Die geheimnisvolle Kraft des Lesens

Publiziert am 7. Juni 2024 von Matthias Zehnder

Letzte Woche habe ich Ihnen im Rahmen meiner Buchtipps den neuen Roman von Percival Everett vorgestellt: «James» erzählt die Geschichte von Huckleberry Finn neu aus der Sicht des schwarzen Sklaven. Bei Mark Twain hiess er Jim, bei Everett nennt er sich James und er ist gebildet. Nach der Lektüre ging mir eine Stelle im Buch nicht mehr aus dem Kopf. James denkt darin über die Kraft des Lesens nach. Eine Kraft, die sich, wie bei Salma Rushdie und einer ganzen Reihe anderer Schriftsteller, auch gegen den Autor wenden kann. Bei uns hat das Lesen in den letzten Jahren ständig an Stellenwert verloren. Die Lesekompetenz der Jugendlichen war schlecht und ist mittlerweile miserabel. Bei den Erwachsenen sieht es noch düsterer aus. Von der befreienden, ja subversiven Kraft des Lesens ist kaum die Rede. Dafür gibt es jede Menge Tipps zu Speed Reading und zu Leselern-Apps und neuerdings kann man sich Bücher auch von plappernden KI-Programmen erschliessen lassen. Ich glaube, was das Lesen angeht, sind wir auf dem Holzweg. Wir sollten eher darüber nachdenken, vor dem Lesen zu warnen. In meinem Wochenkommentar erkläre ich Ihnen diese Woche, was die geheimnisvolle Kraft des Lesens ausmacht.

Huckleberry Finn und der schwarze Sklave James sind auf der Flucht: Mit einem kleinen Kanu und einem Floss treiben sie den Mississippi hinunter. Ein Sturm bricht los, nur mit Mühe halten sie sich über Wasser. Da entdecken sie ein havariertes Schiff. Es liegt direkt vor ihnen auf einer Sandbank und hat fast 45 Grad Schlagseite. James will daran vorbeisteuern, aber Huck will unbedingt nachsehen, ob sich auf dem Schiff Nahrungsmittel finden. Er träumt von Dosen mit Bohnen und Speck. Also paddeln sie zum Heck des Schiffes. James hält Wache, Huck geht an Bord. Aber er kommt schnell zurück und sagt, dass sie sofort verschwinden müssten. Auf dem Schiff seien gefährliche Räuber. Doch ihr Kanu hat sich gelöst, der Fluss hat es mitgerissen. Also verstecken sie sich am Ufer und sehen, wie die Räuber ihre Beute in ein Ruderboot laden und dann wieder auf das gekenterte Schiff zurückkehren. Also packen Huck und James ihre Chance, steigen ins Ruderboot der Räuber und lassen sich vom Fluss mitreissen.

Nach Tagesanbruch manövrieren sie das Boot ans Ufer und begutachten die Räuberbeute. Keine Dosen, keine Bohnen und schon gar kein Speck. Dafür Schmuck, Kleider, Zigarren – und Bücher. Huck ist enttäuscht, James ist begeistert. Allerdings will er Huck, wie allen Weissen, verheimlichen, dass er lesen kann. Also tut James so, als würde er sich nur über die Bücher freuen, weil sie sich gut anfühlen. Er wartet mit Lesen, bis der Junge schläft. Und dann kommt die Stelle im Buch, die mir nicht mehr aus dem Kopf geht:

Ich wollte unbedingt lesen. Huck schlief zwar, aber ich konnte nicht riskieren, dass er aufwachte und mich mit der Nase in einem aufgeschlagenen Buch ertappte. Dann dachte ich: Woher könnte er denn wissen, dass ich tatsächlich las? Ich könnte einfach behaupten, ich starrte dumm auf die Buchstaben und Wörter und fragte mich, was um alles in der Welt sie bedeuteten. Woher könnte er das wissen? In diesem Augenblick trat mir die Macht des Lesens deutlich und real vor Augen. Wenn ich die Worte sehen konnte, dann konnte niemand sie oder das, was sie mir gaben, kontrollieren. Man könnte nicht einmal wissen, ob ich sie lediglich sah oder ob ich sie las, sie auslotete oder begriff. Es war eine vollkommen private Angelegenheit, vollkommen frei und daher vollkommen subversiv. (Seite 80)

Das bringt die Kraft des Lesens auf den Punkt: Lesen ist eine vollkommen private Angelegenheit, vollkommen frei und daher vollkommen subversiv.

Privat, frei und subversiv

Vollkommen privat ist das Lesen, weil alles, was dabei passiert, sich in meinem Kopf abspielt. Niemand kann in meinen Kopf sehen und nachschauen, was ich lese, wie ich die Wörter verstehe und was ich daraus mache. Wenn ich Bücher aus Papier lese, gibt es keine Kontrolle durch einen Algorithmus. Niemand registriert, ob und wann ich umblättere. Niemand weiss, was ich tue.

Vollkommen frei ist das Lesen, weil es privat ist und weil niemand meine Gedanken kontrollieren kann. Aber auch deshalb, weil ich mit dem Buch machen kann, was ich will. Ich kann ein Buch in der Mitte aufschlagen oder zuerst das letzte Kapitel lesen. Ich kann den Text überfliegen oder ihn mir Wort für Wort erarbeiten. Ich bin frei.

Vollkommen subversiv ist das Lesen, weil es privat und frei ist. Weil Lesen den Zugang zu Wissen und Bildung ermöglicht und damit befähigt, kritisch zu denken und bestehende Dogmen in Frage zu stellen. Ein lesender Sklave ist eine Bedrohung für die bestehenden Machtstrukturen. Lesen ermöglicht es, in die Köpfe anderer Menschen zu schauen und dadurch unterschiedliche Perspektiven kennenzulernen. Das trägt zur persönlichen Emanzipation bei. Es ist kein Zufall, dass gesellschaftliche Veränderungen oft durch revolutionäre Schriften eingeleitet wurden. Aber auch literarische Werke haben die Kraft, kulturelle und soziale Normen in Frage zu stellen und mit der Zeit zu verändern. Sie können Diskussionen auslösen und dazu führen, dass gesellschaftliche Werte in Frage gestellt werden.

Vollkommen subversiv ist das Lesen, weil es die geistige Freiheit und das kritische Denken fördert. Lesen ermutigt die Menschen, selbst zu denken und sich unabhängig von Autoritäten, Dogmen und Strukturen eine eigene Meinung zu bilden. Am Anfang der Aufklärung im 18. Jahrhundert standen die Bücher von Voltaire und Rousseau. Ihre Ideen haben die politischen und gesellschaftlichen Strukturen in Europa grundlegend verändert. Bis heute sehen totalitäre Regime Bücher immer wieder als Bedrohung an und verbieten oder zensieren sie. Im Buch von Percival Everett erkennt der Sklave James diese Macht des Lesens.

Fast-Food-Reading und Handy-Alerts

Von dieser befreienden Kraft des Lesens ist heute kaum die Rede. Wenn vom Lesen die Rede ist, dann von der schwindenden Lesekompetenz. 25 Prozent der 15-Jährigen in der Schweiz können nur ungenügend lesen. Die jungen Leserinnen und Leser können zwar Buchstaben entziffern, verstehen das Gelesene aber nicht. Warum ist das so? Carl Bossard, ehemaliger Rektor der Kantonsschule Luzern und Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule Zug, sieht in der «NZZ» das Problem in der mangelnden Konzentration. Er sagt: «Konzentrierte Lektüre wird seltener, das intensive Lesen nimmt ab.» Das sei eine Folge von Whatsapp und anderen Kurztext-Gewohnheiten. «Der Lesemodus liegt im Überfliegen von Texten und im Gebrauch von Tablets oder Smartphones. Dabei können Alerts die Lektüre jederzeit unterbrechen.» Sie seien sich Fast-Food-Reading gewöhnt. Das konzentrierte Lesen, das «Deep Reading», müsse «geduldig gelehrt, intensiv und auch gemeinsam geübt und reflektiert werden», sagt Bossard, und zwar «zuerst mit analogen und erst dann mit digitalen Medien».

Die neue konservative Regierung in Neuseeland macht damit ernst: Ministerpräsident Christopher Luxon will Mobiltelefone an allen Schulen verbieten. Das soll störendes Verhalten unterbinden und den Schülern helfen, sich zu konzentrieren. «Wir wollen, dass unsere Kinder lernen, und wir wollen, dass unsere Lehrer unterrichten», sagte Luxon in Auckland. In Frankreich gibt es schon seit 2018 Handyverbote an Schulen, die Niederlande und Grossbritannien beschäftigen sich ebenfalls damit. In Deutschland und in der Schweiz sind die meisten Schulen zurückhaltender.

Ist das Buch schon abgeschrieben?

Manchmal habe ich sogar den Eindruck, dass Schule, Medien und Gesellschaft das Buch bei uns schon abgeschrieben haben. «Chatten mit Josef K», titelte kürzlich die «NZZ» und propehzeite: «Dank künstlicher Intelligenz können sich Leser in Zukunft mit Romanfiguren unterhalten.» Mit Leselern-Apps auf dem iPhone oder iPad sollen Kinder in der Schule ihre Lesefähigkeiten verbessern. Wer brav liest, darf zur Belohnung ein Game spielen. Die unterschwellige Botschaft: Lesen ist Leiden, Gamen ist Erlösung. Kein Wunder, dass Kinder um Bücher einen grossen Bogen machen. Wie schaffen wir es nur, die befreiende Kraft des Lesens wieder attraktiv zu machen?

Mein Vorschlag: Verbieten wir das Lesen. Oder erklären wir es wenigstens zu einer Tätigkeit, die nur besonders ausgewählte Menschen ausüben dürfen. Mein Vorbild für diese Taktik ist James Cook. Als Kapitän der «Endeavour» setzte Cook auf seiner Reise in den Nordwestpazifik zum ersten Mal auf eine Spezialernährung gegen Skorbut, also gegen den Mangel an Vitamin-C. Er kaufte in jedem Hafen, den er anlief, frische Früchte und versuchte, die Matrosen dazu zu bringen, Sauerkraut zu essen. Doch die verzogen das Gesicht. Also erklärte Cook das gesunde Kraut zur exklusiven Offizierskost. Die Matrosen durften nur zusehen, wenn die Offiziere Sauerkraut mit Silberbesteck von Porzellantellern assen. Tony Horwitz zitiert in seinem Buch über Cook aus den Logbüchern des Kapitäns:

«Solcherart ist das Temperament des Seemanns im Allgemeinen, dass ihm alles, was man ihm außerhalb des Üblichen zukommen lässt, missfällt», schrieb er, «und man höret von ihnen nur mürrische Worte.» Anfänglich rührten die Matrosen das Sauerkraut nicht an. Dann ließ Cook verlautbaren, dass die Gentlemen und Offiziere es jeden Tag vorgesetzt bekämen, und stellte es «den Leuten» anheim, ob sie es essen wollten oder nicht. Über kurz oder lang wollten alle. «Von dem Moment an, da sie ihre Vorgesetzten etwas schätzen sehen, wird es das beste Zeug auf der Welt», schrieb Cook. (Seite 56)

Was wäre passiert, wenn Cook seine Matrosen zum Beispiel mit einem Becher Rum belohnt hätte, wenn sie brav das Sauerkraut essen? Um an den Rum zu kommen, hätten sie das Sauerkraut in die Ritzen der Wanten gestopft oder gleich über Bord geworfen und wären dann betrunken in der Takelage gehangen. Auch ein Becher Rum hätte das Sauerkraut nicht begehrenswert gemacht. Indem Cook das Sauerkraut zur Offiziersmahlzeit erklärte, machte er es interessant. Welche Folgerungen lassen sich daraus für das Lesen ziehen?

Warnung vor dem Lesen

Lassen Sie uns Kinder und Jugendliche vor dem Lesen warnen. Lesen ist nur etwas für starke Menschen. Die befreiende und subversive Kraft des Lesens will beherrscht sein. Sie steigen ja auch nicht ohne Reitstunden auf einen Rappen und galoppieren los wie weiland Winnetou. So, wie Sauerkraut nur etwas für die Offiziere von Captain Cook war, ist Lesen nur etwas für geistig starke Menschen. Und für Menschen, die geistig stark sein wollen.

Denn Lesen (und Schreiben) kann gefährlich sein. Niemand weiss das besser als Salman Rushdie. 1988 veröffentlichte er «Die satanischen Verse». Wenige Wochen nach Erscheinen des Romans wurde Rushdie von Ayatollah Khomeini in einer Fatwa wegen Gotteslästerung zum Tode verurteilt. Khomeini rief die Gläubigen auf, das Todesurteil zu vollstrecken und Rushdie zu ermorden. 34 Jahre später, im August 2022, wurde Rushdie von einem jungen Muslim niedergestochen und lebensgefährlich verletzt. In seinem neusten Buch «Knife» verarbeitete Rushdie die Messerattacke. Er hätte gerne eine fiktive Geschichte geschrieben, schreibt Rushdie. «Wenn fünfzehnmal auf einen eingestochen wurde, fühlt sich das definitiv nach erster Person an.» Das Schreiben wurde für ihn zum Akt des Überlebens – und für uns wird das Lesen seines Buchs zu einem Akt des Widerstands gegen Gewalt und Fanatismus.

Erstochen, vergiftet, erschossen

Salman Rushdie ist nicht der einzige Schriftsteller, auf den ein Attentat verübt wurde. Nagib Machfus wurde in der Nähe seines Hauses in Kairo niedergestochen und überlebte nur knapp. Pablo Neruda wurde nach dem Militärputsch in Chile vermutlich vergiftet. Nach seinem Tod wurde sein Haus vom Militär geplündert und zerstört. Der türkisch-armenische Journalist und Schriftsteller Hrant Dink wurde in Istanbul auf offener Strasse erschossen. Der palästinensische Schriftsteller Waleed Al-Husseini überlebte mehrere Mordanschläge und flüchtete nach Frankreich. Die russische Journalistin und Schriftstellerin Anna Politkowskaja wurde im Treppenhaus vor ihrer Wohnung in Moskau erschossen.

Die Bücher von Salman Rushdie, Nagib Machfus, Pablo Neruda, Hrant Dink, Waleed Al-Husseini und Anna Politkowskaja waren den Machthabern, den Geistlichen oder den Militärs zu gefährlich. So wie die Bücher von Anna Seghers, Erich Kästner, Kurt Tucholsky, Rosa Luxemburg, Erich Maria Remarque, Erika Mann, Carl Zuckmayer und vielen anderen 1933 den Nazis zu gefährlich wurden. Am 10. Mai 1933 verbrannten die Nazis deshalb Tausende Bücher. Sie verboten die Bücher und verfolgten die Autorinnen und Autoren. Die Nazis versuchten so, jede Form von geistigem Widerstand zu unterdrücken und eine homogene, ideologisch konforme Kultur zu schaffen. Das ist ihnen nicht gelungen. Bücher kann manverbrennen, Gedanken nicht.

Die Nazis, die chilenischen Militärs, die Machthaber in Russland und im Iran, sie wussten um die subversive Kraft des Lesens. Sie wussten, dass Lesen frei macht, und deshalb haben sie das freie Lesen bekämpft. Hier sollten wir ansetzen. Das sollten wir unseren Jugendlichen zeigen. Lesen befreit den Kopf. Lesen ist subversiv. Lesen macht stark.

Basel, 7. Juni 2024, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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Quellen

Bild: KEYSTONE/DPA/Soeren Stache
Der Schriftsteller Salman Rushdie am 16. Mai 2024 im Deutschen Theater Berlin bei einer Lesung aus seinem neuen Buch «Knife».

AFP, dpa (2023): Neuseeland Will Handys In Schulen Verbieten – Lernen Ohne Ablenkung. In: DER SPIEGEL. [https://www.spiegel.de/panorama/bildung/neuseeland-will-handys-in-schulen-verbieten-lernen-ohne-ablenkung-a-3789de1d-60c9-4f16-b4cf-6b67f67e3bcf; 7.6.2024].

Bossard, Carl (2024): Das Unbehagen am Lesen steigt. In: Neue Zürcher Zeitung. [https://www.nzz.ch/meinung/plaedoyer-fuer-renaissance-des-leseunterrichts-ld.1769065; 7.6.2024].

Fokken, Silke (2022): Viertklässler können deutlich schlechter lesen als vor der Coronakrise. In: DER SPIEGEL. [https://www.spiegel.de/panorama/bildung/corona-effekt-viertklaessler-koennen-deutlich-schlechter-lesen-als-2016-a-4832e3aa-68d6-455b-8578-bb79e7937e9c?sara_ref=re-so-app-sh; 7.6.2024].

Fokken, Silke (2023): Wie aus Kindern gute Leser werden. In: DER SPIEGEL. [https://www.spiegel.de/panorama/bildung/tipps-fuer-eltern-lehrerinnen-und-erzieher-wie-aus-kindern-gute-leser-werden-a-c686c580-2d33-40ab-8704-a1193abd2e3c?sara_ref=re-so-app-sh; 7.6.2024].

Haug, Kristin (2021): Schülerinnen und Schüler haben keine Lust mehr zu lesen. In: DER SPIEGEL. [https://www.spiegel.de/panorama/bildung/pisa-sonderauswertung-schuelerinnen-und-schueler-habe-keine-lust-mehr-zu-lesen-a-7a8f6bb3-c221-4b61-be9b-a279814c9cc7?sara_ref=re-so-app-sh; 7.6.2024].

Himmelrath, Armin (2021): Jeder zehnte Erwachsene empfindet Lesen als anstrengend. In: DER SPIEGEL. [https://www.spiegel.de/panorama/bildung/alphabetisierung-jeder-zehnte-erwachsene-empfindet-lesen-als-anstrengend-a-6a5478f3-21c8-4c2f-a621-21ac6c2a439e?sara_ref=re-so-app-sh; 7.6.2024].

Kerstan, Thomas (2023): Ohne flüssiges Lesen geht gar nichts. In: ZEIT ONLINE. [https://www.zeit.de/gesellschaft/schule/2023-05/iglu-grundschulstudie-nele-mcelvany-lesefaehigkeit; 7.6.2024].

Lobe, Adrian (2024): Chatten mit Josef K. Dank künstlicher Intelligenz können sich Leser in Zukunft mit Romanfiguren unterhalten. In: Neue Zürcher Zeitung. [https://www.nzz.ch/feuilleton/mit-romanfiguren-chatten-statt-lesen-wie-kuenstliche-intelligenz-buecher-veraendern-koennte-ld.1826905; 7.6.2024].

März, Ursula Lesen: Liest Ihr Kind? In: ZEIT ONLINE. [https://www.zeit.de/2021/34/kinder-lesen-entwicklung-intelligenz-fantasie-kultur; 7.6.2024].

Moe, Alexandra (2024): We’re All Reading Wrong. In: The Atlantic. [https://www.theatlantic.com/health/archive/2024/04/reading-aloud-health-brain/678194/; 7.6.2024].

Zierer, Klaus (2022): Lesekompetenz: Wir brauchen eine Renaissance der Lektüre. In: Die Zeit. [https://www.zeit.de/2022/17/lesekompetenz-entwicklung-mediennutzung-bildung-lektuere; 7.6.2024].

6 Kommentare zu "Die geheimnisvolle Kraft des Lesens"

  1. Danke für den inspirierenden Text übers Lesen.
    Das was Lesen im besten Fall bewirken kann, nämlich Perspektivenwechsel & Anreicherung, aufs Lesen selbst angewendet.
    Die Captain Cook-Episode zeigt: wir sind soziale Wesen, & schauen mehr auf das, was andere tun als auf das, was diese sagen. Wenn Lehrkräfte & Eltern sagen: Handy weg [& das Gerät selber ständig nutzen], schauen Kinder & Jugendliche aufs Verhalten, nicht auf die Worte.
    —>So halten sie uns Erwachsenen den Spiegel vor.
    Lesen & Perspektivenwechsel: ein Paradebeispiel liefert Mark Twain im der Episode mit Tom Sawyer beim Anmalen des Zauns, & wie seine Freunde ihn erst gönnerhaft bemitleiden & dann plötzlich darum betteln, auch mal Hand anlegen zu dürfen, nachdem er ihnen versichert hat, es mache ihm Spass & ihnen zu verstehen gibt, dass es um eine ‚erlesene‘ Tätigkeit geht & er unsicher sei, ob Tante Polly es überhaupt erlauben würde, dass sich jemand anders als er damit beschäftigt. Freude [am Tun] & der Reiz des ev. Verbotenen wirken animierend & lösen eine positive Kettenreaktion aus, ich nenne es: Engels-kreis.
    Mark Twain zelebriert mit Tom Sawyer die Kunst des Perspektivenwechsels. Percival Everett führt diese Kunst mit ‚James‘ weiter, indem er uns die Geschichte durch die Augen der Neben- oder Begleitfigur erleben lässt. Und damit lässt er uns in den Spiegel blicken & wir können erkennen: in unserer Welt sind, immer schon, viele Perspektiven gleichzeitig präsent. Das bedeutet auch: es sind andere, neue Sichtweisen möglich. Das, was gestern als normal galt, zB Rauchen in Restaurants, ist heute bloss noch Erinnerung. Und was heute als normal gilt, zB Fleisch essen, ist für eine nächste Generation ev. undenkbar.
    Das Erkennen des Potenzials von Perspektiven-wechseln verändert mich in der Art Ihrer Thesen, Matthias Zehnder: „Lesen befreit den Kopf, ist subversiv & macht stark.“

    Diesen Aspekt mag ich ergänzen:
    Wir sind so gestrickt, dass wir – ohne zu überlegen – meinen, so wie ich sie sehe, ist die Welt. Im Perspektiven-wechsel erkenne ich: die Welt ist reichhaltiger, & damit weniger eindeutig & ein-fach.
    Was mir das Lesen schenkt: einen reicheren, vielfältigeren Blick auf die Welt.
    Womit ich bezahle: mit dem Verlust von Eindeutigkeit & meines [oft unbewussten] Anspruchs: so, wie ichs sehe, ists gut & ‚normal‘. Ein Teil dieses Preises ist: das Nachdenken über ‚die Welt‘ wird anstrengender. Es fordert von mir, widersprüchliche Sichten auszuhalten. In einem [Fremd-]Wort: ‚Ambiguitätstoleranz‘.
    Die Thesen übers Lesen gehören m.E. so ergänzt:
    Lesen strengt den Kopf an, untergräbt oft meine Weltsicht*) & erfordert daher innere Stärke.

    Eine letzte Assoziation [für heute] bietet sich an:
    Sprache allg. & speziell die soz. Medien als Tummelfeld fürs rasche Lossenden von ‚Pfeilen hinaus in die Welt‘, getrieben von Sehnsucht nach Resonanz, treiben uns zu vereinfachenden, eindeutigen Botschaften. Aus Sicht der Absender: markig, mutig, klar. Aus Sicht der Be- & Getroffenen: verletzend, verunglimpfend, ausgrenzend. Dieser Schein-Zwang zu Eindeutigkeit im öffentlichen Diskurs führt zu Polarisierung, macht uns ‚digital‘: entweder für Impfung, oder dagegen, entweder ist Putin böse oder ‚der Westen‘, entweder die Hamas oder Israel. Und wer [gefühlt] nicht auf meiner Seite steht, ist auch böse, oder dumm, oder beides. Dazwischen gibts scheinbar: nix.

    Vielleicht steckt im tiefen & vertiefenden, bedächtig-nachdenklichen Lesen auch die Kraft der ‚Ent-digitalisierung‘ im Sinn der Wieder-Eroberung der Zwischenräume, des Zulassens der Un-Eindeutigkeit, gemäss diesem Rumi-Zitat: „Jenseits von richtig und falsch liegt ein Ort. Dort begegnen wir uns.“
    Solche Orte der Begegnung stelle ich mir friedlich vor. Anstrengend für die Einzelnen [im Aushalten von Widersprüchen], dafür mit genug Platz zum Atmen & Sein für alle. So gesehen ist tiefes, nachdenkliches Lesen eine Friedenszutat.

    Danke für Ihre anregenden Impulse, Herr Zehnder.

    *) ist subversiv, ja, wobei sich die Subversivkraft auch gegen mich & meine Weltsicht wendet

    1. Hinter Ihrer 3fach-Frage erahne ich einen Wunsch: die Mehrheit wolle idealerweise frei, subversiv & stark sein. Zu ‚subversiv‘ hab ich diese Rückfrage: wenn eine Mehrheit subversiv sein will, inwiefern ist das dann noch subversiv?

      Als Versuch einer Antwort auf Ihre Frage kann ich bloss etwas anbieten, was sie – vermutlich – eher nicht so gern hören [ich formulier es in Ich-Form]: wenn die Mehrheit sich nicht so verhält, wies mir gefällt, dann…
      bin ich mit meiner Ohnmacht konfrontiert. Keine tolle, aufbauende & energiespendende Emotion!

      Der Spruch, wonach ich berufen bin, die Dinge zu ändern, die ich ändern kann & die zu ertragen, die ausserhalb meiner Macht sind, erinnert mich daran, dass es auch viele Dinge gibt, die in meiner Macht sind.

      Etwas Trost spenden können auch diese Gedanken: *allen anderen Menschen gehts +/- auch so: sie fühlen sich ohnmächtig, mal mehr, mal weniger.
      —>das zu erkennen & einzugestehen, kann ein Gefühl der Verbundenheit entstehen lassen
      *wenn Gleichgesinnte sich verbünden & sich für etwas gemeinsam einsetzen, werden sie stärker als eine Einzelperson je sein könnte.
      Können Sie damit was anfangen?

      1. Apropos Mehrheit: Nach meiner mittlerweile langjährigen Erfahrung gibt es erstens die Dummen: sie wissen nicht was (sie) tun. Zweitens die Gleichgültigen: sie tun nichts. Drittens die Schlauen: sie tun nur, was ihnen selber nützt. Viertens die Gemeinen: sie hauen dafür die andern in die Pfanne. Wenn sie alle die Mehrheit bilden, dann wird es für die gängige Demokratie schwierig bis unmöglich, eine kollektive Intelligenz zu stärken, die gemeinschaftsfähig zu für alle und alles umfassend tragfähigen Entscheidungen führt.

        1. Antwort auf fulminanten, punktgenauen Keller’schen Gesellschafts-Seziermesser-haarscharfen Kommentar:
          Die Gemeinen, die Gleichgültigen, die Schlauen und die „Dummen“ bilden eine satte Mehrheit. In jedem Lebensbereich. Allumfassend. Überall. Schwimmen obenauf wie die Fettaugen in der Suppe. Und laufen auf der sonnigen Seite der Strassen….
          Die Nachdenkenden, die Ethischen, die Liebevollen, die „Ums-Eck-Denkenden“, die „Normalen“, die Anständigen kommen nirgends mehr hin und
          „haben kein Leiberl mehr in der heutigen Zeit“
          (haben keine Chance mehr im Hier und Jetzt).
          Das ich so einen Kommentar je mal in die Tasten haue hätte ich nie gedacht, ist unserem Zeit“geist“ geschuldet und sagt viel….

  2. …& sagt viel, zum einen über ‚die Welt‘ & zu einem anderen Teil ev. über Sie selbst, Herr Zweidler & Herr Keller?
    Passt hier dieser Spruch: „Wenn Jon über Ben spricht, sagt Jon mehr über Jon als über Ben.“ ?

    Freche Nachfragen zum Einteilen der Menschen in Dumme, Gleichgültige, Schlaue & Gemeine, mit der Behauptung, diese bildeten die Mehrheit:
    —>falls diese ‚Diagnose‘ stimmt: was bewirkt sie?
    Ich vermute: Abwehr („das bin nicht ich!“), &/ oder Scheinheiligkeit („zum Glück bin ich anders!“)
    —>träfe diese Vermutung zu, dann gehören in Ihrer Welt die meisten zu einer der 4 Gruppen (=Aussensicht), während die Betroffenen sich woanders sehen. Behauptung & Gegenbehauptung – im Gespräch schafft das eine Pattsituation, Frust & vertieft etwaige Gräben 🙁

    Meine These & Hoffnung:
    *Wir & diese Welt brauchen weniger: Urteilen über andere & Schubladisieren
    *Wir brauchen mehr: innehalten, Selbstbefragung [auf welche Annahmen stütze ich meine Aussagen?]; einander zuhören [was ist meinem Gegenüber wichtig?], & Ideen, die Räume öffnen für viele Menschen [statt sie eng zu machen mit Urteilen & Schublädli] *)

    *Ich vermute: viele sind schockiert darüber, wie Menschen miteinander umgehen & sehen ihre Hoffnung auf Frieden etc. bedroht.

    *Weil wir die Spannung zwischen ‚Ist‘ & Wunsch kaum aushalten, lauern Vereinfachungsfallen:
    1) [Apokalypse] es geht eh alles den Bach runter..
    2) [Geheimplan] alles wird von wenigen gesteuert
    3) [Dekadenz] die meisten sind dumm, stumm etc

    Diesen Fallen zu entgehen kann gelingen, wenn
    *wir – klar & bescheiden – unsere Ohnmacht anerkennen [ich kann nur wenig bewirken]
    *wir – mutig & offen – erkennen: vielen gehts ähnlich. Viele, die zusammenarbeiten, sind etwas weniger ohnmächtig – das ist doch schon was 🙂

    *) Gespräche auf Augenhöhe nennt David Bohm (1917-1992) ‚Dialog‘.
    Ein Buch mit Texten von ihm heisst: ‚Der Dialog – das offene Gespräch am Ende der Diskussionen‘
    —>meine Hypothese: wir brauchen mehr Dialog, im Zwiegespräch mit uns selbst, im Austausch zu zweit & bei Erörterungen in grösserer Runde.

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