Die leeren Versprechen der Technologiebranche

Publiziert am 14. Januar 2022 von Matthias Zehnder

Technologiekonzerne sind bekannt für ihre vollmundigen Versprechen – und dafür, dass viele der Versprechen nie eingelöst werden. Eigentlich sollten wir das alle mittlerweile wissen. Trotzdem fallen wir immer wieder darauf herein und freuen uns auf sensationelle Neuigkeiten oder lassen uns über Mängel hinwegtrösten mit dem Hinweis darauf, dass all diese Probleme spätestens demnächst gelöst sein werden. Auch in diesem Jahr gibt es eine Reihe von Zukunftsversprechen, die heuer garantiert nicht eintreten werden. Ich habe Ihnen vier grosse und vier kleine dieser Versprechen zusammengestellt. Technologieversprechen, die auch 2022 garantiert nicht eingelöst werden.

Vapourware. Dampfartikel. So nannte man früher Geräte und Programme, die vor allem von Computerfirmen angekündigt, aber nie auf den Markt gebracht wurden. Die Ankündigungen waren heisse Luft. Und sind es in vielen Fällen bis heute geblieben. In der Welt der neuen Technologien hat so manche Ankündigung mehr mit einem Roman von Jules Verne zu tun als mit einer seriösen Aussage. Das ist auch 2022 so: Auch in diesem Jahr werden eine Reihe von grossen Versprechungen der Tech-Branche nicht eingelöst werden. Ich nenne Ihnen vier grosse und vier kleine Versprechen, auf die Sie auch 2022 vergeblich warten werden.

Smart Homes

Beginnen wir mit dem Smart Home, also dem intelligenten Zuhause. Damit sind Techniken gemeint, mit deren Hilfe sich in einem Haus oder in einer Wohnung Haustechnik, Haushaltgeräte und Unterhaltungselektronik vernetzen und steuern lassen. Eine solche smarte Steuerung der Haustechnik macht es zum Beispiel möglich, die Rollläden zu programmieren, die Leistung der Heizung vorausschauend nach den Wetterprognosen zu richten oder das Licht möglichst energiefreundlich zu schalten. Es geht dabei also nicht um Unterhaltung, es geht um möglichst gutes Management der Geräte. Zum Smart Home könnte zum Beispiel eine App auf meinem Handy gehören, die mir jederzeit meinen aktuellen Energieverbrauch anzeigt. Auf diese Weise wäre Energiesparen viel einfacher, weil ich sehe, was es bringt, wenn ich eine Lampe oder eine Maschine ausschalte. 

Das Smart Home ist keine neue Idee. Davon reden wir schon seit mindestens 20 Jahren. Was sich in den Prospekten der Anbieter einleuchtend und überzeugend liest, ist in der Praxis aber kaum möglich, es sei denn, Sie bauen ein neues Haus auf der grünen Wiese. Es gibt schlicht zu viele verschiedene Techniken und Pseudo-Standards. Vor allem Heizungen sind exotische Systeme geblieben, die sich kaum einbinden lassen. Aber auch die Steuerung der Beleuchtung ist in einem alten Haus teuer bis unmöglich. Allenfalls lassen sich per App ein paar LED-Leuchten steuern, aber auch dafür arbeitet jeder Anbieter mit einer eigenen Technik. Auch Apple hat das Problem bisher nicht gelöst. Es gibt zwar Apple Home und eine gleichnamige App, wirklich nutzbar ist die Sache aber bis heute nicht. Vielleicht liegt es schlicht an den Gebäuden. Denn selbst an so einfachen Dingen wie der Versorgung aller Räume mit einem guten WLAN-Signal scheitert der gemeine Familienvater meist kläglich. Das Smart Home bleibt deshalb mindestens in Altbauliegenschaften auch 2022 ein leeres Versprechen. 

Digitalisierung im Gesundheitswesen

Die allermeisten Menschen in der Schweiz erledigen ihre Bankgeschäfte heute per Internet: Sie loggen sich bei ihrer Bank ein, lösen Zahlungen aus oder betreuen ein Aktiendepot. Der grosse Vorteil dabei ist, dass ich als Kunde jederzeit den Überblick über meine Finanzen habe. Was ist wichtiger als Geld? Richtig: die Gesundheit. Während ich die Anlagedaten meiner dritten Säule bis auf die siebte Stelle hinter dem Komma abrufen kann, muss ich mein letztes Blutbild bei meinem Arzt auf dem Bildschirm mit dem Handy abfotografieren. Oder er schickt mir die Zahlen per E-Mail – sicherheitsmässig ein Alptraum. Sinnvoll wäre es doch, wenn ich meine Gesundheitsdaten und Untersuchungsergebnisse wie meine Bankdaten an einem sicheren Ort elektronisch aufbewahren und bei Bedarf abfragen könnte. Oder einem Arzt gezielt Zugriff darauf geben könnte. Genau das wäre die Idee des elektronischen Patientendossiers (EPD).

In der Schweiz ist seit Jahren davon die Rede – verfügbar ist es nicht. Das hat im Wesentlichen zwei Gründe. Zum ersten ist das Gesundheitswesen Sache der Kantone und deshalb, sie erraten es, von Kanton zu Kanton unterschiedlich. Der Bund kann oder will nicht eingreifen. Und wenn, dann delegiert er digitale Vorhaben zum Beispiel an eine Stiftung wie beim digitalen Impfbüchlein – mit, wie wir mittlerweile wissen, verheerendem Resultat. Der zweite Grund: Die Akteure im Gesundheitswesen haben sehr unterschiedliche Interessen. Krankenkassen, Spitäler, Hausärzte,  Notfallmediziner, die Pharmaindustrie – alle ziehen sie an einem eigene Strick in eine andere Richtung. Auf der Strecke bleiben dabei die Interessen von uns Patientinnen und Patienten. So kann ich zwar auf der App meiner Krankenkasse die letzten Arztrechnungen einsehen und prüfen, wieviel von meiner Franchise schon aufgebraucht ist. Was der Arzt dabei genau gemacht hat und welche Werte mein Blutbild zeigt, das bleibt auch 2022 nicht abrufbar.

Virtuelle Realität

Es gibt kaum ein Buzzword aus der Computerwelt, das so oft bemüht wird wie das der virtuellen Realität (VR). Gemeint ist damit eine computergenerierte Wirklichkeit, in die ich eintauchen und in der ich mich bewegen kann. Möglich ist das mit Bildschirmbrille und Datenhandschuh. So üben amerikanische Marines zum Beispiel, wie sie ein bestimmtes Gebäude erstürmen können und Chirurgen üben so die Handgriffe für eine Operation ein. Normalverbrauchern ist die virtuelle Realität bis heute kaum zugänglich. Zwar gibt es durchaus Bildschirmbrillen, die Konsumenten kaufen können. Die grossen Versprechen der virtuellen Realität scheitern aber einerseits am Angebot – es gibt nicht wirklich viele virtuelle Welten, in die man so eintauchen kann – und andererseits an der Umsetzung. Wer sich eine solche Brille aufsetzt und sich in einer virtuellen Welt bewegt, muss sich in einem sicheren Raum befinden. Im Wohnzimmer und umgeben von Kindern geht das nicht.

Auch von solch prosaischen Problemen abgesehen erweist sich die virtuelle Realität auch 2022 als leeres Versprechen – oder als reine Überhöhung, als Marketing-Schönsprech. Sie können natürlich eine Zoom-Konferenz als virtuelle Realität bezeichnen, es ändert aber nichts daran, dass sie auf Ihrem Bildschirm schlecht beleuchteten Gesichtern zuschauen, wie sie knapp an Ihnen vorbeisehen und als erstes unweigerlich fragen: «Hört Ihr mich?» Am nächsten kommen den Träumen von der virtuellen Realität heute Spiele. Es ist tatsächlich phantastisch, wie realistisch die errechneten Landschaften und Räume eines guten Games heute aussehen. Auch Regen, Staub oder Nebel lassen sich wunderschön und in Echtzeit generieren. Wenn Ihr Spielcomuter dafür genügend power hat. Bloss: Ausserhalb von Spielen und Spezialanwendungen wie dem Training von Chirurgen sind so aufwändig präzise Darstellungen nicht möglich – oder schlicht nicht nötig. Die virtuelle Realität bleibt Marketing-Schönsprech

Selbstfahrende Autos

Tesla, Google und einige traditionelle Autofirmen sind erstaunlich weit gekommen bei der Entwicklung des selbstfahrenden Autos. Man kann tatsächlich das Lenkrad schon mal loslassen, das Auto fährt weiter. Viel weiter wird die Entwicklung aber nicht gehen, schon gar nicht 2022. Der Grund ist einfach: Eine von unvorhersehbar handelnden Menschen bevölkerte Welt ist und bleibt für einen Computer schwer durchschaubar. Eine künstliche Intelligenz ist dem Menschen massiv überlegen, solange wir uns in einem geschlossenen System mit klaren Regeln bewegen. Wenn es um Schach, Dame oder ein beliebiges anderes Spiel geht, hat der Mensch gegen den Computer heute keine Chance mehr. Der Strassenverkehr ist aber kein geschlossenes System. Es gibt zwar Regeln wie die Strassenverkehrsordnung, aber im Verkehr kann man sich nicht darauf verlassen, dass sich die anderen Verkehrsteilnehmer daran halten.

Das komplett selbstfahrende Auto bleibt deshalb ein Traum. Moderne Autos verfügen über intelligente Assistenzsysteme. Sie können die Fahrerin, den Fahrer unterstützen beim Einhalten von Abständen, beim Spurhalten oder beim Einparken. Sie merken vielleicht, wenn es regnet und wischen automatisch die Scheibe oder schliessen die Fenster. Das heisst aber nicht, dass solche Autos sich gefahrlos durch eine Spielstrasse bewegen können. Wirklich selbstfahrend werden Autos in absehbarer Zukunft nur auf separaten Spuren oder gar eigenen Strassen sein – das ist in der Schweiz nicht realistisch. 

Smart Homes, die Digitalisierung im Gesundheitswesen, virtuelle Realität und selbstfahrende Autos, das sind vier Versprechungen der Technologiebranche, die auch 2022 nicht realisiert werden. Es sind zugegebenermassen grosse Versprechen. Sie werden sich auch in absehbarer Zukunft nicht einlösen lassen. Es gibt aber auch eine Reihe von kleinerenVersprechen, die kein Computer einhalten kann, auch 2022 nicht. Es sind Dinge, über die wir alle uns täglich ärgern.   

Eine anständige Autokorrektur

Sie kennen das sicher auch: Sie schreiben einen Text auf dem Handy oder am Computer und ohne ihr Zutun ändert der Computer ein Wort oder, noch schlimmer, einen Namen. Das ist die Autokorrektur, also ein Computerprogramm, das im Hintergrund arbeitet und in der Lage ist, Schreibfehler zu korrigieren. Bei einfachen Vertippern ist das ein Segen. Die Autokorrektur kann eine falsche Buchstabenreihenfolge wie «nomrlaen» korrigieren in «normalen», sie kann ein bisschen unterstützen bei dem Setzen von Satzzeichen – wirklich Korrigieren kann das Programm aber nicht. Schon gar nicht, wenn sie etwas kreativer umgehen mit der Sprache oder wenn Sie Standarddeutsch mit Englisch oder Dialekt mischen. Dann wird die Autokorrektur zur Plage. Der Grund: Der Computer versteht nicht, was Sie schreiben. Er kennt nur Zeichen und Wahrscheinlichkeiten. Den magischen Sprung auf die Ebene der Bedeutung kann der Computer nicht machen. Er weiss letztlich nicht, was der Unterschied ist zwischen «Busse» und «Buße». Er weiss nur, dass man Buße tut und Busse fährt – und vom Bussi hat er erst recht keine Ahnung. Eine gute Korrektorin versteht die Sprache, die sie korrigiert – beim Computer bleibt das unmöglich.

Sprechen mit dem Computer

Deshalb bleibt auch die Steuerung des Computers durch gesprochene Sprache ein weitgehend nicht eingelöstes Versprechen. Die Sprachassistenten, ob sie nun Siri, Alexa oder Bixby heissen, erweisen sich in der Praxis als recht enge Geister. Die Apple-Frau ist gut darin, klar definierte Aufgaben zu erledigen. Etwa einen Timer zu stellen. Wenn es über solch simple Aufgaben hinausgeht, ist die Antwort meistens: «Ich bin mir nicht sicher, ob ich das richtig verstanden habe.» So kann man es auch sagen. Ich diktiere meine Texte häufig am Computer. Das funktioniert zwar mittlerweile erstaunlich gut, wenigstens im Vergleich zu früher und wenn die Sprache einfach ist. Es bleibt aber weiterhin notwendig, klar und deutlich und etwas abgesetzt zu sprechen, weil der Computer sonst das Band der Sprache nicht entziffern kann. Es gilt, wie bei der AutoKorrektur: Die Sprache bleibt für den Computer ein Geheimnis. 

Ein funktionierender Spam Filter

Ich weiss nicht, wie viele Hundert E-Mails ich pro Tag erhalte. Zum Glück sortiert mein Spamfilter ein grosser Teil davon aus. Anders wäre die Flut nicht zu bewältigen. Leider sortiert der Spam Filter aber immer wieder E-Mails aus, die ich eigentlich hätte erhalten müssen. Und es kommt auch immer wieder vor, dass eine offensichtlich betrügerische E-Mail in meinem Postfach landet. In jüngster Zeit waren immer wieder Nachrichten darunter, die scheinbar von der schweizerischen Post stammten, in Tat und Wahrheit aber Betrugsversuche von einem Offshore-Konto waren. Man könnte meinen, die Aufgabe, die elektronische Post zu sortieren, seid nicht ganz so schwierig. Auch in diesem Feld tut sich der Computer aber schwer, weil er letztlich nicht versteht, was in den Nachrichten steht. Auch 2022 werden Sie und ich deshalb Spam-Mails im Postfach finden – und ab und zu im Spam-Ordner nach richtigen Nachrichten suchen. 

Wireless

Ich liebe meine drahtlosen Kopfhörer. Ich kann telefonieren oder Musik hören, ohne dabei mit einem Kabel an mein Handy gebunden zu sein. Ich kann drahtlos Musik an die Lautsprecher im Wohnzimmer streamen. Meine Tastatur und meine Maus haben keine Kabel. Das ist angenehm, weil sie sich auf diese Weise besser nutzen lassen. Das Notebook macht es möglich, überall im Haus zu arbeiten, manchmal sogar im Garten. Wir leben also ein wunderbar drahtloses Leben. Allerdings nur bis es Abend wird. Am Abend komme ich mir vor, wie ein Bauer, der seine Tiere füttern muss: Jeden Abend schliesse ich alle meine Gerätchen ans Stromnetz an, auf dass sie mir am anderen Tag wieder ihre Dienste leisten. Wehe, wenn ich mal eins vergesse. Dann hat es plötzlich kein Licht mehr am Velo, ich kann nicht mehr telefonieren, weil meinen AirPods der Saft ausgeht oder die Tastatur macht keinen Wank mehr. Hinter den Kulissen benötigt also auch die schöne Drahtloswelt jede Menge Kabel. Das ist auf 2022 so und es wird auf absehbare Zeit so bleiben. Wireless? Von wegen.

Es sind also nicht nur die grossen Versprechen wie das von selbstfahrenden Autos oder intelligenten Häusern, die die Technologiebranche nicht einhält. Es sind auch kleine Versprechen wie die Autokorrektur, Sprechen mit dem Computer, ein funktionierender Spam-Filter und Wireless. Ein Teil der Versprechen lässt sich nicht einhalten, weil die Welt das nicht zulässt. Dazu gehört die Digitalisierung des Gesundheitswesens oder das selbstfahrende Auto. Ein anderer Teil der Versprechen lässt sich nicht einhalten, weil die Technik dazu gar nicht in der Lage ist. In beiden Fällen müssten es die Technikfirmen eigentlich besser wissen.

Ihre Versprechen führen zu übersteigerten Erwartungen und damit zu Frust und Enttäuschung. Das ist schade. Denn eigentlich hat die Technik in den letzten Jahren unglaubliche Fortschritte gemacht. Das selbstfahrende Auto mag Science-Fiction bleiben, es ist fantastisch, wie gut Autos heute die Fahrerin oder den Fahrer unterstützen können. Einen Computer, der mich wirklich versteht, wird es nie geben. Trotzdem kann ich immer mal wieder von der Tastatur zum Diktieren wechseln und so schneller und einfacher schreiben als bisher. Das ist doch toll. Mit ihren unrealistischen Versprechen haben die Technologiefirmen aber für eine Verzwergung der realen Fortschritte gesorgt. Statt Freude über das Erreichte herrscht Frust über das Nichterreichte vor. Selber schuld. 

Basel, 14. Januar 2022, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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Quellen

Bild: © KEYSTONE/Tony Avelar

2 Kommentare zu "Die leeren Versprechen der Technologiebranche"

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