Die mediale Überwältigung

Publiziert am 27. September 2019 von Matthias Zehnder

Es ist paradox: Noch nie haben die Menschen so viele Zeit aufgewendet für die Nutzung von Medien – gleichzeitig ging es den (meisten) Medien wirtschaftlich noch nie so schlecht. Und: Noch nie standen den Menschen so viele Informationen zur Verfügung – gleichzeitig waren noch nie so viele Fake News im Umlauf. Was ist da los? Die Ursache liegt in einer Explosion des Medialen, die ihren Ursprung in der Digitalisierung hat. Ich nenne diesen Effekt die «mediale Überwältigung». Warum das ein Problem ist, lesen Sie hier.

Als ich die «Coopzeitung» leitete, lag auf meinem Pult als Erinnerung an vergangene Tage eine Ausgabe der Zeitung aus den 20er Jahren. Die «Zeitung» war damals ein vierseitiges Mitteilungsblatt des Konsumvereins Basel. Auf der Frontseite oben rechts prangte ein Kasten, in dem stand: «Auch auf der vierten Seite noch wertvolle Informationen!» Das war offenbar so bemerkenswert, dass es auf der ersten Seite mitgeteilt und diese Mitteilung auch noch speziell herausgehoben wurde. Es war nicht selbstverständlich, dass es vier Seiten «wertvolle Informationen» gab.

Das Beispiel mag anekdotisch sein, es illustriert einen grundsätzlichen Wandel in der Verfügbarkeit des Medialen. Über Jahrhunderte waren Medien etwas äusserst Wertvolles. Bis etwa im 18. Jahrhundert waren Bücher in Privatbesitz eher die Ausnahme als die Regel.[1] Auswertungen über den Buchbesitz von Familien im 18. Jahrhundert zeigen zum Beispiel, dass ein Haushalt im Schnitt fünf Bücher besass.[2] Mindestens eines davon war die Bibel, in katholischen Haushalten kam der Katechismus dazu. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war das wohl nicht viel anders: In den Haushalten stand eine Handvoll Bücher im Regal. Dazu kam die Zeitung, die zwei- bis dreimal am Tag erschien. Ein Abonnement für eine solche Zeitung hatten aber die wenigsten. Die Zeitung las man in der Wirtschaft.

Um 1900 verbrachten die Menschen etwa 10 Stunden pro Woche mit Medien. 100 Jahre später sind es rund 100 Stunden pro Woche – das sind erstaunliche 14 Stunden pro Tag.[3] Medienproduzenten sollten jubeln, weil ihre Produkte so stark nachgefragt werden. Doch das Gegenteil ist der Fall: Obwohl noch nie so viele Medien genutzt wurden, ging es den meisten Medien wirtschaftlich noch nie so schlecht. Wie kann das sein?

Digitalisierung ist immer auch Medialisierung

Ursache für diese Entwicklung ist die Digitalisierung. Vor der Digitalisierung boten die klassischen Medien die einzige Möglichkeit, Informationen und Werbung zu verbreiten. Dann machte die Erfindung des World Wide Web Anfang der 90er Jahre das Internet für Normalverbraucher nutzbar und die Zahl der Informationsanbieter explodierte – und damit die Zahl der Medien. Denn Digitalisierung ist immer auch Medialisierung. Allein im World Wide Web sind heute über 1,7 Milliarden Websites abrufbar.[4] Die Suchmaschine Google verzeichnet über 60 Billionen einzelne Seiten in ihrem Index.[5] Dazu kommen Millionen von Datenbanken, elektronischen Büchern und natürlich die Angebote der Sozialen Medien.

Die Folge: Kostbar ist heute nicht mehr die Information, sondern die Aufmerksamkeit der Betrachter. Aufmerksamkeit ist Zeit – und damit stark begrenzt. Ganz im Gegensatz zur Information, die sich nahezu beliebig vermehren lässt. Mit Information lässt sich nur noch dann Geld verdienen, wenn sich damit Zeit sparen lässt, etwa durch stringente Zusammenfassungen, nützliche Erklärungen, einfach zugängliche Übersichten – also im Grunde mit Metainformation. Darauf setzen heute Medien wie die «NZZ» oder die «Zeit»: Sie pumpen also ihre Kunden nicht mit möglichst viel Informationen voll, sondern sparen ihren Kunden Zeit, indem sie auswählen, zusammenfassen und erklären.

Werbung wandert ab ins Netz

Mit der Zahl der Medien ist im Internet auch die Zahl der Werbeträger explodiert. Wer heute eine Marke, ein Angebot oder ein Ereignis bekannt machen will, muss keine Werbeschaltung in einem klassischen Medium mehr buchen. Das geht schneller und vor allem viel gezielter im Internet. Die wichtigsten Werbevermarkter der Welt sind heute deshalb Google und Facebook – auch in der Schweiz. Sie schalten auf Millionen von Websites Werbung, die mutmasslich den Interessen der Besucher entspricht. Welche Werbung auf meiner Website angezeigt wird, entscheide nicht ich, sondern ein Algorithmus von Google. Werbung und Inhalt finden erst auf dem Computer des Benutzers zusammen. Das bedeutet auch: Der Werbeplatz hat an Bedeutung verloren. Entscheidend ist, dass die Zielperson die Werbung sieht – auf welcher Website die Werbung steht, ist dabei eigentlich egal.

Darunter leiden seit mehreren Jahren die gedruckten Zeitungen: Sie verlieren seit Jahren etwa 10% bis 15% Werbeumsatz pro Jahr. Mittlerweile geht es auch der Fernsehwerbung an den Kragen: 2019 fehlen SRF rund 30 Millionen Franken Werbeumsatz. Fernsehdirektorin Nathalie Wappler begründet den Rückgang des Umsatzes damit, dass «das Geld der Werbeauftraggeber immer mehr in Richtung Online» abwandere.[6] Am Freitag hat SRF deshalb bekannt gegeben, dass aus Spargründen 2020 neben «Sternstunde Musik» und «Arena/Reporter» auch die Sendung «Schawinski» gestrichen werde. Wann der 74jährige Talkmaster in Pension geschickt wird, steht noch nicht fest. Das hänge auch von Schawinskis «künftigen Berufsplänen» ab, schreibt SRF.[7]

Mehr Informationen, schlechter informiert

Und noch eine Paradoxie ist feststellbar: Noch nie in der Geschichte der Menschheit hatte jede und jeder so viele Informationen at your fingertip verfügbar. Dennoch waren wohl noch nie so viele Fake News im Umlauf und es war deshalb noch nie so anspruchsvoll, sich richtig zu informieren. Selbst der amerikanische Präsident propagiert alternative Facts, also Fakten, die nicht auf Tatsachen beruhen, sondern auf Meinungen. Die Wirksamkeit einer Information ist nicht mehr eine Frage der Wahrheit, sondern der Macht. Wie kann das sein?

Die Explosion des medialen Angebots durch die Digitalisierung hat dazu geführt, dass Information in beliebiger Menge und Qualität verfügbar ist. In diesem Informationshaufen die richtige Information zu finden, wird für den Benutzer immer aufwändiger. Es ist nicht die Suche der Nadel im Heuhaufen, es ist viel schlimmer: Es ist die Suche der Nadel im Nadelhaufen. Den allermeisten Informationen sieht man ihre Qualität nicht an. Die Website eines Quacksalbers und die eines Universitätsspitals können, oberflächlich betrachtet, ganz ähnlich aussehen. Journalisten und Historiker lernen, Quellen zu bewerten. Sie sind deshalb in der Lage, die Glaubwürdigkeit einer Quelle zu beurteilen. Die Digitalisierung der Information im Internet hat dazu geführt, dass jede Nutzerin und jeder Nutzer diese Arbeit selbst erledigen muss.

Inseln der Glaubwürdigkeit

Genau da könnten (und sollten) die Medien ansetzen: Medien sollten in diesem schillernden Meer von schwer zu beurteilenden Informationen zu Inseln der Glaubwürdigkeit werden, welche Informationen beurteilen und bewerten und mit ruhiger Hand ihre Nutzerinnen und Nutzer durch die Untiefen des Informationsmeers führen. Doch Medien sehen sich in einem Zielkonflikt. Im Internet wird kurzfristig Aufmerksamkeit belohnt durch Klicks und damit durch Werbeumsatz. Das führt zu einer Boulevardisierung des Journalismus, zum Bewirtschaften von Aufmerksamkeit und Empörung. Wenn es um zahlende Nutzerinnen und Nutzer geht, spielen kurzfristige Aufmerksamkeitsreize fast keine Rolle. Leser, die über 500 Franken im Jahr für eine Zeitung bezahlen, suchen Relevanz, Erklärstücke über den Tag hinaus, konkreten Nutzen, keine Bachelorette-Stoffe. Weil kurzfristige Anreize aber oft stärker sind als langfristige, haben sich viele Medien auf den Aufmerksamkeitsmarkt ausgerichtet und bewirtschaften Klicks und Quoten statt Qualität.

Dazu kommt, dass viele andere «Informationsanbieter» gar kein Interesse haben an seriösen, neutralen Stellen, welche Informationen validieren. Der amerikanische Präsident etwa tituliert alle, die sich nicht seiner Meinung anschliessen, als «Fake News» und «failing». In China, der Türkei, Russland und Ungarn belassen es die jeweiligen Herrscher nicht bei Beleidigungen. Und nicht nur Autokraten haben etwas gegen unabhängige Informationsquellen. Der «Kassensturz» von SRF etwa mag seiner unerbittlichen Produktekritiken wegen bei Konsumenten beliebt sein – von vielen Firmen wird er gehasst und in so manchem Sitzungszimmer würden die Champagnerkorken knallen, wenn diese Sendung abgesetzt würde.

Die mediale Überwältigung

Die schlechte wirtschaftliche Situation der Medien und die schlechte Lage auf dem «Informationsmarkt» haben also dieselbe Ursache: die Explosion des Medialen durch die Digitalisierung. Aus Benutzersicht formuliert: Wir sehen uns mit immer mehr Medienangeboten konfrontiert, aus denen auszuwählen immer schwieriger wird. Diese Situation bezeichne ich als «mediale Überwältigung». Sie fordert vom Menschen plötzlich völlig andere Fähigkeiten und Fertigkeiten, als er über Jahrhunderte entwickelt hat. Bis in die 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts war Information etwas Wertvolles. Wir haben uns als informationelle Jäger und Sammler durch die Informationswelt bewegt. Heute gehen wir im Medialen unter. Wir müssen lernen, in einem tückischen Informationsmeer zu schwimmen, damit wir nicht vom Medialen überwältigt werden. Und die klassischen Medien? Es werden jene Medien überleben, die nicht zum Ansteigen des Informationsmeeresspiegels beitragen, sondern die zum Rettungsboot werden – und damit zur Hilfe gegen die mediale Überwältigung.

Basel, 27. September 2019, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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Quellen

[1] Vgl. Alfred Messerle: Lesen und Schreiben 1700 bis 1900: Untersuchungen zur Liberalität in der Schweiz. Walter de Gruyter, Zürich 2002, S. 15

[2] Vgl. Petra Schaf: Buchbesitz im Herzogtum Württemberg im 18. Jahrhundert am Beispiel der Amtsstadt Wildberg und des Dorfes Bissingen/Enz. Stuttgart: Jan Thorbecke Verlag 2002; S. 98 f.

[3] Vgl. Global Media Consumption per Week, WAN-IFRA, https://www.wan-ifra.org

[4] Vgl. https://www.internetlivestats.com/total-number-of-websites/

[5] Vgl. https://www.google.com/insidesearch/howsearchworks/thestory/

[6] Vgl. Interview mit Nathalie Wappler auf «persoenlich.com»: «Eine Trendwende ist nicht in Sicht» https://www.persoenlich.com/medien/eine-trendwende-ist-nicht-in-sicht

[7] Vgl. «persoenlich.com»: «Aus für ‹Schawinski› und ‹ECO talk›» https://www.persoenlich.com/medien/aus-fur-schawinski-und-eco-talk

2 Kommentare zu "Die mediale Überwältigung"

  1. Medienmisere weil Digitalisierung, weil Inseratenschwund, weil Abwanderung, weil You-Tube, weil weil weil ….Alles schon gehört.
    UND ICH SAGE: ALLES HAUSGEMACHT.
    Nehmen wir mal von den Medien das raus, was (mir) am nächsten liegt. Print, also Zeitungen.
    Letzte Woche war ein Bekannter im Südwesten von Australien.
    Er las „The West Australian“. Es ist das grösste Blatt an der Westküste des Kontinentes. „The West“, wie ihn alle nennen.
    „The West“ erinnert den Leser an eine Zeitung, wie es sie bei uns vor fünfundzwanzig Jahren gab. Die Samstagsausgabe z.B. ist etwa ein Kilogramm schwer, hat insgesamt 250 Seiten und ist bestückt mit fetten redaktionellen Beilagen wie Wellness-Extra, Reise-Extra, Wohn-Extra, TV-Extra und Kultur-Extra.
    Verglichen mit CH-Titeln platzt „The West“ zudem geradezu vor Werbung. Ganzseitige Anzeigen folgen auf ganzseitige Anzeigen, etwa von Restaurantketten, Modehäusern und Autohändlern. Sogar die legendären Doppelseiten, die bei uns längst ausgestorben sind, finden sich noch mehrfach im Blatt, das mir gezeigt wurde.
    Die gedruckte Auflage des Blattes, noch ein Wunder, ist seit 2016 im Steigen. Die bestverkaufte Ausgabe am Samstag kommt auf etwa 200´000 Exemplare.
    Das alles ergibt ein Strassenbild, das für uns inzwischen völlig ungewohnt ist. In den Cafes sitzen Menschen, die nicht auf ein Handy starren, sondern in die gedruckte Zeitung blicken. Auf der Strasse sieht man oft Passanten, die eine Zeitung unter dem Arm tragen. Das gibt es im „hochintellektuellen, kulturellen, mehrbessern-Basel schon lange nicht mehr.
    DER GRUND für das gute Rendement liegt im guten (im Gegensatz zu uns) publizistischen Ansatz. Australische Blätter schreiben erstaunlich häufig über Themen, welche die Leser interessieren. Sie schreiben dafür erstaunlich selten über Themen, welche nicht die Leser, sondern nur die Journalisten interessieren.
    Bei uns, im deutschsprachigen Raum ist ja die Regel, dass jedes Blättchen (oder weiter gefasst, jedes Medium) auch noch den hundertsten schlauen Kommentar zum US-Budget und die hundertste schlaue Analyse zu Indiens Konflikt mit Pakistan abliefern will. Die Redaktionen bei uns sehen sich als Weltblätter und voll am Puls des Weltgeschehens. Die Redaktionen schreiben für sich selbst.
    Den australischen Blätter hingegen, so die Beobachtung, sind der (bei uns immer so oft falsch und so oft zornig dargestellte) Donald Trump und/oder der indische Politiker Narenda Modi reichlich egal. In Australien schreiben die Journalisten konsequent vor der eigenen Haustür. Die Seite eins bringt den versöhnlichen Handschlag zweier verfeindeten Lokalpolitiker, auf Seite drei gibt es das neugeborene Tigerbaby im Zoo, auf Seite fünf folgt der grosse Sporttag der Mittelschüler. Donald Trump und Narenda Modi schaffen es irgendwann auch noch ins Medium (Zeitung), aber erst auf Seite 60, knapp vor dem regionalen Veranstaltungskalender.
    Ich glaube, diese erbarmungslose Nähe zum eigenen Revier ist das beste Erfolgsrezept, wie Medien wieder interessant werden und gedruckte Zeitungen auch künftig gut über die Runden kommen. Es sichert die Treue der Leser/Zuhörer und -seher und bringt die regionalen Werbekunden ins Boot.
    Für unsere CH-Redaktionen ist das ja aber alles „bad news“. Sie wollen über das grosse Weltgeschehen berichten, diese Herren und Damen von Welt. Und es ist ja viiiel einfacher, einen Donald Trump zum dreihundertstenmale schlechtzuschreiben und dabei den „Grossen“ rauszuhängen als kritisch über z.B, eine Baselbieter Nationalrätin, welche eine Dummheit gemacht hat (und von denen gibt es ja einige), weil man die Baselbieter Nationalrätin vielleicht irgendwann an einem Anlass oder auf dem Trottoir begegnen kann und ihm ins Gesicht blicken muss. Aber das gehört zum Journalismus. Trump wird man selten an der Falknerstrasse, an der Markthalle oder am Claraplatz treffen.
    Unsere Journalisten müssten weniger für „betreutes Denken“ der Leser-/Zuseher-/Zuhörerschaft sorgen, sondern sie müssten sich wie Journalisten des Lokalkolorits aufführen und vor der eigenen Haustür schreiben.
    Dann werden sie wieder interessant und können all den negativen Widrigkeiten Gegensteuer geben, welche angeblich Schuld sein sollen/Schuld herhalten müssen fürs eigene Scheitern.
    Doch das ist hart, wenn man für die Welt und für die (CH-) Weltblätter/Medien geboren ist.

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