tun? Für Kant ist dies die moralische Frage. «Was soll ich tun?» meint für ihn: Was ist das moralisch Richtige? Wie verhalte ich mich ethisch gut?

Umsatz kommt vor Moral

Nun mag so mancher Manager unwirsch antworten: Umsatz kommt vor Moral. Gut ist, was Rendite bringt. Ganz kurzfristig mag das stimmen. Aber wenn der Manager auch nur ein bisschen über sein Excel-Sheet hinausdenkt, wird er sich mit Unternehmensethik beschäftigen müssen. Auch davon abgesehen gibt es zwei Gründe, warum die Frage «Was soll ich tun?» besonders aktuell ist.

Der erste Grund betrifft vor allem Unternehmen, indirekt aber uns alle: Immer häufiger werden Entscheidungen an Algorithmen oder an die künstliche Intelligenz delegiert. Die Programme können Daten zwar effizient verarbeiten, sie benötigen dafür aber explizite Anweisungen und Entscheidungskriterien. Das bedeutet: Unternehmen müssen sich über ihre Entscheidungsgrundlagen im Klaren sein. Das ist gar nicht so einfach, denn im Alltag haben viele Entscheidungen nicht direkt mit Umsatz und Ertrag zu tun. Woher also sollen die Grundlagen für diese Entscheidungen kommen? Hier kommt die Ethik ins Spiel.

Unzählige Entscheidungen

Der zweite Grund betrifft jeden einzelnen von uns: Wir alle müssen jeden Tag unzählige Entscheidungen treffen. Manche sind banal: Vanille oder Erdbeere? Andere sind weitreichender: Soll ich Psychologie oder Informatik studieren? Manche prägen das Leben: Max oder Moira? Diese Entscheidungen sind schwieriger geworden, weil uns allen sehr viel mehr Möglichkeiten offen stehen als unseren Eltern oder Grosseltern.

«Was soll ich tun?» Wie soll ich mich entscheiden? In meiner Ethikvorlesung zeige ich das Bild einer Strassenkreuzung, um diesen Punkt der Entscheidung zu visualisieren. Was brauchen wir, um zu entscheiden, ob wir nach links oder nach rechts gehen? Die erste Antwort der Studierenden ist immer: Informationen über die Wege. Das ist richtig. Es gibt aber zwei Aspekte, die noch grundlegender sind.

Das Ziel: das Richtige

Wir brauchen erstens ein Ziel: Ohne Ziel überlassen wir die Fahrt dem Zufall. Auch Fragen wie: «Vanille oder Erdbeere?», «Psychologie oder Informatik?» entscheiden wir im Hinblick auf ein Ziel. Ethisch formuliert: Wir entscheiden uns für das, was wir das «Richtige» oder das «Gute» halten. Bei «Vanille oder Erdbeere?» ist das Gute jene Eissorte, die uns mehr Genuss verspricht.

Sokrates und Aristoteles setzen diesem blossen Genuss die Eudaimonia gegenüber. Sokrates versteht darunter das vollkommene, das absolute Gute. Für ihn ist das etwas Metaphysisches. Es ist zwar eine Realität, aber jenseits unserer erfahrbaren Welt. Aristoteles spricht zwar auch vom Guten an sich, aber er definiert dieses Gute praktischer. Er sagt, dass das Gute nur das sein kann, was für den Einzelnen und für die Gemeinschaft dasselbe ist. Sichtbar wird das Gute an der Gemeinschaft. Das schliesst die blosse Orientierung am eigenen Lustgewinn aus, weil die Gemeinschaft davon nichts hat.

Gut ist, was gut ist für die Gemeinschaft

Das ist eine sehr moderne Sichtweise: Gut ist nicht nur, was für mich gut ist, es muss auch für die Gemeinschaft gut sein. Damit könnte sich vielleicht auch unser Manager auf der Teppichetage anfreunden, auch wenn er über Aristoteles und das Wort «Eudaimonia» den Kopf schüttelt: Moderne Firmen richten ihre Unternehmensziele nicht nur danach aus, was einer einzelnen Abteilung oder gar einem einzelnen Manager nützt, im Vordergrund steht das Wohl des ganzen Unternehmens – oder seiner Aktionäre. Und manchmal denken auch Unternehmen über die eigene Bilanz hinaus.

Wer heute entscheiden muss, ob er mit dem Flugzeug oder der Bahn nach London, Wien oder Berlin reist, achtet nicht nur auf die persönlichen Kosten, die Dauer und den Komfort der Reise, sondern auch auf die Umweltbilanz. Deshalb nehmen heute nicht nur junge Frauen, sondern auch mittelalte Manager lieber den Zug als das Flugzeug. Es sei denn, die Reise führe nach Berlin, aber das liegt an der Deutschen Bahn.

Die zweite Bedingung für den Entscheid

Wir brauchen also erstens ein Ziel, wenn wir uns entscheiden. Ob Unternehmensertrag oder aristotelische Eudaimonia – wie der Nordpol für den Kompass muss es etwas geben, an dem wir uns orientieren. Wer sich entscheidet, braucht aber noch etwas Zweites, das gerne übersehen wird: Freiheit. Eine Entscheidung findet nur statt, wenn die Wahl zwischen den Möglichkeiten in Freiheit getroffen wird.

So weit, so logisch. Die Frage ist, was das heisst. In der Realität stehen wir immer öfter nicht an einer einfachen Weggabelung, sondern vor einer Situation, die an die London Underground erinnert: Die «Tube» mit ihren 272 Stationen ist ein kompliziertes Geflecht aus Linien, Tunneln, Fusswegen und Stationen. Wir stehen irgendwo in diesem Komplex und müssen uns zwischen vielen verschiedenen Optionen entscheiden.

Freiheit setzt Kompetenz voraus

Entscheidungsfreiheit haben wir nur, wenn wir die nötige Kompetenz haben, eine Entscheidung zu fällen. Wenn wir uns zwischen Vanille und Erdbeere entscheiden müssen, können wir uns nur entscheiden, wenn wir wissen, wie Vanille und Erdbeere schmecken. Natürlich können wir auch blind zu einer Sorte greifen, dann ist es aber keine freie Entscheidung, dann unterwerfen wir uns dem Zufall. Im Fall der London Underground ist die «Tube Map», der Plan aller Linien, eine wichtige Grundlage.

Das Problem ist, dass in einer globalisierten und digitalisierten Welt die Zahl der Wahlmöglichkeiten dramatisch angestiegen ist. Wer heute den Fernseher einschaltet, hat nicht mehr nur die Wahl zwischen Schweizer Fernsehen, ARD und ZDF, sondern es stehen über 300 Fernsehsender zur Verfügung. Beim Radio ist es ähnlich, vom Internet mit seinen Webseiten, Podcasts und Blogs ganz zu schweigen. Wie kann ich da frei entscheiden, wenn ich nicht die Kompetenzen habe, eine Entscheidung zu treffen?

Die Multioptionsgesellschaft

Das ist das Problem, das unsere Zeit prägt: Wir haben so viele Optionen wie nie zuvor. Der Schweizer Soziologe Peter Gross spricht deshalb in seinem gleichnamigen Buch von der «Multioptionsgesellschaft». Er sagt, die moderne Gesellschaft sei durch ein Übermass an Optionen und Wahlmöglichkeiten geprägt. Weil jeder und jede so viele Optionen hat, führt das zu Entscheidungsunfähigkeit.

Das ist ein paradoxer Effekt, der in der Literatur als «choice overload» bezeichnet wird. Im Supermarkt zum Beispiel führt mehr Auswahl nicht automatisch zu mehr Umsatz. Zu viele Marmeladensorten führen dazu, dass der Kunde überfordert ist und keine Marmelade kauft. Der amerikanische Psychologe Barry Schwartz hat das am eigenen Leib erfahren, als er eine neue Jeans kaufen wollte und sich in den Optionen zwischen Slim Fit und Extra Baggy verlor.

Das Auswahlparadox

In seinem Buch «The Paradox of Choice. Why More Is Less» untersucht Schwartz den «Fluch der Freiheit», wie er es nennt, und zeigt pragmatische Wege, wie man die Optionenvielfalt übersteht. Er empfiehlt zum Beispiel, nicht auf Entscheide zurückzukommen und sich weniger mit dem zu beschäftigen, was man sich wünscht, und mehr mit dem, was man hat.

Und was ist die Ursache für das Auswahlparadox? Je mehr Optionen wir haben, desto grösser ist zwar unsere Freiheit, aber desto anstrengender ist es, sich zu entscheiden. Und das heisst nichts anderes, als dass Freiheit anstrengend ist. Die Folge davon ist, dass wir der kantischen Frage «Was soll ich tun?» gerne ausweichen.

Wenn digitale Dienste entscheiden

Möglich ist das, weil das Internet und insbesondere die künstliche Intelligenz dazu Hand bieten. Von der Stiftung Warentest bis zum Horoskop und von Google Bard bis zum Müsli-Selektor locken digitale Dienste damit, uns Entscheidungen abzunehmen. Dabei geht es längst nicht mehr nur um Jeans und Müsli. Digitale Dienste entscheiden über die Chancen von Stellenbewerbern, den Verbleib von Produkten im Regal und die Schlagzeile in der Zeitung. Denn nicht nur für uns Konsumenten, sondern auch für viele  Mitarbeiter in Unternehmen sind Freiheit und Entscheidungen eine anstrengende Angelegenheit – für unsere Freunde auf der Teppichetage sowieso.

Das wird dazu führen, dass digitale Dienste immer mehr Entscheidungen abnehmen. Im Auto und am Arbeitsplatz, beim Einkaufen und beim Musikhören, bei der Studien- und bei der Partnerwahl. Das kann angenehm sein. Viele Menschen werden die digitalen Entscheider als Ausweg aus dem «Fluch der Freiheit» empfinden – und nicht merken, dass sie damit ihre Freiheit aufgeben.

Umso wichtiger ist es, sich mit der Frage von Kant «Was soll ich tun?» zu beschäftigen.

Basel, 25. August 2023, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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Quellen

Bild: © KEYSTONE/René Ruis

Szene am Center für Cognitive Computing and Industry Solutions im IBM-Forschungszentrum Rüschlikon, aufgenommen am 30. Oktober 2019.

Peter Gross: Die Multioptionsgesellschaft. Suhrkamp 1994

Barry Schwartz: The Paradox of Choice. Why More Is Less. Ecco, 2016

Ein Kommentar zu "Digitale Ethik: «Was soll ich tun?»"

  1. Bei der Frage «Was soll ich tun?» höre ich bestmöglich auf mein Herz. Es lässt sich nicht digitalisieren. In der äusseren Welt scheint mir vor allem das «Wir» entscheidend: Ohne Gemeinschaft kein Gemeinwohl. – Bei der autoritär-hierarchisch und industriell-militärisch-technologisch begründeten Zivilisation geht es von A bis Z immer wieder und vor allem um Herrschaft. Diese Zivilisation ist am Ende. Fertig und Schluss mit dem Motto «Konkurrenz belebt das Geschäft … und mit Verlusten muss gerechnet werden»: Die Verluste sind zu gross und werden immer noch grösser. – Bei der Alten Politik werden Entscheidungen nach dem Mehrheitsprinzip getroffen. Dabei geht es in der Regel weniger um die Sache, als um Macht: Wer gewinnt, kann sagen, was für alle gilt. Bei der Neuen Politik geht es um Entscheide, die unter Berücksichtigung möglichst aller Sachaspekte bestmöglich allen gerecht werden können. Damit setzen wir uns mit vielen anderen zusammen auch an unserem Friedenskolleg vom 15.-17. September 2023 in Pratteln auseinander. Mehr dazu hier: https://www.einestimme.ch.

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