Digital Overflow

Publiziert am 19. Juni 2020 von Matthias Zehnder

In den letzten drei Monaten hat sich die Welt für viele Menschen ganz plötzlich auf einen halben Quadratmeter aus Glas und Silizium verkleinert: Von der Vorlesung über Konzerte und Theater bis zum Familiengespräch – alles lief nur noch über den Bildschirm. Noch im Januar war von «Digital Detox» die Rede, vom digitalen Entgiften. Jetzt leiden wir unter dem «Digital Overflow». Und das dürfte noch eine Weile so bleiben. Das hat überraschende Konsequenzen.

Jahrelang war von Digitalisierung vor allem die Rede. In der Realität scheiterten viele Vorhaben an mangelndem Willen oder an Bequemlichkeit. Es wäre schon lange möglich, wenigstens ein Teil der Sitzungen durch Videokonferenzen zu ersetzen. Es wäre schon lange nötig, wenigstens in der Oberstufe Computer und Internet stärker in den Unterricht einzubinden.

Dann kam im März das Coronavirus und der Lockdown – und alles ging plötzlich ganz schnell. Universitäten stellten über Nacht um auf Onlinebetrieb. Sitzungen wurden in Videokonferenzen verwandelt. Im Radio waren plötzlich keine Staumeldungen mehr zu hören, dafür stauten sich die E-Mails im elektronischen Postfach. Auch in der Familie sprachen wir per Skype oder FaceTime miteinander. Kurz: Quasi über Nacht wurde die Digitalisierung Realität.

Und jetzt? Wie geht es weiter? Brachte die Digitalisierung, was sie lange nur versprochen hat? Beim Versuch, ein kleines Fazit zu ziehen, bin ich auf ein paar überraschende Probleme gestossen.

Digital Overflow

Ich habe jahrelang in Schulen und Universitäten, in Verwaltungen, Institutionen und Firmen die Digitalisierung nicht gerade gepredigt, aber doch zu mehr Offenheit gegenüber digitaler Kommunikation aufgefordert. Als im März der grosse Digitalisierungsschub einsetzte, war ich zunächst vor allem erfreut. Endlich digital.

Insgesamt hat diese Instant-Digitalisierung gut funktioniert. Ich war deshalb eher überrascht, wie rasch ich an mir selbst Kapazitätsgrenzen entdeckte. Videokonferenzen sind oft effizienter als Sitzungen – aber sie sind auch anstrengender. Und zwar nicht nur deshalb, weil es mühsam ist, den ganzen Tag auf den Bildschirm zu starren. Man nimmt die anderen Sitzungsteilnehmer weniger wahr als an einer realen Sitzung. Die Verständlichkeit ist schlechter, weil die Gerätschaften nicht bei allen Teilnehmern gleich gut sind. Eher überraschend fehlte mir aber vor allem der Weg zwischen den Sitzungen. Manchmal schaltete ich quasi von einer Sitzung in die nächste. Zwischen realen Sitzungen hatte ich vorher in der Stadt einen Fussweg oder eine Velofahrt. Ich merkte jetzt, da diese Wege wegfielen, dass das nicht nur verlorene Zeit war, sondern der Weg zur Sitzung auch Zeit für die Einstimmung aufs Thema und der Rückweg Zeit für die Verarbeitung bot. Meine persönliche Konsequenz daraus: Ich mache nach Videokonferenzen manchmal einen kurzen Spaziergang. Ganz analog.

Buffer Overflow

Insgesamt aber war es in den letzten Wochen manchmal zu viel des Digitalen. Es gibt in der Informatik den «Buffer Overflow», also den «Pufferüberlauf». Das ist ein Überlaufen des Zwischenspeichers. Was ich an mir persönlich in den letzten Wochen erlebt habe, das war ein solcher «Buffer Overflow»: Die Zwischenspeicher in meinem Hirn waren manchmal einfach voll, weil auf so vielen digitalen Kommunikationskanälen so viel auf mich einprasselte, dass einfach nicht mehr alles Platz hatte in meinem Kopf. Das waren nicht nur E-Mails, sondern auch Kommunikationen auf WhatsApp, Slack, den Direktnachrichten von Facebook und Twitter und die gute, alte SMS. Für sich genommen sind all die Techniken sinnvoll – wenn auf allen Kanälen gleichzeitig der Teufel los ist, verliert man aber den Überblick.

Zum «Digital Overflow» kam es, weil sich auch sonst alles auf den Bildschirm konzentrierte: Von der Vorlesung bis zum Gottesdienst, vom Beratungsgespräch bis zum Austausch in der Familie, vom professionellen Medienkonsum bis zur Kultur – es konzentrierte sich plötzlich alles auf diesen halben Quadratmeter aus Glas und Silizium. Was für sich genommen effizient wäre, wurde in der Summe zur Belastung.

Zwar fühlt sich das Leben mittlerweile wieder normaler an, ein grosser Teil dieser digitalen Formate wird uns aber erhalten bleiben. Die Universitäten werden auch im Herbstsemester viele Vorlesungen per Fernunterricht digital anbieten. Veranstaltungen mit Publikum haben es nach wie vor schwer. Home Office bleibt das Gebot der Stunde. Videokonferenzen bleiben eine wichtige Alternative zu Sitzungen vor Ort. Die Digitalisierung wird vielleicht nicht mehr ganz so absolut gelebt wie im März oder im April, aber von Rückkehr zum normalen, analogen Leben kann keine Rede sein. Das hat einige interessante Konsequenzen.

Ein Problem für die Medien

Die Digitalisierung, die wir erlebt haben, lässt sich auch als Medialisierung beschreiben: Statt in echt haben wir über Medien kommuniziert, gelehrt und gelernt. Für viele Menschen bedeutet das: der Medienkonsum ist explodiert. «Medien» meint dabei nicht «NZZ» und Schweizer Fernsehen, sondern Bildschirm und Mobiltelefon. Immer grössere Teile der Arbeits-, ja der Lebenswelt sind medial vermittelt. Vor dem Lockdown waren publizistische Medien (also «NZZ» und Schweizer Fernsehen) oft eine Art mediale Inseln in einem realen Leben. Heute sind sie einfach weitere Inhalte auf dem Bildschirm von Computer, iPad und Mobiltelefon.

Die Konsequenz daraus ist eine Medienermüdung. Wenn ich schon den ganzen Tag in den Bildschirm meines iPads glotzen musste, dann lese ich am Abend nicht auch noch die «NZZ» auf dem iPad. Nach X Stunden Videokonferenz sinkt die Motivation, eine Diskussionssendung im TV anzuschauen. Nach der grossen Nutzungswelle in der Krise wird die Mediennutzung deshalb wieder zurückgehen. Gefragt sind nicht Medienangebote mit möglichst vielen Bildschirmseiten, sondern Angebote, die kondensieren, zusammenfassen, verknappen, kurz erklären. Das Problem dabei: Das ist aufwändig – und es ist schwieriger, zu finanzieren.[1]

Ein Problem für die Firmen

Home Office hat sich quasi über Nacht in der Schweiz etabliert: Es ist nicht nur sicherer, zu Hause am Computer zu arbeiten, sondern oft auch effizienter. Daraus ergibt sich aber aus der Perspektive vieler Firmen ein Problem: Die Mitarbeitenden erleben die Firma nicht mehr. Ob ich heute für Apple, Google oder Microsoft arbeite, macht keinen Unterschied mehr – ich sitze ja so oder so in meinem eigenen Wohnzimmer. Es ist ein Unterschied, ob ich für Roche arbeite und jeden Tag mein Büro im 27. Stockwerk beziehe – oder ob ich zu Hause im Wohnzimmer für Roche arbeite. Im Hochhaus vermittelt Roche ein Lebensgefühl. Die Mitarbeitenden schneiden ganz nebenbei mit, wer Roche ist, wie stark die Firma ist, um was es ihr geht. Arbeiten die Angestellten zu Hause, erleben sie ihre Firma kaum mehr.

Mitarbeitende im Home Office müssen deshalb kommunikativ betreut werden. Mit Hilfe von interner Kommunikation müssen die Arbeitgeber den Wegfall des Erlebnisses von Roche-Turm und Google-Rutsche kompensieren. Das ist gar nicht so einfach – zumal die meisten Mitarbeitenden auch unter dem oben beschriebenen Kommunikations-Overflow leiden. Google, Roche und Microsoft haben es dabei vergleichsweise einfach. Das sind starke Marken. Für viele mittelständische Schweizer Firmen dagegen ist dieses kommunikative Umsorgen der eigenen Mitarbeitenden Neuland.[2]

Ein Problem für mich persönlich

Das Veranstaltungsverbot ist mittlerweile zwar gelockert worden. Viele Veranstaltungen sind dennoch gestrichen, vertagt oder abgesagt worden. Ganz besonders betroffen sind Musikangebote, aber auch das Theater – und Vorträge. Und dieser Bereich betrifft auch Autoren wie mich. Nach Veröffentlichung eines Buchs wäre ich unterwegs mit Workshops und Vorträgen zum Buch. In «Die digitale Kränkung» beschäftige ich mich mit der Ersetzbarkeit des Menschen und mit der Frage, was das für uns alle bedeutet, wenn uns Computer und Roboter in genau jenen Bereichen überflügeln, über die wir uns als Menschen seit der Aufklärung definieren. Zu diesen Fragen halte ich Vorträge vor breitem Publikum, ich mache aber auch Workshops mit Verwaltungsräten und Managern. Oder besser: so war das geplant. Und dann kam Corona und das Veranstaltungsverbot.

Ich werde meine Sommerpause deshalb dazu nutzen, digitale Angebote zu entwickeln. Einerseits geht es um Videos zu meinen Büchern und Vorlesungen, andererseits um das Entwickeln digitaler Workshop-Formate. Wir haben eine Schock-Digitalisierung hinter uns – umso mehr sollten wir über Chancen und Grenzen von Computern und Robotern nachdenken.[3] Denn dass die Möglichkeiten der Digitalisierung Grenzen hat, das haben wir alle in den letzten Wochen erlebt.

Basel, 19. Juni 2020, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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PPS: Eine Videofassung dieses Kommentars finden Sie hier:


Anmerkungen

Bild: ©Eisenhans – stock.adobe.com

[1] Die Gründe dafür: Weniger Möglichkeiten, Werbung auszuspielen, weniger Klicks, weniger Boulevardinhalte. Verknappte, kondensierte Medienangebote lassen sich nur über Benutzer finanzieren, dafür ist der Markt in der Schweiz aber oft zu klein.

[2] Doch auch dafür gibt es Lösungen. Ich helfe Ihnen gerne dabei weiter 😉

[3] Ich halte Sie in den kommenden Wochen über mein Wochenmail auf dem Laufenden über die Videoangebote zu meinen Büchern.

2 Kommentare zu "Digital Overflow"

  1. Bekannte haben die Corona-Krise in einem Chalet in den französischen Alpen sehr gut überstanden.
    Viel Sonne, dann gab es immer was ums Haus zu tun, Ruhe, Tiere, kleinere Flickarbeiten, Hausmusik, Lesen, (gut) Essen und gemütliche Schwätzchen im Dorf.
    Es hätte noch ewig so weitergehen dürfen….
    Einen halben Quadratmeter aus Glas und Silizium; das galt (gottlob) nicht für alle.

  2. Der digitalisierte Mensch denkt, und die Künstliche Intelligenz lenkt: weniger mit Absichten, Inhalten und Zielen, als vielmehr in der Art und Weise. Für die Gemeinschaftsentwicklung braucht es eine analoge Kommunikation: mit Kopf, Herz, Hand und Fuss. Ob jung oder alt: Menschen ohne leibhaftig sozialen Austausch verkümmern. Und das Gehirn kann mit digital basierter Kommunikation veröden. Weil sie nur ein eingeschränktes Spektrum von Wahrnehmungsfähigkeiten beansprucht und trainiert. Das kann einerseits zu einer „Einfaltisierung“ der Wahrnehmung führen, und anderseits zugleich auch sehr ermüdend sein. Für Menschen mit Autismus soll übrigens eine digital basierte Kommunikation ein Vorteil sein, weil Vielfalt für sie tendenziell eine Überforderung bedeuten kann. Autokraten sind oft Weltmeister in digitaler Kommunikation und sozialer Desintegration: sie führen nicht nur zu einer Verkümmerung der Hirne, sondern auch der Gemeinschaft.

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