Die Schweiz ist stabil – und deshalb verkrustet

Publiziert am 15. November 2019 von Matthias Zehnder

Die Schweiz hat die stabilste Regierung der Welt und ist stolz darauf. Warum eigentlich? Stabilität gibt Sicherheit – zu viel Stabilität führt zu Verkrustung und Erstarrung. Führt dazu, dass sich die Wählerinnen und Wähler abwenden, weil sich ja sowieso nichts ändert. Und dazu, dass das Land aus der Zeit fällt, weil es sich vor lauter Stabilität kaum mehr bewegen kann. Es ist deshalb nötig, dass die politische Schweiz etwas weniger stabil ist – und dafür etwas lebendiger wird.

Jedes Jahr erstellt die Versicherungsgesellschaft Marsh eine Weltkarte der politischen Risiken und bewertet die politische Stabilität der Länder dieser Welt. Und jedes Jahr figuriert die Schweiz als eines der stabilsten Länder der Welt auf dieser Liste.[1] Jahrzehnte war die Schweiz stolz auf ihre Stabilität. Es gibt kaum etwas, was unser Land aus der Ruhe bringt. Ob Mauerfall oder Finanzkrise – die Schweizer Politik trottet ihren Gang. Für Hektik im Politbetrieb haben in den letzten Jahren wohl nur zwei Ereignisse geführt: das Grounding der Swissair und die Rettung der UBS. In beiden Fällen kam plötzlich Leben in die Schweizer Politik – und plötzlich spielte es keine Rolle mehr, dass die Schweiz eine Demokratie ist, in der bei wichtigen Entscheiden immer zuerst das Volk oder zumindest dessen Vertreterinnen und Vertreter im Parlament befragt werden müssen. Wenn es ums Geld geht, werden auch Schweizer Politiker plötzlich unbürokratisch.

Aber zurück zur Stabilität: Die Schweiz ist stabil. Sie hat wohl die stabilste Regierung der Welt und ist stolz darauf. Seit 1959, also seit genau 60 Jahren, gilt für die Zusammensetzung des Bundesrats die so genannte Zauberformel: Die drei stärksten Parteien haben je zwei Sitze im Bundesrat, die viertstärkste Partei hat einen Sitz. 1959 bedeutete das je zwei Sitze für SP, CVP (damals KCV) und FDP sowie einen Sitz für die SVP (damals noch die BGB). Für viele Politiker hat das Wort «Zauberformel» heute eine positive Bedeutung: Mit dieser Formel «zaubert» sich die Schweiz eine stabile Konkordanzregierung. Ursprünglich war der Begriff aber nicht positiv gemeint, sondern despektierlich. Es war nämlich NZZ-Chefredaktor Willy Bretscher, der als erster von einer «magischen Formel» sprach. Bretscher wehrte sich dagegen, dass die FDP zugunsten der SP einen Bundesratssitz abgeben musste. «Durch die ironische Erhöhung des zumindest aus freisinniger Sicht niedrigen Wahlmanövers ins Übersinnliche … wird auf die wenig rationale, eben zauberische Verzückung ihrer Anhänger angespielt», schreibt Christian Seidl 2003 in der «NZZ».[2]

Wenn Wahlen keine Konsequenzen haben

Trotz Widerstand von der Falkenstrasse setzte sich die Zauberformel 1959 durch und hat seither Bestand. Die Formel wurde mit der Zeit zum Sinnbild für helvetische Stabilität, für das Einstehen der Parteien für die Konkordanz. Dazu kommt: Ganz egal, wie sie arbeiten und wie die Wahlen ausfallen – Bundesräte müssen (in den allermeisten Fällen) keine Abwahl befürchten. Auch jetzt, wo die Grünen ante portas stehen und einen Bundesratssitz für sich reklamieren, tritt FDP-Präsidentin Petra Gössi auf die Bremse. Es gehe nicht, dass deshalb ein amtierender Bundesrat zurücktreten müsse. Es bringe die Stabilität des Landes in Gefahr, wenn man (nach Wahlen) die Zusammensetzung des Bundesrats ändere.[3] Ich glaube nicht, dass es, abgesehen vielleicht von ein paar Fürstentümern und ein paar Diktaturen, ein anderes Land auf der Welt gibt, in dem Wahlen keine Konsequenzen für die Regierungsbildung haben – und die Politikerinnen und Politiker auch noch stolz darauf sind. Noch absurder wird das Hohelied der Stabilität, wenn man sich vor Augen führt, dass es in der Schweiz gesungen wird, wo doch alle so stolz darauf sind, dass die Stimmbevölkerung der Souverän ist, dass also das «Volk» das sagen hat.

Genauer betrachtet muss man sagen: Die Zauberformel sorgt dafür, dass die Schweizer Politik verkrustet und erstarrt. Was viele Politiker als «Stabilität» preisen, ist in Tat und Wahrheit blosses Zementieren der Macht. Ein gutes Beispiel dafür ist die Einführung des Frauenstimmrechts. Bereits beim Landesstreik von 1918 war das Frauenstimmrecht die zweite von neun Forderungen. 1919 reichten 158 Frauenverbände eine entsprechende Petition ein. 1923 reichte eine Gruppe von Bernerinnen eine staatsrechtliche Beschwerde ein. Es folgte eine ganze Reihe von Vorstössen und Petitionen. 1928 antwortete der Bundesrat auf einen dieser Vorstösse: «Die Beschränkung des Stimmrechts auf die männlichen Schweizer Bürger ist ein fundamentaler Grundsatz des eidgenössischen öffentlichen Rechts.» 1959 lehnten die Männer an der Urne das eidgenössische Frauenstimmrecht ab.[4] Ein immer wiederkehrendes Argument gegen die Einführung des Frauenstimmrechts: die Stabilität. So glaubten die Schweizer Männer, dass «die Frauen bei den Wahlen die nötige Stabilität vermissen lassen, und dass sie insbesondere sich von neuen Parteien, von Führerpersönlichkeiten und von Schlagworten beeindrucken lassen.»[5] Die Frauen waren den Männern zu wenig stabil.

Unveränderlich, gleichbleibend und sehr fest gefügt

Wenn wir im «Duden» nachschlagen, was stabil genau bedeutet, stossen wir auf einige sehr interessante Erklärungen. Positiv ist zunächst die Paraphrasierung von stabil als widerstandsfähig; kräftig; nicht anfällig wie im Ausdruck «eine stabile Gesundheit». Eher neutral ist die Beschreibung so beständig, dass nicht leicht eine Störung, Gefährdung möglich ist; Veränderungen, Schwankungen kaum unterworfen wie etwa im Ausdruck «eine stabile Wirtschaft». Hauptsächlich meint stabil aber sehr fest gefügt und in sich konstant bleibend, gleichbleibend, relativ unveränderlich wie in «ein stabiler Schrank» oder «ein stabiler Zustand». Wenn die Politik in der Schweiz also stabil ist, dann ist sie unveränderlich, gleichbleibend und sehr fest gefügt. Und genau das ist das Problem der Schweizer Politik. An den Wahlen 2019 haben nur gerade 45,1 Prozent der wahlberechtigten Schweizerinnen und Schweizer teilgenommen – 3,4 Prozentpunkte weniger als 2015. Vielleicht hat das einen Grund. Vielleicht gehen immer weniger Menschen in der Schweiz an die Wahlurne, weil sie wissen, dass die Politik in der Schweiz so unveränderlich ist wie ein stabiler Schrank: gleichbleibend und sehr fest gefügt.

Das Problem ist nur: die Sitze der Damen und Herren Bundesräte mögen sehr fest gefügt sein, die Schweizer Politik mag gleichbleibend und das Machtgefüge unveränderlich sein – die realen Verhältnisse in der Schweiz sind es nicht mehr. Ein der Schweiz kommen derzeit Dinge ins Rutschen, die über Jahrhunderte eine feste Basis bildeten. Das vermeintlich ewige Eis in den Schweizer Alpen zum Beispiel taut seit den 90er Jahren immer rascher auf. Die «NZZ» hat diese Woche auf einer eindrücklichen Doppelseite beschrieben, wie der Klimawandel den Permafrost in den Schweizer Bergen zum Schmelzen bringt. Das Risiko für Felsstürze und Schlammlawinen steigt rasch. Die Menschen im Engadin müssen sich schützen. «Die Bergseite von Pontresina ist eine Festung», schreibt die «NZZ». «Über den letzten Häusern türmt sich ein bis zu 13,5 Meter hoher Steinwall auf.»[6] Ohne diesen Wall wären die Menschen in Pontresina nicht mehr sicher. Wie ihnen geht es immer mehr Menschen in den Alpen. Die Alpen sind nicht mehr stabil. Und glauben Sie mir: Wenn sich die Schweiz nicht mehr auf ihre Berge verlassen kann, dann kommt etwas ins Rutschen in diesem Land.

Dreck im Wasser und in der Luft

Und es sind nicht nur die Alpen, die nicht mehr sind, was sie einmal waren. Es stellt sich heraus, dass das Wasserschloss Schweiz ein Problem hat mit sauberem Trinkwasser. Im Oktober ergab eine Untersuchung, dass im Kanton Aargau das Trinkwasser jeder achten Gemeinde zu viel Chlorothalonil aufweist.[7] Das ist ein gefährliches Pestizid. Diese Woche haben die Basler Industriellen Werke IWB bekannt gegeben, dass das Basler Trinkwasser Ethyldimethylcarbamat enthalten habe. Die chemische Substanz stammt aus einem Werk von Bayer Schweiz AG. Die Substanz ist über das Abwasser in den Rhein und von da ins Trinkwasser gelangt.[8] Am Tag danach war in unserem Quartier Evian-Mineralwasser ausverkauft. Wenn die Schweizer im Wasserland Schweiz dem Hahnenwasser nicht mehr vertrauen, gerät etwas ins Rutschen. 2020 kommt voraussichtlich die Trinkwasserinitiative zur Abstimmung. Sie verlangt, dass nur noch Bauern Direktzahlungen erhalten, die keine Pestizide spritzen und nur so viele Tiere halten, wie ihr Land ernähren kann. Der Bauernverband schiesst bereits aus allen Rohren gegen die Initiative. Würde die Initiative angenommen, müssten viele Bauern in der Schweiz ihre Arbeit umkrempeln. Die Initiative hat gute Chancen, angenommen zu werden. Denn die Bevölkerung hat den chemischen Dreck im Wasser satt.

«Basel-Stadt hat ein Stickstoffdioxid-Problem», sagte letzte Woche der Leiter des Lufthygieneamts beider Basel gegenüber Radio SRF.[9] Messresultate des Amtes zeigen, dass an manchen Standorten in der Stadt im letzten Jahr der Jahresemissionsgrenzwert um über 50 Prozent überschritten wurde. Das Lufthygieneamt sucht deshalb Wege, in Basel Umweltzonen einzuführen. In solchen Zonen dürfen nur noch Autos fahren, welche strenge Grenzwerte erfüllen. Der ACS läuft bereits Sturm gegen die Idee. Doch die Bevölkerung hat den Dreck in der Luft satt.

Es kann deshalb gut sein, dass Bewegung in die Schweiz kommt. Dass die Schweiz nicht mehr lange unveränderlich, gleichbleibend und sehr fest gefügt bleibt, dass etwas ins Rutschen kommt. Doch das ist kein Grund, deshalb in Panik auszubrechen. Wer Velo fährt, weiss, dass ein fahrendes Velo viel stabiler ist als ein Stehendes. Gerade die Bewegung macht es stabil. Angesichts all der Herausforderungen würde es Sinn machen, eine grüne Politikerin oder einen grünen Politiker in den Bundesrat zu wählen. Es wäre dies eine Bewegung, welche die Schweiz stabiler machen würde.

Basel, 15. November 2019, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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Quellen:

[1] Vgl. «Political Risk Map 2019»: https://www.marsh.com/uk/campaigns/political-risk-map-2019.html

[2] Vgl. «Magie von der Falkenstrasse. Die Genese des Begriffs ‹Zauberformel›» «NZZ» vom 27. November 2003; https://www.nzz.ch/article98JPQ-1.335936

[3] In der «Samstagsrundschau» von Radio SRF am 9. November 2019, vgl: https://www.srf.ch/sendungen/samstagsrundschau/petra-goessi-parteipraesidentin-der-fdp

[4] Vgl. «Das Frauenstimmrecht in der Schweiz; https://de.wikipedia.org/wiki/Frauenstimmrecht_in_der_Schweiz

[5] Vgl. Botschaft und Beschlussentwurf vom 22. Februar 1957 zur Einführung des Frauenstimmrechts: https://www.parlament.ch/centers/documents/de/verhandlungen-7338-frauenstimmrecht-einfuehrung.pdf

[6] Vgl. «Die Gefahr lauert im Berg: Wie sich das Engadin gegen die Folgen des Klimawandels wappnet» In: «NZZ», 13.11.2019; https://www.nzz.ch/schweiz/klimawandel-wie-das-engadin-mit-der-zeitbombe-permafrost-umgeht-ld.1519980

[7] Vgl. «Aargauer Zeitung», 29.10.2019: https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/kanton-aargau/untersuchung-des-kantons-zeigt-zu-viel-chlorothalonil-in-jeder-achten-aargauer-gemeinde-135890029

[8] Vgl. «Regionaljournal Basel Baselland» von Radio SRF, 13. November 2019: https://www.srf.ch/news/regional/basel-baselland/trinkwasser-chemische-substanz-im-rhein-in-region-basel-gefunden

[9] Vgl. «Regionaljournal Basel Baselland» von Radio SRF, 8. November 2019:  https://www.srf.ch/news/regional/basel-baselland/schadstoffbelastung-in-basel-lufthygieneamt-will-eine-umweltzone-testen

4 Kommentare zu "Die Schweiz ist stabil – und deshalb verkrustet"

  1. „Verkrustet“ ist eine Wertung und subjektiv.
    Stabil; Stabilität hingegen eine messbare Grösse.
    Gut, wenn´s in unserem Land konservativ zugeht. Dies heisst Planungssicherheit, Ordnung und schlussendlich Lebenssicherheit. Konservative Werte, welche gerade von den Jungen wieder hochgehalten werden.
    NB: Doch einen grünen Bundesrat würde es vertragen (auf Kosten der CVP, denn: siehe Wählerstärke und Sitze, welche gerade bei der CVP mehrheitlich durch raffinierte und kalküle Listenverbindungen erschmuggelt wurden…), sowie (jetzt erstmal) auch eine grüne Ständerätin Baselland gut anstehen würde.
    Abwarten und Tee trinken, bald wissen wir mehr….

  2. Die Schweiz erlebe ich politisch mehrheitlich nicht so sehr als stabil, sondern eher als machthierarchisch festgefahren und zugleich labil. Grüne erfahre ich dagegen als agil und mit Kopf, Herz, Hand und Fuss am Tun. Den Wandel, den die Schweiz braucht, können Grüne aber nicht allein schaffen. Und mit Parteien wie die CVP, FPD, SP und SVP ist es schwierig, haben sie doch schon allein bei sich selber den Wandel verpasst. Die CVP, FDP, SP und SVP schaffen es offensichtlich nicht, mit Vielfalt kokreativ und konstruktiv umzugehen. Im 21. Jahrhundert ist aber nicht mehr Einfalt, sondern Vielfalt die Normalität. Dass die real existierende parlamentarische Mehrheit in der Regel an real bestehenden Bedürfnissen, Chancen und Herausforderungen vorbei politisiert, zeigt sich mir unter anderem mit den Petitionen, Initiativen und Referenden, die zu Hauf und langsam aber sicher unüberschaubar ausserparlamentarisch und digital unterwegs sind.

  3. Mehr Flexibilität und Offenheit im Bundesrat wäre sicher wünschbar oder sogar nötig. Wenn die Grünen aber am 11. Dezember den Sitz von KKS angreifen, dann sind sie sicher nicht reif für eine Bundesrätin oder einen Bundesrat. Und es wäre besser, sie müssten in vier Jahren beweisen, dass ihr Siegeszug nachhaltig ist.

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