Die grosse Infodemie

Publiziert am 7. Februar 2020 von Matthias Zehnder

Es ist krank. Nein, nicht das Corona-Virus, sondern viele Informationen darüber. Die Weltgesundheitsorganisation WHO spricht deshalb von einer «Infodemie». Die WHO meint damit in erster Linie die Falschinformationen, die über das Virus im Umlauf sind. Ich meine: Auch ein grosser Teil der Medienberichterstattung gehört dazu. So viel Panik war selten. Die Berichterstattung über das Virus ist teils völlig übertrieben. Überraschend ist das nicht: Das Bild entspricht der Mechanik, wie Medien heute funktionieren.

Auf dem Titelbild des letzten «Spiegel» war ein rot vermummter Mensch mit Schutzmaske zu sehen, dazu die Schlagzeile: «Made in China. Wenn die Globalisierung zur tödlichen Gefahr wird.»[1] Auch die sonst zurückhaltende «Zeit» zeigt eine mit Gesichtsmaske vermummte Frau auf der Titelseite, dazu die Schlagzeile: «Der unsichtbare Feind». Unterzeile: «Ein neues Virus versetzt China in Panik – nun ist es auch hier.»[2] Die «BaZ» titelt auf der Frontseite: «Coronavirus führt zu Panikkäufen in Apotheken». Denn: «Die Angst vor dem Coronavirus greift in der Schweiz um sich.»[3] Etwas trotzig titelt die «NZZ»: «Das Coronavirus ist keineswegs zu unterschätzen».[4] Und die deutsche «Bild»-Zeitung fragt: «Darf ich noch Glückskekse essen?»[5]

Kein Zweifel: Mindestens die Medien hat das neue Virus voll im Griff. Es ist ja auch eine Story, die an einen Thriller erinnert: In einer chinesischen Provinz bricht ein neuartiges Virus aus. Tausende stecken sich damit an. Panik bricht aus. Spitäler und Politiker sind überfordert. China greift hart durch und stellt die ganze Provinz unter Quarantäne. Das Virus breitet sich trotzdem aus. Die Wirtschaft nimmt massiven Schaden. Viele Fabriken bleiben geschlossen. Der Tourismus liegt am Boden. Die Messe Schweiz muss die Art Basel Shanghai im März absagen. Kurz: Die Zusammenfassung liest sich wie das Exposé eines Thrillers. Fehlt noch der Forscher, der sein Leben opfert und eine heldenhafte Politikerin, welche die Welt rettet. Doch halt, den heldenhaften Forscher gibt es auch schon. Er heisst Li Wenliang: Der chinesische Arzt hatte bereits im Dezember vor einem neuen Virus in Wuhan gewarnt, wurde aber von den lokalen Behörden zum Schweigen gebracht. Mittlerweile ist er am Virus gestorben. Hätten die Behörden auf ihn gehört, hätten sie viel früher auf das Virus reagieren können.[6]

Sind die Schlagzeilen berechtigt?

Mit anderen Worten: Dieses Corona-Virus ist definitiv eine gute Story. Bloss: Sind die Schlagzeilen auch berechtigt? Darauf gibt es zwei Antworten. Einerseits kann man sagen: Das alles hat sich tatsächlich ereignet. Das Virus ist in China ausgebrochen. Wuhan ist abgeschottet. Die chinesische Wirtschaft muss einen herben Dämpfer hinnehmen. Es sterben tatsächlich Menschen. Stimmt alles. Andererseits ist nicht nur entscheidend, was die Medien berichten, sondern auch, was sie nicht berichten. Nur wer ein vollständiges Bild hat, ist in der Lage, eine einzelne Information einzuordnen. Und genau das ist das Problem. Medien fokussieren systematisch auf das Neue, das Aussergewöhnliche, das Sensationelle. Mit der Folge, dass wir die Bedeutung dieser Nachrichten regelmässig überschätzen.[7]

Ein Beispiel dafür sind Nachrichten über Flugzeugunfälle. Diese Woche zum Beispiel die Nachricht über ein Flugzeug der türkischen Gesellschaft Pegasus, das bei der Landung auf dem Istanbuler Flughafen Sabiha Gökcen von der Landebahn abgekommen und auseinandergebrochen ist.[8] Wenn irgendwo auf der Welt ein Flugzeug abstürzt oder, wie der Pegasus-Flieger, bei der Landung Probleme hat, berichten unsere Medien darüber. Wir erfahren so von jedem Flugzeugunglück – von all den Flugzeugen, die unbeschadet starten und landen, hören wir aber nie etwas. Das führt dazu, dass die Gefahr des Fliegens massiv überschätzt wird. Als Faustregel gilt: Wenn Sie es an den Flughafen geschafft haben, haben Sie den gefährlichsten Teil der Reise schon hinter sich. Der Strassenverkehr ist nämlich wesentlich gefährlicher als jede Flugreise.

Wie würden die Medien berichten?

Der Strassenverkehr ist ein gutes Beispiel für ein stilles Risiko. Stellen Sie sich vor, was in der Schweiz los wäre, wenn das Corona-Virus bis Ende Jahr 200 Tote fordern würde. Die Medien würden die ganz grossen Schlagzeilen auspacken und vom «Killervirus» schreiben. 2018 sind bei Verkehrsunfällen auf Schweizer Strassen 233 Menschen gestorben – über 18’000 Menschen haben sich bei Verkehrsunfällen verletzt.[9] Die Schlagzeilen dazu bleiben aus. Verkehrsunfälle sind nichts neues. Jetzt stellen Sie sich vor, ein Virus würde in der Schweiz dazu führen, dass Hunderttausende erkranken, Tausende Patienten hospitalisiert werden müssten und Hunderte Schweizerinnen und Schweizer sterben. Wie würden die Medien berichten? Doch sicher gross, oder?

Falsch. Genau das ereignet sich nämlich jedes Jahr. Schuld daran ist die saisonale Grippe, also das Influenza-Virus. Auch jetzt wütet in der Schweiz die Grippe. Das Bundesamt für Gesundheit geht von derzeit 292 Grippefällen auf 100’000 Einwohner aus – Tendenz steigend.[10] Das sind derzeit über 25’000 Grippepatienten – nicht irgendwo in China, sondern hier, bei uns in der Schweiz. Damit sind in der Schweiz etwa gleich viele Menschen an Grippe erkrankt, wie in China am Corona-Virus – bloss leben in China mit 1,386 Milliarden Einwohnern über 150 mal mehr Menschen als in der Schweiz. Bei Lichte besehen ist die Gefahr der saisonalen Grippe (nach derzeitigem Erkenntnisstand) also etwa 150 mal dringlicher als die des neue Virus. Bloss: Für die Medien ist die normale Grippe ein alter Hut, deshalb berichten sie darüber kaum.

Haben Sie darüber je eine Schlagzeile gelesen?

Auch dieses Jahr werden in der Schweiz wahrscheinlich 200 bis 300 Menschen an der saisonalen Grippe sterben. Das ist zumindest nicht wenig. Aber es gibt Gefährlicheres. Alkohol zum Beispiel. Ich denke dabei nicht an Unfälle unter Alkoholeinfluss. Allein an alkoholbedingter Leberzirrhose starben 2017 in der Schweiz 421 Menschen.[11] Pro Jahr saufen sich in der Schweiz also über 400 Menschen zu Tode. Haben Sie darüber je eine Schlagzeile gelesen? Noch höher ist die Zahl der Menschen, die an Diabetes mellitus («Zuckerkrankheit») sterben. Für das Jahr 2017 verzeichnet das Bundesamt für Statistik 1255 Diabetes-Tote. Stellen Sie sich mal vor, diese Todesfälle wären auf irgendein chinesisches Virus zurückzuführen. Es wäre die mediale Hölle los. Über Diabetes aber redet kein Mensch. Weltweit sterben heute mehr Menschen an den Folgen von Übergewicht als an Hunger. Man geht davon aus, dass etwa die Hälfte aller Herz-Kreislauf-Erkrankungen auf Übergewicht und Fehlernährung zurückzuführen sind. In der Schweiz sind das 10’000 Dicke-Tote pro Jahr. Wie viele Schlagzeilen haben Sie dazu schon gelesen?

Der Grund dafür, dass die saisonale Grippe, die Alkoholtoten und das tödliche Übergewicht weniger präsent sind in den Medien als das exotische Virus in China, ist simpel: Medien berichten über das Neue, das Sensationelle, das Unerwartete, das Aussergewöhnliche. Wenn also die ganze Welt blau ist, aber einen roten Flecken aufweist, berichten die Medien nicht über das Blau, sondern über den roten Flecken. Bestes Beispiel: Flugzeugabstürze. Die Folge: Wer sein Weltbild nur aus den Medien bezieht, erhält den Eindruck, die Welt sei nicht blau, sondern rot. «Availability Bias» heisst dieser Effekt: Verfügbarkeitsfehler. Ich mache mir ein Bild der Welt aufgrund der gerade verfügbaren Informationen und frage mich nicht, welche Informationen fehlen. Weil Medien gerne über Unfälle und Verbrechen berichten, schätzen wir die Welt gefährlicher ein, als sie ist. Es gibt den Fehler auch mit umgekehrten Vorzeichen: in den Medien ist meist nur von den erfolgreichen Unternehmern, Musikern oder Autoren die Rede. Die meisten Unternehmer, Musiker und Autoren überschätzen deshalb ihre Chancen auf einen Erfolg – weil von all den Menschen, die mit ihrem Unternehmen, ihrer Musik und ihren Texten gescheitert sind, nie die Rede ist.

Was tun?

Die Medien können Sie auf die Schnelle nicht ändern. Aber das eigene Verhalten. Bezogen auf das Corona-Virus deshalb drei konkrete Hinweise:

 

Basel, 7. Februar 2020, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

PS: Nicht vergessen – Wochenkommentar abonnieren. Kostet nichts, bringt jede Woche ein Mail mit dem Hinweis auf den neuen Kommentar und einen Buchtipp. Einfach hier klicken.


Quellen

Bild: ©yossarian6 – stock.adobe.com

[1] «Der Spiegel» Nr. 6 vom 1. Februar 2020

[2] «Die Zeit» Nr. 6 vom 30. Januar 2020

[3] «Basler Zeitung», 28. Januar 2020

[4] «Neue Zürcher Zeitung», 04. Februar 2020

[5] «Bild», 06. Februar 2020: https://www.bild.de/bild-plus/ratgeber/gesundheit/gesundheit/corona-gefahr-durch-asia-essen-kann-ich-noch-glueckskekse-essen-67657122

[6] CNN, 7. Februar 2019: «Wuhan hospital announces death of whistleblower doctor Li Wenliang», https://edition.cnn.com/2020/02/06/asia/li-wenliang-coronavirus-whistleblower-doctor-dies-intl/index.html

[7] Vgl. dazu mein Buch «Die Aufmerksamkeitsfalle. Wie die Medien zu Populismus führen», hier erhältlich: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783729609518

[8] Vgl. SRF, 6. Februar 2020: «Flugzeug bricht auseinander», https://www.srf.ch/news/international/flugzeug-bricht-auseinander-zahl-der-todesopfer-beim-unglueck-in-istanbul-steigt

[9] Bundesamt für Statistik, Verkehrsunfälle, https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/mobilitaet-verkehr/unfaelle-umweltauswirkungen/verkehrsunfaelle.html

[10] Vgl. Lagebericht Schweiz des BAG zur saisonalen Grippe: https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/krankheiten/ausbrueche-epidemien-pandemien/aktuelle-ausbrueche-epidemien/saisonale-grippe—lagebericht-schweiz.html

[11] Bundesamt für Gesundheit: Spezifische Todesursachen, https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/gesundheit/gesundheitszustand/sterblichkeit-todesursachen/spezifische.html

Ein Kommentar zu "Die grosse Infodemie"

  1. Jeden Tag wird in Medien noch mehr geredet und noch mehr getextet. Das Doppelte heute von gestern. Und immer so weiter. Was von Belang ist, wird kaum mehr wahrgenommen. So auch bei den Corona-Viren. Eine ihrer Botschaften lautet: Die Natur ist stärker.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.