Die ganze Wahrheit über die Lüge

Publiziert am 24. März 2017 von Matthias Zehnder

CNN hat diese Woche zum ersten Mal Donald Trump seiner vielen Lügen und Fake News wegen als «Fake President» bezeichnet. Trotzdem ist es erstaunlich, dass Trump (und nicht nur er) mit seinen Lügen davonkommt. Ist Lügen so normal geworden? War es je anders? Ist Lügen wirklich verpönt? Warum Lügen Ansichtssache ist, viel mit Macht zu tun hat – und schwer in Mode kommt.

Lügen mögen kurze Beine haben – mittlerweile haben sie aber einen verdammt langen Atem. Zum Beispiel die (mittlerweile offensichtliche) Lüge von Donald Trump, er sei von seinem Amtsvorgänger Barack Obama abgehört worden. FBI-Chef Comey hat diese Woche unter Eid vor dem amerikanischen Kongress ausgesagt und erklärt, es gebe dafür keinerlei Hinweise und schon gar keine Beweise. Dennoch erhebt Trump die Vorwürfe weiter – und die Medien berichten natürlich darüber. Die Folge: Die Vorwürfe bleiben real.

Wie kann es sein, dass der amerikanische Präsident bei offensichtlichen Lügen ertappt wird und es passiert – nichts? Oder der umgekehrte Fall: Donald Trump bezeichnet die menschgemachte Klimaveränderung weiterhin als «Klimalüge», obwohl die wissenschaftliche Evidenz dafür erdrückend ist. Er bezeichnete wochenlang die Tatsache, dass Obamas Inauguration deutlich mehr Zuschauer angezogen hatte als seine eigene, als Lüge, obwohl Dutzende von Beweisfotos vorlagen. Ist Wahrheit verhandelbar geworden? Oder ist Lügen heute einfach erlaubt?

Erste Frage: Was ist eine Lüge?

Eine Lüge ist eine Unwahrheit, aber nicht jede Unwahrheit ist eine Lüge. Wenn Thomas Bucheli im Schweizer Farbfernsehen sagt, am Sonntag herrsche eitel Sonnenschein, aber am Sonntag regnet es, dann ist das keine Lüge. Denn Bucheli gibt nicht wider besseres Wissens eine falsche Wetterprognose heraus, sondern weil er es nicht besser kann (oder weil es nicht besser möglich ist). Wenn Bucheli am Sonntag selbst sagt, die Sonne scheine, obwohl es regnet, dann ist das eine Lüge. Lügen beinhalten also zwei Aspekte: Wer lügt, äussert erstens eine Unwahrheit und macht das zweitens wider besseren Wissens.

Um einen Menschen als Lügner zu entlarven, benötigen wir also zwei Dinge: Wir müssen beweisen, dass die Wahrheit anders aussieht, als es der Lügner behauptet – und dass der Lügner das auch weiss. Das ist gar nicht so einfach. Nehmen Sie das Phänomen, das je nach Standpunkt Klimalüge oder Klimaveränderung genannt wird. Wenn Donald Trump sagt, das sei eine Erfindung der Chinesen – lügt er dann? Trumps Vize Mike Pence ist ein Kreationist. Er lehnt die Idee einer Evolution nach Charles Darwin ab und will nicht, dass sie unterrichtet wird. Er leugnet also die Evolutionstheorie – macht ihn das zum Lügner? Vermutlich nicht. Er selbst glaubt jedenfalls an das, was er sagt. Wenn Präsidenten-Beraterin Kellyanne Conway von einem Greenball-Massacre spricht, das es nicht gibt, oder behauptet, die CIA höre die Amerikaner durch die Mikrowellengeräte ab – lügt sie, oder denkt sie so? Wir wissen es nicht.

Was also ist eine Lüge? Der deutsche Theologe und Philosoph Johann Gottlieb Fichte fand darauf eine eingängige Antwort: Die Lüge ist immer ein Selbstmord des Geistes.

Zweite Frage: Warum eigentlich darf man nicht lügen?

Diese Frage ist erstaunlich schwierig zu beantworten. Es gibt in der Geschichte der Philosophie zwei unterschiedliche Positionen: eine radikale und eine lockere. Die radikale Position sagt: Lügen ist immer falsch und deshalb verboten. Diese Position vertreten zum Beispiel Augustinus (354–430) oder auch Immanuel Kant (1724–1804). Augustinus sagt, die Sprache zur Täuschung zu gebrauchen, sei ganz grundsätzlich eine Sünde und wir dürften nicht glauben, die Lüge sei keine Sünde, weil wir bisweilen jemandem mit einer Lüge nützen können. Eine etwas lockerere Position vertritt Christian Wolff (1679–1754). Er sagt, lügen ist nur dann verboten, wenn mit dem Lügen moralisch verwerfliche Ziele erreicht werden oder man jemandem schadet. Wenn man durch unwahre Worte niemandem schadet, sich aber nutzet, so ist solches kein Lügen.

Sehen wir uns ein paar Beispiele von Situationen an, in denen Augustinus und Wolff die Lüge unterschiedlich beurteilen. Ein berühmtes Beispiel ist die Frage, ob Sie lügen dürfen, um ein Leben zu retten. Nehmen wir eine Familie, die im Zweiten Weltkrieg ein jüdisches Kind versteckt – darf die Familie lügen, um so das Leben des Kindes zu retten? Sie sagen vielleicht: Ja, klar! Schliesslich geht es um das Leben eines Kindes! Was sagen Sie zu einem Arzt, der einen Patienten belügt, indem er ihm ein Placebo gibt, von dem er weiss, dass es wirkt, wenn der Patient daran glaubt? Schon etwas schwieriger. Wenn es erlaubte Lügen gibt – wo ist die Grenze zwischen erlaubt und nicht erlaubt? Und warum gestatten Sie (allenfalls) dem Arzt das Lügen, nicht aber Donald Trump?

Dritte Frage: Warum ist Lügen heute salonfähig?

Vermutlich weil es keine festen Wahrheiten mehr gibt: Wahrheit scheint nicht mehr eine Frage von Fakten zu sein, sondern eine Frage ihrer Durchsetzbarkeit, also von Macht. In der berühmten «Locker Room Talk»-Sequenz mit Billy Bush, die am Set von «Days of Our Lives» in einem Bus aufgezeichnet und im Wahlkampf ausgestrahlt wurde, sagte Trump: When you’re a star, they let you do it. You can do anything. Also etwa: Wenn Du ein Star bist, dann lassen sie dich machen. Du kannst alles machen. Und dann sagt Trump noch: Grab ’em by the pussy. You can do anything.

Wenn es möglich ist, dass Trump dank seiner Berühmtheit Frauen zwischen die Beine fassen kann und damit davonkommt, dann kann er auch lügen. When you’re a star, you can do anything. Für Trump ist Wahrheit nicht abhängig von Fakten, sondern von Macht: Wieviel Macht jemand besitzt, lässt sich daran ablesen, wieviel Macht er über die Wahrheit hat. Und wenn Du berühmt und mächtig bist, dann lassen sie dich machen. Bis jetzt ist Trump damit immer davongekommen.

Manchmal waren es Flunkereien wie die Nummerierung der Stockwerke im Trump-Tower. Donald Trump behauptet, sein Turm habe 68 Stockwerke. Er selbst bewohnt die obersten drei Etagen, also die Stockwerke 66–68. So sind sie auch angeschrieben. Doch der Turm hat nur 58 Geschosse. So ist er auch im Verzeichnis der zuständigen New Yorker Behörde (CTBUH) eingetragen. Trump hat bei der Nummerierung der Stockwerke zehn Zahlen ausgelassen. Manchmal waren seine Lügen offensichtlich, aber unbedeutend. Zum Beispiel seine Prahlereien über die Zahl der Besucher seiner Inaugurationsfeier. Manchmal sind seine Lügen aber krass, wie die, dass Obama ihn abgehört habe. Es fragt sich, ob er wirklich damit davonkommt.

Letzte Frage: Was heisst das für uns?

Jetzt sagen Sie vielleicht: Was kann ich dafür, dass Donald Trump lügt? Und was geht es mich an? Die Frage ist, wie wir damit umgehen, wenn Mächtige lügen. Die Frage ist, wie wir reagieren, wenn es sich nicht um Donald Trump handelt, sondern um einen Schweizer Politiker oder eine Schweizer Wirtschaftsfrau. Die Frage ist, ob wir uns die Lügen bieten lassen. Ob wir es zulassen, dass Wahrheit verhandelbar wird. Dass Wahrheit nicht mehr von Fakten abhängig ist, sondern von Macht.

Jetzt fragen Sie wohl: Was kann ich schon tun? Die machen ohnehin, was sie wollen. Aber nur, so lange wir alle das zulassen. You can do anything – aber nur, bis wir «Nein!» sagen. Bis wir uns verweigern. Und der erste Akt der Verweigerung ist der Ausschaltknopf. So lange die Donald Trumps dieser Welt viel Aufmerksamkeit erhalten, indem sie lügen, so lange haben sie schon halb gewonnen. Die härteste Bestrafung, die wir, das Publikum, ihnen zukommen lassen können, ist die Nichtbeachtung. Kalter Aufmerksamkeitsentzug. Ich werde mich deshalb in nächster Zeit in Trump-Abstinenz üben. Ehrlich wahr.

4 Kommentare zu "Die ganze Wahrheit über die Lüge"

  1. „Wir lügen alle täglich mehrmals“ sagen Statistiken aus. Da man Statistiken nicht blind glauben soll (und es auch bei mir nicht zutrifft) halte ich nichts davon. Doch was ist es dann…? Ein Protagonist einer holden christlichen Partei, die das „C“ sogar im Logo trägt, sagte mal (erwiesen) Unwahres. Die anderen Parteien bezichtigten ihn sofort der Lüge. Die eigene Fraktion sprach von „Märchen“ erzählen. Tönt doch gleich viel schöner?! Man spricht viel von der Lügenpresse, doch die Lückenpresse ist genau so schlimm. Fakten bewusst weglassen, Miseren schönreden und zu verschweigen – eine andere (leider) beliebte Disziplin unserer CH-Medien. Eine Tendenz von Lüge auch gesichtet, als in einer Gemeinde von Baselland ein SP und ein SVP-Vertreter abgewählt wurden. Die (tendenziöse) BZ-Zeitung titelte genüsslich + herablassend: „SVP als Wahlverliererin im Gemeinderat.“ Die (tendenziöse) BaZ-Zeitung kalt + hochfahrend: „SP büsst Sitz im Gemeinderat ein.“ Erst klein darunter bei beiden im Lauftext, dass auch der andere Exponent ein Abwahlprodukt war. Deshalb = Lügenvermeidung = Falschinformation vorbeugen = mehrere Zeitungen sichten = Echte Medienvielfalt + gut informiert.
    Nun noch kurz zu Donald: Seine Politik: Note 5 Plus. Seine „Geschäftsführung“ seines „Ladens“: katastrophal. Das ist ja so schade: 100te US-Kleinbetriebe atmen auf, sistieren Personalkündigungen, im Textilbereich, im Möbelbereich, im Schuhbereich, US-Produkte für US-Bürger im Aufwind, China-Produkte erhalten schalen Beigeschmack, Fitness und Aufwärts für die Wirtschaft (und die Belegschaft). Doch sein Verhalten: Sofort aufhören mit Twittern. Alle lachen ob seinen Tweets, seiner Rechtschreibung, seiner Geographiekenntnisse. Ja hatte ein Ronald Reagan eine bessere Rechtschreibung? Natürlich nicht – aber er twitterte auch nicht. „Belgien ist eine schöne Stadt“ liess Donald neulich raus…. Ja hatte ein B. Obama bessere Geographiekenntnisse? Natürlich nicht, er wusste nicht wo die Malediven sind und verkündete in einer Rede, dass man in Österreich Österreichisch spricht – aber er twitterte auch nicht unaufhaltsam. Überhaupt diese Dauerkritik an Donald: Er ist halt auch ein SPONTI…. Liebe 68er, kennt ihr diesen positiven Ausdruck von damals noch? Heute, bei Donald, ist SPONTI plötzlich negativ besetzt. Überhaupt hat er viel Gemeinsam mit damals: Er hat den selben Wortgebrauch wie die 68er früher: Er ist gegen das System, die Elite, das Establishment – kommt euch das nicht bekannt vor? Früher gut – heute schlecht? Eine LebensLÜGE? Jahrelang demonstrierte man in Europa gegen US-Truppen in Deutschland, „Amis go home“, an Ostermärschen, Friedensdemos usw…. Keine US-Pershings mehr bei uns…. (MGM-31 Pershing-Raketen)… Und nun verkündete Donald beim Amtsantritt, er wolle sich auf die Verteidigung des eigenen Landes (USA) konzentrieren, sich militärisch aus Europa zurückziehen… Auch wieder nicht recht: Ein Aufschrei geht durch Deutschland, „wo bleibt das Militärbündnis?!“ hallt es durch die Städte. Die selben Alt-68er donnern „pro-weiterhin-amerikanischen-Schutz“ in Europa. Weltanschauungsbilder bröckeln! LebensLÜGEN tun sich auf… Man muss nicht nach Übersee schielen; die grossen Schmeichler, Schalmeiensinger, Lügner gibt es auch unter uns. Vielleicht ganz ganz nah, man merkt es, wenn man mal ehrlich mit sich selbst über das eigene Lebensverhalten nachdenkt. Dies ist erlaubt, kostet nichts und macht keinen Lärm.

  2. Lüge oder Wahrheit scheint mir längst nicht mehr die richtige Frage. Die Klimaveränderung beispielsweise findet statt. Sie lässt sich nicht stoppen. Höchstens etwas bremsen. Die Klimalüge ist ein satanisch infames Ablenkungsmanöver. Es soll davon abhalten, etwas Intelligentes und Konstruktives zu tun. Beispielsweise weltumfassend ein Programm entwickeln: Für die Menschen, die in Gegenden leben, die unbewohnbar werden. Sie tun das, was Lebewesen bei Katastrophen schon immer getan haben: Flüchten! Gibt es keine Alternativen, werden es diesmal so viele sein, dass sie nur mit der Schliessung von Grenzen, Mauern oder Krieg ab- und aufzuhalten sein werden. Reiche und Starke werden sich wahrscheinlich retten können.

  3. Normalerweise macht der Mensch im Lauf seines Lebens eine Entwicklung durch. So lässt er schon sehr früh das Lügenalter hinter sich. Übrigens haben gerade viele Spontis ihre jugendliche Radikalität hinter sich gelassen, ein erstaunliches Entwicklungspotenzial bewiesen und Verantwortung in Politik und Wirtschaft übernommen.
    Wer aber als Präsident der USA primitivste Anstandsregeln vermissen lässt, mit rassistischen und sexistischen Äusserungen zu punkten versucht und dessen auffälligstes Persönlichkeitsmerkmal das Lügen ist, könnte allenfalls noch durch eine vermutlich aufwendige Therapie entwickelt werden.

  4. Die Lüge gibt es seit es Menschen gibt; sie wird wohl kaum auszurotten sein. Auch gab es immer schon Lügner, die es nicht kümmert, als solche entlarvt zu werden. Neu aber scheint mir, dass diese offensichtlichen Lügner gewählt werden, Mehrheiten erreichen, Präsidenten werden. Eine Gesellschaft, die solches ermöglicht, muss sich in einem bedenklichen, ja schrecklichen Zustand befinden.

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