Diese Krise bewältigen nur gemeinsam

Publiziert am 13. März 2020 von Matthias Zehnder

Social Distancing ist das Gebot der Stunde. Abstand halten verlangsamt die Ansteckung mit dem Coronavirus. Keine Schule, keine Uni, kaum Veranstaltungen. Das ist gut für die Digitalisierung – aber es besteht die Gefahr, dass wir uns Vereinzeln: dass jeder Mensch und jedes Land für sich kämpfen. Das wäre fatal. Diese Krise meistern wir nur gemeinsam. Wir müssen zwar körperlich Abstand halten, aber gerade jetzt müssen wir zusammenstehen. Jetzt geht es um Verantwortung, Solidarität und Gemeinschaft. Es sind drei uralte Werte. Für unsere Ego-Gesellschaft sind sie jedoch eine Herausforderung.

Das schwarze Gift des Misstrauens macht sich breit in der Gesellschaft. Hat die Frau im Tram gerade gehustet? Sind die Augen des Mannes an der Coop-Kasse wässerig, weil es windet, oder hat er womöglich Fieber? Und dann die Medien. Sie zitieren gerne Extrempositionen. Besonders gern, wenn sie von Fachleuten kommen – und sich widersprechen. Auf «Tele Züri» beruhigt der emeritierte Immunologieprofessor Beda Stadler – er findet Grenzschliessungen nicht sinnvoll und stellt dem Bundesrat ein gutes Zeugnis aus.[1] Christian Althaus, Epidemiologe an der Universität Bern, sagt das Gegenteil und profiliert sich als Warner. Er kritisiert, dass die Schweiz Tests nicht mehr flächendeckend durchführt und fordert viel härtere Massnahmen.[2]

Auch sonst tragen Medien nicht zu Klarheit bei. Beliebt sind zum Beispiel Schlagzeilen mit einer wilden Frage, die Aufmerksamkeit holt. So fragt der «Blick»: «Ist das Handy der wahre Virenherd?»[3] Nein, ist es nicht. Es ist sicher gut, das Handy regelmässig zu reinigen und zu desinfizieren, aber es ist nicht der «wahre Virenherd». Um zu dieser Erkenntnis zu kommen, muss man jedoch den ganzen Artikel lesen. Eiligen (und damit den meisten) Lesern bleibt «Handy – der wahre Virenherd» im Gedächtnis. Seit Tagen machen auch Artikel die Runde wie dieser hier auf «watson»: «Notstand in der ganzen Schweiz: Was heisst das?»[4] Im Artikel wird erläutert, was es bedeuten würde, wenn die Schweiz den Notstand erklären würde. Auch hier: Der eilige (und das ist der normale) Leser nimmt den Konjunktiv nicht mit. Er (oder sie) merkt sich: «Notstand in der ganzen Schweiz». Präzis gelesen sind die Artikel informativ, die Zuspitzung im Titel machen sie jedoch zu Panikschleudern.

Was uns zu denken geben muss

Eine Reihe von Punkten müssen uns in der Schweiz zu denken geben. Etwa: wie rasch in der Schweiz Desinfektionsmittel ausverkauft waren. Dass Spitäler, schon bevor die Krise richtig losging, kaum mehr Schutzmasken hatten. Dass in Spitälern sehr früh Personal und Betten knapp wurden. Es darf nicht sein, dass wir unsere Spitäler als Profit-Center führen. Im Gesundheitssystem darf es nicht um Rendite gehen. Der Massstab muss die Sicherheit und die Gesundheit unserer Bevölkerung sein. Darüber müssen wir auf allen politischen Ebenen reden – wenn die Krise vorbei ist.

Ein weiterer Punkt, der mich besonders stört, ist die Kommunikation vor allem der Bundesbehörden. Ich bin kein Immunologe, über das Virus weiss ich, was ich in der wissenschaftlichen Berichterstattung gelesen habe. Aber Kommunikation kann ich beurteilen. Besonders ärgerlich ist dieses scheibchenweise Vorgehen. Man kann es nicht einmal Salamitaktik nennen. Das würde voraussetzen, dass die Salami bekannt ist. Man hat aber den Eindruck, dass die Behörden keinerlei Plan haben. Sie entscheiden jeden Tag etwas Neues. Weil: Man muss doch etwas tun. Nach dem Krisentreffen zwischen Tessiner Politikern und dem Bundesrat am Mittwoch sagte Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga: «Wir sind laufend dran, weitere Massnahmen zu prüfen.»[5] Das tönt nicht nach einem Pandemieplan. Das tönt nach Improvisation. In der «Tagesschau» von SRF sagte Bundeshaus-Korrespondent Christof Nufer denn auch: «Die Situation ist ein bisschen unklar.»[6] Das ist fatal. Vom Bundesrat (und von den kantonalen Behörden) erwarte ich, dass es einen Plan gibt und dass die Politiker einen Pfad vorgeben: Wir sind jetzt auf Stufe drei von zehn, wenn es sich so und so entwickelt, kommt die Stufe vier, danach die Stufe fünf. Auch darüber müssen wir nach der Krise reden.

Doch jetzt geht es um etwas anderes: Um Verantwortung, um Solidarität und um Gemeinschaft.

Jetzt ist Verantwortung gefragt

Wir erwarten vom Bundesrat, vom Bundesamt für Gesundheit und unseren kantonalen Behörden, dass sie das Problem für uns lösen. Doch Bundesrat und Ämter können nur Regeln vorgeben (deshalb wäre ja die Kommunikation so wichtig). Ob wir die Krise bewältigen, das liegt aber an uns. Es liegt an uns allen, Verantwortung zu übernehmen. Etwa bei Anzeichen von Fieber, Husten oder Halsweh zu Hause zu bleiben. Verantwortung müssen vor allem junge Menschen übernehmen. Sie sind vom Virus wesentlich weniger stark betroffen. Neuere Forschungsresultate zeigen aber, dass sie das Virus dennoch verbreiten können. So sagt der Basler Infektionsspezialist und Spitalhygieniker Andreas Widmer gegenüber der «NZZ», die unter 25-Jährigen hätten, auch wenn sie selbst kaum betroffen seien, «eine unheimlich hohe Keimlast in ihrer Nase und in ihrem Rachen. Deshalb ist eine Übertragung durch solche Personen auch sehr wahrscheinlich.»[7]

Bitte, liebe junge Menschen: Übernehmt die Verantwortung. Bleibt zu Hause, auch wenn es nur ein bisschen kratzt im Hals. Und haltet Euch an die Regeln, welche die Gesundheitsbehörden vorgeben, auch wenn Ihr selbst wenig zu befürchten habt. Die Zeit der Partys kommt wieder. Vielleicht sind die Partys nach der Coronapause dann umso schöner. Das gilt natürlich für alle Menschen: Übernehmt Verantwortung! Schützt die verletzlichen Menschen, indem Ihr Abstand haltet! Der Bundesrat kann Regeln vorgeben – ob sie eingehalten werden, liegt an uns allen.

Jetzt ist Solidarität gefragt

Es ist wie in den Katastrophenfilmen: Auch in der Schweiz waren im Nu die Supermarktregale leer. Als erstes waren überall Teigwaren und WC-Papier ausverkauft. In der Not will der Mensch offenbar einen vollen Bauch und einen sauberen Hintern. Es mag ein Beispiel sein zum Lächeln, der Hintergrund ist ernst: In der Not schauen viele Menschen zuerst für sich selbst. Das Resultat sind Hamsterkäufe – oder noch schlimmer: Diebstähle. So sind in vielen Spitälern Atemmasken und Desinfektionsmittel verschwunden, zum Teil im grossen Stil. An der Berliner Charité sind Atemschutzmasken sogar von der Kinder-Intensivstation gestohlen worden.[8] Egoismus ist auch auf der Ebene von Staaten zu beobachten. So hat Deutschland am 4. März den Export von medizinischem Schutzmaterial verboten. Zwei Lieferungen in die Schweiz wurden deshalb blockiert. Der Bundesrat intervenierte in Berlin, daraufhin wurden beide Lieferungen freigegeben.

Dabei ist gerade jetzt Solidarität gefragt, zwischen den Ländern ebenso wie zwischen einzelnen Menschen. Etwa in Form der guten, alten Nachbarschaftshilfe, gerne auch digital. So hat «Bajour» in Basel die Facebookgruppe «Gärn gschee – Basel hilft» ins Leben gerufen. Hier können sich hilfswillige und hilfsbedürftige Baslerinnen und Basler registrieren und zueinander finden.[9] Für alle, die kein Facebook haben, geht es auch per Telefon oder zu Fuss. Gerade die besonders gefährdeten, älteren NachbarInnen sind wohl nur so erreichbar. Übrigens: Abgesehen von Betroffenen braucht eine Gruppe besondere Solidarität –  KünsterInnen, MusikerInnen und ganz generell Selbstständige. Auftrittsmöglichkeiten brechen weg, Aufträge bleiben aus. Besonders betroffen sind die freie Musikszene, aber auch Orchester, Chöre und Theater. Die Schweizer Comedian Hazel Brugger twitterte am Freitag: «Ich bin, wie es aussieht, die nächsten paar Monate über zwangs-arbeitslos. Falls ihr in Köln wohnt, in einem medizinischen Beruf arbeitet und schulpflichtige Kinder habt, kann ich gerne tagsüber auf die aufpassen.»[10]

Das schaffen wir nur gemeinsam

Ansteckend sind immer die anderen. Österreich hat seine Bürgerinnen und Bürger dazu aufgefordert, in die Heimat zurückzukehren, weil der Rest der Welt unsicher sei.[11] Mehr oder weniger deutlich vermitteln das alle Länder ihren Bürgern: Das Ausland ist gefährlich. Donald Trump hat die US-Grenze für Europäer geschlossen. Ausgenommen davon sind nur die Engländer. Tschechien schliesst die Grenze für Schweizer und für Deutsche. Österreich für Italiener. Die Botschaft: Das Ausland ist gefährlich. Sicher ist nur die Heimat. Verstehen Sie mich recht: Es kann sinnvoll sein, den Verkehr von einer Region in eine andere einzuschränken. Das hat aber nichts mit Landesgrenzen zu tun, sondern mit der Ansteckungsrate in einer Region. Das Virus interessiert sich nicht für Nationalitäten.

Was die Staatsschefs im Grossen vormachen, hält auch im Kleinen Einzug: Misstrauen, Angst, Ablehnung. Es besteht die Gefahr, dass dieses Klima des Rückzugs zur Vereinzelung führt. Doch diese Krise schaffen wir nicht einsam, sondern nur gemeinsam. Das gilt für die Zusammenarbeit der Wissenschaftler und Gesundheitsfachleute über alle Landesgrenzen hinweg, es gilt für die Kantone und Gemeinden in der Schweiz, für die Generationen, für die verschiedenen Branchen – für uns alle. Verantwortung, Solidarität, Gemeinschaft – jetzt kommt es auf uns alle an.

Basel, 13. März 2020, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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Quellen

Bild: ©Melinda Nagy – stock.adobe.com

[1] Eine Zusammenfassung gibt es hier: https://www.bzbasel.ch/schweiz/beda-stadler-appelliert-jetzt-haben-die-jungen-die-pflicht-die-alten-zu-schuetzen-137083250

[2] Zum Beispiel hier im Newsticker des «Tages-Anzeigers»: https://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/die-epidemie-geraet-ausser-kontrolle/story/10974797

[3] Vgl. «Blick», 6. März 2020: https://www.blick.ch/news/schweiz/antworten-auf-die-15-wichtigsten-fragen-zum-alltag-mit-dem-virus-das-muessen-sie-jetzt-ueber-corona-wissen-id15779338.html

[4] Vgl. «watson», 12. März 2020:« Notstand in der ganzen Schweiz: Was heisst das?» https://www.watson.ch/schweiz/coronavirus/839184744-coronavirus-notstand-ausserordentliche-lage-was-droht-der-schweiz

[5] Quelle: «bzBasel», 11. März 2020: «Das Tessin steht still: Was der Corona-Notstand im Südkanton zu bedeuten hat»:  https://www.bzbasel.ch/schweiz/das-tessin-steht-still-was-der-corona-notstand-im-suedkanton-zu-bedeuten-hat-136978001

[6] Vgl. «Tagesschau», 11. März 2020: https://www.srf.ch/play/tv/tagesschau/video/coronavirus-tessin-ruft-den-notstand-aus?id=804dc3ad-85e9-44cd-8a36-288c43653128

[7] Quelle: «NZZ», 12. März 2020: «Infektionsspezialist: ‹Wir müssen die Welle von Coronavirus-Infektionen brechen, sonst geraten wir in einen Tsunami›»; https://www.nzz.ch/schweiz/coronavirus-gesundheitssystem-droht-kollaps-wie-in-italien-ld.1545760

[8] Quelle: «RBB24», 7. März 2020: «Berliner Charité: Unbekannte stehlen Atemschutzmasken von Kinder-Intensivstation»: https://www.rbb24.de/panorama/thema/2020/coronavirus/beitraege/Corona-Charite-Schutzmasken-desinfektionsmittel-gestohlen.html

[9] Hier geht es zur Facebookgruppe «Gärn gschee – Basel hilft»: https://www.facebook.com/groups/228260574890980/

[10] Vgl. https://twitter.com/hazelbrugger/status/1238449341779587072

[11] Quelle: Bloomberg, 13. März 2020: «Austria Urges Homecoming as Rest of the World Deemed Unsafe»: https://www.bloomberg.com/news/articles/2020-03-13/austria-urges-homecoming-as-rest-of-the-world-deemed-unsafe

5 Kommentare zu "Diese Krise bewältigen nur gemeinsam"

  1. Guter Aufruf!
    Ergänzend: Vernünftig handeln ist angesagt. Einschränken, Verzichten, Beschränken.
    Für jeden Einzelnen. Für die Gesellschaft. Für die Staaten.
    Etwas vom Besten, was ich heut im Netz sah, möchte ich gerne unten verlinken. Es geht dort um so altmodisches wie Grenzen schliessen, Selbstversorgung, Notvorrat, Nationale Verantwortung und Kritik an der „Grenzenlosigkeit“ in JEGLICHER Form unseres SEINS.
    Von wem diese positiven Ansätze kommen, von wo und von welcher Gesinnung sie stammen, sollte in solch einer Situation wie der jetzigen keine Rolle spielen.
    Lange Lebensweisheit und Erfahrung, gepaart mit Verantwortung in Familie und Beruf sind in diesem Video sehr gute Ratgeber.
    Ich verlinke hier an dieser Stelle ganz selten Videos, da es oft nicht nötig ist. Diese spezielle und dringliche Form verlangt aber hier und heute diese wichtige Veröffentlichung, welche mehr aussagt als manches Bundeshausstatement:

  2. Im Titel zu diesem Wochenkommentar fehlt das «wir». So wie es auch in der Schweiz und auf der ganzen Welt kein «wir» gibt. Wie die profit- und spassgierig globalisierte, alle und alles beherrschende Wachstums- und Wirtschaftsmacht trifft das Coronavirus auf ein Schlaraffen- und Wunderland Schweiz, das ein «wir» wie die nationalistisch und narzisstisch beschränkt handelnde Weltgesellschaft hoffnungslos überfordert ist. Wie die Wachstums- und Wirtschaftsmacht kennt das Coronavirus keine Grenzen. Viele fühlen es mit ihrem Herzen: Die Natur ist stärker. Die Erfahrung mit dem Corona-virus beinhaltet die Chance für eine Bewusstseinsveränderung. Stopp mit dem Wahn nach immer noch mehr sinnlosem Umsatz und unsinnigem Wachstum. Raus aus der Falle mit dem Luxus und dem Überfluss. Es nicht einfach so weiter laufen lassen. Verantwortung übernehmen. Es anders und richtig wissen wollen. Und es auch tun. Handeln, bevor es zu spät ist.

  3. “… Man hat aber den Eindruck, dass die Behörden keinerlei Plan haben…”
    Mit Verlaub, mich stört dieses ewige kritisieren der gewählten Behörden von Rechts, von Links und von allen anderen Seiten. Ich glaube, es tut der Demokratie nicht gut.

    1. Lieber Markus Stehlin, Sie zeigen da auf einen interessanten Punkt. Ich meine, es kommt darauf an, worauf die Kritik sich richtet. Antidemokratische Kreise zielen auf die Legitimation der Behörden, sie kritisieren etwa, dass der Staat überhaupt eingreift, dass ein Gericht überhaupt urteilt etc. und unterminieren so die demokratischen Institutionen. So verstanden, haben Sie absolut recht.
      Wenn sich die Kritik auf die Inhalte, die Arbeit oder die Kommunikation bezieht, bin ich aber anderer Meinung: Es ist gerade das Wesen einer Demokratie, dass Entscheide diskutiert und hinterfragt (aber eben auch akzeptiert) werden.
      Im Vorliegenden Fall kritisiere ich den Entscheid des Bundesrats vom Freitag, 13.3., keinesfalls. Ich kritisiere den Weg dahin und da vor allem die Kommunikation. Wichtig gerade in Krisensituationen ist, dass man einen Pfad legt und klar macht, wohin die Reise geht, wo man steht und unter welchen Bedingungen es einen Schritt weitergeht. Das hat gefehlt.
      Aber das ist jetzt sinnlos. Darauf müssen wir zurückkommen, wenn die Krise bewältigt ist.

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