Offline: Wenn die digitale Dunkelheit droht

Publiziert am 23. September 2022 von Matthias Zehnder

Wir reden derzeit häufig über Energiemangel und einen drohenden Blackout. Doch es gibt eine weitere Gefahr, die ähnlich drastische Auswirkungen hat. Experten bezeichnen sie als «Digital Darkness». Diese digitale Dunkelheit fällt über uns, wenn das Internet ausfällt. Das ist bei einem Blackout der Fall, aber es gibt auch andere Möglichkeiten, warum uns digitale Dunkelheit befallen kann. Während jedem klar ist, dass ein Strom-Blackout fatale Folgen hätte, halten viele Menschen einen Ausfall des Internets für verkraftbar. Sie könnten nicht falscher liegen. Eine digitale Dunkelheit wäre verheerend. Umso erschreckender ist, dass das Internet viel verletzlicher ist, man meint. In meinem Wochenkommentar sage ich Ihnen diese Woche, wie es zur digitalen Dunkelheit kommen kann und was das bedeutet.

Viele Menschen halten das Internet immer noch für eine Anwendung, die man gelegentlich nutzt. Etwa so, wie in der AOL-Werbung von 1999, als Boris Becker sich ins Netz einwählte und überrascht feststellte: «Ich bin drin». Der Satz «Ich bin drin» hat sich, mindestens im deutschsprachigen Europa, im kollektiven Gedächtnis eingebrannt. Und leider auch die damit verbundene Vorstellung, dass das Internet etwas ist, in das man sich ab und zu einwählt, dann ist man «drin», aber dann geht man wieder raus und dann ist man «raus». Bloss: So funktioniert das Internet schon lange nicht mehr.

Das Internet ist längst keine Anwendung mehr, die man ab und zu anschaltet. Das Internet ist heute eher vergleichbar mit dem Stromnetz: Es stellt die grundsätzliche Datenverbindung sicher, ohne die grosse Teile des täglichen Lebens nicht mehr funktionieren. Und zwar ganz egal, ob Sie persönlich nun «drin» sind oder nicht. Technisch laufen längst auch der Fernsehanschluss und das Festnetztelefon über das Internet. Ohne Internet gibt es kein Geld am Bankomaten und keine Kartenzahlung im Laden. In Büros funktioniert überhaupt nichts mehr. In manchen Häusern arbeitet ohne Internet die Heizung nicht. Und natürlich gibt es weder WhatsApp noch E-Mail, weder Onlineshopping noch E-Banking. Ohne Internet steht heute das Leben weitgehend still und zwar auch das Leben von Menschen, die keinen eigentlichen Internetanschluss haben und selbst nicht «drin» sind.

Ein Ausfall des Internets und der damit verbundenen Datenkommunikation wird als «digital darkness» bezeichnet, als «digitale Dunkelheit». Experten sehen in einem Ausfall des Internets eine der ganz grossen, ja der apokalyptischen Gefahren. Verletzbar ist das Internet insbesondere bei zentralen Netzknoten und wichtigen Kabelverbindungen. Wir reden zwar häufig von Internet per Satellit und der Cloud, also der Datenwolke. Doch drahtlose Techniken spielen beim Datentransport praktisch keine Rolle. Nicht nur das Rückgrat des Internets besteht aus physischen Verbindungen, aus Kabeln und Netzkästen. Und die sind äusserst verletzlich. Umso erstaunlicher ist es, dass kaum jemand darüber redet, was diese digitale Dunkelheit bedeutet und wie wir uns vor ihr schützen können. Schauen wir uns die fünf grössten Risiken an, die dafür sorgen können, dass mindestens in Teilen des Internets das Licht ausgeht.

1) Der Baggerunfall

Das haben Sie vielleicht auch schon erlebt: Plötzlich geht nichts mehr. Das Internet ist tot. Mit dem Handy können Sie nach wie vor aufs Netz zugreifen, der Computer aber findet keine Verbindung mehr. Das Internet als solches funktioniert also noch, aber lokal ist jede Verbindung weg. Häufigste Ursache solcher lokaler Ausfälle sind Baggerarbeiten: Falsche Pläne oder Unachtsamkeit führen dazu, dass Bauarbeiter eine Leitung kappen, zum Beispiel mit der Baggerschaufel. Sie rufen uns damit ins Gedächtnis, dass das Internet auch im Jahr 2022 in den allermeisten Fällen kabelgebunden ist: Wenn in einem Stadtquartier eine zentrale Leitung beschädigt wird, fällt das Internet im Quartier aus.

 Ganz egal, ob es sich um eine alte Kupferleitung handelt, die über die Fassade ins Haus geführt wird, oder um ein leistungsfähiges Glasfaserkabel – wird das Kabel unterbrochen, ist fertig mit Internet. In vielen Haushalten ist von einer solchen Unterbrechung nicht nur die Datenkommunikation mit dem Computer betroffen, sondern auch der Fernseher und das Festnetztelefon, weil technisch alle drei Anwendungen über das Internet laufen. Je älter die Infrastruktur im Boden ist, desto anfälliger ist sie für solche Unterbrüche. Es lohnt sich deshalb, in diese Infrastruktur zu investieren. Die USA erleben gerade, was es heisst, solche Investitionen aufzuschieben.

2) Anschlag auf Netzknoten

Die Kabel aus den Haushaltungen laufen in kleinen und dann in grösseren Netzknoten zusammen. Wenn unser Bagger einer dieser Knoten flach macht, sind entsprechend viele Haushaltungen von einem Netzausfall betroffen. Das Internet ist ja eigentlich auf Resilienz ausgelegt: Die dem Netz zugrunde liegende Technik ist so ausgelegt, dass das Netz auch dann funktioniert, wenn grosse Teile des Netzwerks ausfallen. Möglich macht das eine Technik namens TCP/IP: Ganz einfach gesagt funktioniert diese Technik so, dass sich die Datenpakete selber den Weg durch das Netz suchen. Doch so resilient das Internet als Ganzes sein mag und so clever sich die Datenpakete durch das Netz schlagen, – wenn wichtige Knoten im Netzwerk flach liegen, funktioniert das Netz mindestens im Bereich dieser Knoten nicht mehr. Internetnutzer, die nicht direkt an diesem Knoten hängen, können das Netz zwar weiter nutzen, es wird aber langsamer. Für den Versand einer E-Mail oder einer WhatsApp-Nachricht ist das nicht relevant. Heute machen aber Videoplattformen wie YouTube oder Netflix etwa 80 Prozent des Datenverkehrs aus. Streaming ist auf eine stetige Datenverbindung mit hohem Durchsatz angewiesen. Auch um den betroffenen Netzknoten herum können bei einem Netzknotenausfall Streaminganwendungen betroffen sein. Die Auflösung sinkt, das Bild ruckelt oder der Bildschirm bleibt schwarz.

Warum kann ein solcher Netzknoten ausfallen? Heute sind fehlerhafte oder falsch konfigurierte Router die häufigste Ursache. Ein Router ist so etwas wie eine Kopplungsstation in einem Netzwerk. Im Kleinen ist es das Gerät, das zwischen dem WLAN im eigenen Wohnzimmer und dem Internet draussen vermittelt. In Netzknoten verknüpfen Hochleistungsrouter die verschiedenen Netzsegmente miteinander. Sind diese Geräte fehlerhaft oder falsch konfiguriert, streikt der Netzknoten. Solche Fehler lassen sich immerhin einigermassen rasch beheben. Netzknoten können aber auch mutwillig zerstört werden, mit einer Baumaschine, einem Bagger oder mit einer Bombe. Je grösser und wichtiger ein Netzknoten ist, desto besser geschützt ist er deshalb. Mindestens vor unabsichtlicher Beschädigung. Anschläge sind dagegen wohl immer möglich.

3) Sabotage des Überseekabels

Netzknoten sind wichtige Punkte im Netz, aber es ist nicht die Achillesferse. Am verletzlichsten ist das Internet im Meer: Die grossen Unterseekabel transportieren 99 Prozent des weltweiten Datenverkehrs, sind aber kaum geschützt. Weltweit gibt es rund 400 Tiefseekabel mit einer Gesamtlänge von 1,3 Millionen Kilometern. Sie bilden das Rückenmark des Internets. Karten der Tiefseekabel zeigen, wie die Kabel die Welt umrunden. Am dichtesten sind die Verbindungen zwischen Europa und den USA und zwischen den USA und Japan. Insgesamt folgen die Kabel etwa den Schifffahrtswegen. Und genau das ist auch das grösste Risiko: Schiffsanker und Schleppnetze sorgen immer wieder dafür, dass die Kabel verletzt werden. Als 2010 ein Anker zwischen Mumbai und Mombasa ein Unterseekabel beschädigte, kollabierten die internationale Telekommunikation und das Internet überall in Ost- und Südafrika. Und das während der Fussball-WM.

Unfälle sind aber nicht die grösste Sorge. Sicherheitsexperten befürchten, dass sich der laufende Cyberkrieg zwischen Russland und der westlichen Welt, aber auch zwischen China und Taiwan unter die Wasseroberfläche ausbreiten könnte. Wer weiss, wo die Kabel verlaufen, kann mit einem U-Boot Taiwan oder Japan weitgehend vom Datenverkehr abkoppeln und so immensen Schaden auf den Inseln anrichten. Ähnliches gilt für die Versorgung von Europa mit den Internetsignalen aus den USA: Russische U-Boote könnten mit einem relativ simplen Sabotage-Akt einen kaum zu überschätzenden Schaden in Europa anrichten. Und das erst noch sehr diskret und ohne Risiko: Die Kabel lassen sich militärisch kaum schützen. Experten fordern deshalb ein internationales Abkommen, mit dem das Sabotieren und Abhören von Seekabeln verboten wird. In der gegenwärtigen politischen Lage ist es aber aussichtslos, ein solches Abkommen nur schon auf den Tisch zu bringen.

4) Gezieltes Abschalten des Internets

Wenn Marinesoldaten in einem U-Boot ein Unterseekabel zerstören, ist das Ziel der Aktion, ein verfeindetes Land (oder gleiche einen ganzen Kontinent) vom Netz zu nehmen. Es geht also darum, ein anderes Land in die digitale Dunkelheit zu versetzen und ihm so zu schaden. In autoritären Staaten ist das freie Internet aber im Land selbst eine Bedrohung. China und Russland sind deshalb dazu übergegangen, der eigenen Bevölkerung das digitale Licht auszuknipsen: Beide Staaten haben ihr Land mehr oder weniger effektiv vom globalen Internet abgekoppelt.

Aber es sind nicht nur China und Russland, die das Internet gezielt kontrollieren. Access Now, eine NGO, die sich für die digitalen Rechte einsetzt, dokumentiert gezielte Internetabschaltungen auf der ganzen Welt. 2021 hat die NGO solche Abschaltungen in 34 Ländern festgestellt, darunter etwa Indien, Äthiopien und Myanmar. Dabei wird das Internet gezielt lahmgelegt, damit sich die Zivilgesellschaft nicht informieren, verständigen oder organisieren kann. Access Now spricht deshalb von einer Rückkehr des digitalen Autoritarismus. 

5) Infektion durch ein Virus

Vom Bagger bis zum Diktator bedrohen also eine ganze Menge Kräfte das Internet. Aber was ist global gesehen das grösste Risiko für das weltweite Internet? Experten sagen: Virusinfektionen. Gemeint sind damit nicht normale Computerviren, die sich auf einer Festplatte einnisten. Gemeint sind Angriffsviren, die Geräte unschädlich machen können. Der bekannteste Vertreter dieser Art Viren ist Stuxnet, ein Computerwurm, der in der Lage war, Steuerungssysteme von Industrieanlagen zu sabotieren. Den grössten Schaden richtete Stuxnet 2010 in Zentrifugen des iranischen Atomprogramms an. Obwohl über die Urheber des Wurms nichts bekannt ist, nehmen Experten an, dass Stuxnet gezielt für die Sabotage der iranischen Urananreicherungsanlagen entwickelt worden ist.

Der Aufwand, um ein solches Schadprogramm zu entwickeln, ist riesig. Aber Hacker sind längst keine Hinterhof-Freaks mehr, sondern Teil der Cyberarmeen der USA und von Israel, Russland und dem Iran. Längst greifen Armeen verfeindete Länder nicht mehr nur mit Artillerie an, sondern auch mit Hackerangriffen auf kritische Infrastrukturen wie Elektrizitätswerke, Wasserwerke – und die Internetinfrastruktur. Der vermutlich effizienteste Weg, in weiten Teilen der Welt für digitale Dunkelheit zu sorgen, ist ein Angriff mit einem Computerwurm, der die Router-Systeme der grossen Internet-Backbones ausschaltet. 

Was bedeutet das alles? Was können wir tun?

Vielen Menschen ist nicht bewusst, dass das Internet nicht irgendwo in einer Cloud beheimatet ist, sondern auf handfester Infrastruktur beruht. Wir sind uns nicht bewusst, wie wertvoll – und wie schutzbedürftig diese Infrastruktur ist. 

Den meisten Menschen ist nicht bewusst, wie verheerend eine «digital Darkness» wäre. Ein bisschen offline sein – das hat doch noch niemandem geschadet. Doch das Internet und seine digitalen Technologien sind längst zum Nervensystem der Welt geworden, ohne das die Welt komplett gelähmt wäre.

Alle Menschen in demokratischen Staaten sind sich einig, dass die Meinungsäusserungs- und Informationsfreiheit die Grundlage der Demokratie bildet. Sie sind sich aber wohl nicht bewusst, wie stark diese Freiheit heute an den Zugang zu einem offenen Internet gebunden ist. 

Zugang zum Internet zu haben, ist längst nicht mehr nur ein nettes Erlebnis wie einst bei Boris Becker. Es ist eine Notwendigkeit für viele alltägliche Tätigkeiten, es ist ein zentrales Freiheitsrecht. 

Wir sollten dem Internet deshalb Sorge tragen und auch als Gesellschaft weiter in die Netzinfrastruktur investieren, um zu verhindern, dass es in Europa plötzlich digital dunkel wird.

Basel, 23. September 2022, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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Quellen

Bild: © KEYSTONE/Rupert Oberhäuser

Bergin, Julia und Lim, Louisa (2022): Flicking the kill switch: governments embrace internet shutdowns as a form of control. In: The Guardian. [https://www.theguardian.com/technology/2022/aug/29/flicking-the-kill-switch-governments-embrace-internet-shutdowns-as-a-form-of-control; 23.9.2022].

Gsteiger, Fredy (2021): Tiefseekabel – sehr verletzlich und wie geschaffen für Sabotage. In: Schweizer Radio und Fernsehen (SRF). [https://www.srf.ch/news/international/kuenftige-ziele-im-cyber-krieg-tiefseekabel-sehr-verletzlich-und-wie-geschaffen-fuer-sabotage; 23.9.2022].

Horx, Matthias (2012): X-Events: Acht apokalyptische Szenarien. In: Zukunftsinstitut. [https://www.zukunftsinstitut.de/artikel/y-events/x-events-acht-apokalyptische-szenarien/; 23.9.2022].

Ohne Autor. Access Now. In: Access Now. [https://www.accessnow.org/; 23.9.2022].

Patalong, Frank (2015): Untersee-Kabel: Die fragilen Lebensadern des Internets. In: DER SPIEGEL. [https://www.spiegel.de/netzwelt/web/untersee-kabel-die-fragilen-lebensadern-des-internets-a-1015809.html; 23.9.2022].

Stöcker, Christian (2010): Beschädigtes Tiefseekabel: Südafrika teilweise vom Internet abgekoppelt. In: DER SPIEGEL. [https://www.spiegel.de/netzwelt/web/beschaedigtes-tiefseekabel-suedafrika-teilweise-vom-internet-abgekoppelt-a-704920.html; 23.9.2022].

TeleGeography (2022): Submarine Cable Map. In: TeleGeography. [https://www.submarinecablemap.com/; 23.9.2022].

Video FourSix (2020): AOL Werbung Boris Becker 1999 “Ich Bin Drin”. In: YouTube. [https://www.youtube.com/watch?v=4XIwVMYeP4I; 23.9.2022].

3 Kommentare zu "Offline: Wenn die digitale Dunkelheit droht"

  1. Je mehr und wunderbarer die Technologie, umso grösser und schrecklicher kann die Abhängigkeit von ihr werden. Letzteres insbesondere dann, wenn sie intelligent und gemein als eine der Komponenten von Herrschaft zur Wirkung gebracht wird.

  2. 5 Millionen Jahre Menschheitsentwicklung und nur die allerletzten (im Sinne von „das Allerletzte!“) 50 Jahre verbreitetere Computernutzung – wie konnte die Weltbevölkerung die „übrigen“
    4’999’949 Jahre ohne „Computer“ (=Rechner!) überhaupt überleben?! 😉

    Vielleicht mit Kopfrechnung? … (na gut: wer kann das heute noch?!)

    Ich beherrsche 10 Programmiersprachen – habe aber davor auch 2/3 meines Lebens (bin 65!) komplett ohne Computer zugebracht!
    Und lebe noch! Man sollte es nicht glauben!

    Heute ist der Computer ein Fetisch, wie es in den zwahnziger Jahren der Kopfhörer war!

    Leute! Das geht vorüber wie ein Schnupfen! Schon aus Energiegründen!

    Seht zu , daß Ihr für eure alte Schreibmaschine ein paar Ersatz-Farbbänder parat habt! Denn dat Dingens jeht auch bei Stromausfall und ist grottenschlecht elektronisch auszuspionieren!
    DAS ist Technik! (grch.: technos == Kunst! Und „Kunst“ kommt von „Können“, käme das Wort von „Wollen“, hieße es „Wunst“! 😉

    Jo

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