Die digitale Kränkung
Mein neues Buch ist da: «Die digitale Kränkung» handelt von der Ersetzbarkeit des Menschen durch Computer und Roboter. In immer mehr Bereichen müssen wir uns vom Computer geschlagen geben: Schach, Gehirnoperationen, Einparken – der Computer kann es besser. Computer und Roboter überflügeln uns damit in genau jenen Bereichen, von denen wir dachten, dass sie uns ausmachen. Was macht das mit uns? Sind wir bald alle arbeitslos? Und vor allem: Was bedeutet das für unser Menschenbild, wenn uns Computer und Roboter überflügeln und ersetzen? Was macht künftig den Menschen noch aus?
Seit der Antike gilt der Mensch als animal rationale: Schon für Aristoteles war die Denkfähigkeit des Menschen jene Eigenschaft, die ihn vom Tier unterscheidet. Immanuel Kant ging vor 250 Jahren noch einen entscheidenden Schritt weiter: Er bezeichnete den Menschen als animal rationabile, also als potenziell vernunftbegabtes Wesen. Erst die Verwirklichung seiner Vernunftfähigkeit mache den Menschen aus. Rechnen, Analysieren, Schlussfolgern – es geht also darum, sich seines Verstandes bedienen zu können. Doch genau in diesen Disziplinen zeigt uns der Computer immer häufiger den Meister. Davon handelt mein neues Buch «Die digitale Kränkung».
Der symbolische Knackpunkt ereignete sich für mich vor 22 Jahren, genauer: am 11. Mai 1997, nachmittags um 16 Uhr. Im 35. Stockwerk eines Hochhauses in Manhattan sass Schachweltmeister Garry Kasparow regungslos vor einem Schachbrett, den Kopf in beide Hände gestützt. Dann schüttelte er den Kopf, stand auf, verwarf die Hände und verliess den Raum. Das bis dahin Unvorstellbare war geschehen: Ein Computer namens Deep Blue hatte ihn, den amtierenden Schachweltmeister, in einem regulären Match geschlagen. Kasparow war 1997 der beste Schachspieler der Welt und überzeugt, dass eine Maschine ihn nie würde schlagen können. Umso wütender war er nach dem verlorenen Match. Wütend – und tief gekränkt.
Der symbolische Sieg der Maschine
Kasparows Niederlage am 11. Mai 1997 steht für mich deshalb sinnbildlich für die digitale Kränkung der Menschheit, eine Kränkung, die sich seither 100-fach, 1000-fach, millionenfach wiederholt hat. Dass Kasparow das Schachmatch 1997 verlor, beleidigte nicht einfach ein grosses Ego (das wohl auch), es war stellvertretend eine Kränkung der ganzen Menschheit, weil der Computer den Menschen in jenem Punkt übertroffen hatte, von dem der Mensch bis dahin davon ausgegangen war, dass er ihn ausmacht. Seit der Aufklärung vor 250 Jahren definieren wir uns als Verstandeswesen, als animal rationale. Weil Schach als Spiel des Verstandes gilt, wird aus dem Sieg des Schachcomputers über Kasparow der symbolische Sieg der Maschine über den Verstand des Menschen.
Dieser Sieg war keineswegs ein Einzelereignis. Seither hat der Computer die jeweils besten menschlichen Spieler in so gut wie allen Spielen besiegt, sogar im Ratespiel Jeopardy und im asiatischen Brettspiel Go, dem komplexesten Spiel der Welt. Am Spielbrett hat der Mensch nichts mehr zu melden. Und es blieb nicht bei den Spielen. Nur fällt es beim Analysieren von Röntgenbildern, beim Schreiben von Wetterberichten, beim Steuern einer Eisenbahn oder beim Verwalten eines Lagerhauses weniger auf, dass der Computer dem Menschen überlegen ist, weil Mensch und Computer nicht gegeneinander antreten wie bei Schach und Jeopardy.
Der überlegene Computer
Computer sind in immer mehr Bereichen den Menschen gnadenlos überlegen. Computer sind unendlich viel besser als Menschen, wenn es darum geht, sich über viele Informationen einen Überblick zu verschaffen und viele Details gleichzeitig im Blick zu behalten. Ob es sich dabei um eine Bahn oder eine Bank, um eine Baustelle oder einen Operationssaal handelt, ist (dem Computer) egal. Eine aktuelle Studie der OECD geht deshalb davon aus, dass in den 32 OECD-Ländern etwa jeder zweite Arbeitsplatz von Automation und Veränderungen durch die Computerisierung betroffen sein wird.
Ob Roboter oder generell die Technisierung der Arbeit unter dem Strich wirklich Jobs kostet, darüber sind sich die Experten nicht einig. Laut einer Studie der ETH Zürich wird sich aber die Polarisierung auf dem Arbeitsmarkt verstärken. Das bedeutet, dass es weiterhin viele Stellen geben wird für wenig qualifizierte Angestellte und für besonders gut ausgebildete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Vom Stellenabbau durch Automatisierung besonders betroffen sind Mittelqualifizierte mit abgeschlossener Berufslehre. Besonders einfach lassen sich repetitive Tätigkeiten im Büro oder in der industriellen Fertigung durch Computer oder Roboter ersetzen. Serviceberufe mit Kundenkontakt wie Friseure, Pflegekräfte oder Kinderbetreuer sind von der Automatisierung dagegen deutlich weniger betroffen.
Die Menschen verkehren lieber mit Maschinen
Jetzt sagen Sie vielleicht: Wir Menschen haben es in der Hand. Wir können uns gegen die Maschinen wehren, wenn wir uns für Menschen einsetzen. Das Problem ist nur: Das Gegenteil ist der Fall. Immer mehr Menschen verkehren lieber mit Maschinen als mit anderen Menschen. So beziehen viele Leute ihr Geld lieber am Bancomaten als am Schalter und immer mehr Kundinnen und Kunden scannen im Supermarkt ihre Einkäufe lieber im Self-Checkout ein, als sie an einer Kasse aufs Laufband zu legen und von einem Menschen eintippen zu lassen. Die Kassiererin oder der Kassierer mag sie noch so freundlich anschauen – immer mehr Menschen ziehen die Anonymität der Scan-Maschine dem freundlichen Lächeln an der Kasse vor. Warum ist das so?
Weil man sich vor einer Maschine nicht schämen muss. Gerade vor freundlichen Augen schämen sich die Leute, wenn sie Präservative aufs Laufband legen oder Damenbinden, eine Fettsalbe oder sonst einen Gegenstand, für dessen Präsenz im Einkaufskorb sie sich vielleicht genieren. Denn jeder Artikel verrät etwas darüber, wer wir sind, und seien es nur Chips und Cola. Immer mehr Menschen empfinden den Blick der Person hinter der Kasse als unangenehm. Der Self-Checkout-Automat hingegen schaut einen nicht an. Ihm ist es egal, ob Tofu oder ein blutiges Stück Fleisch im Einkaufskorb liegt. Vor dem Automaten müssen wir uns weder rechtfertigen noch schämen. Deshalb sind auch im Supermarkt die Automaten auf dem Vormarsch. Eine weitere Kränkung.
Das Problem ist nicht der Jobverlust
Überschätzen wir aus lauter Angst die Fähigkeiten von Computern und Robotern? Ich glaube nicht. Die Fakten sind zu eindeutig. Der Computer schlägt den Menschen in Schach, Jeopardy und Go, im Diagnostizieren von Hautkrebs, im Autofahren, im Lesen von Röntgenbildern und sogar im Debattieren. Die Frage ist nicht, ob sich all diese Anwendungen so rasch verbreiten werden, dass kein Mensch mehr Schach spielt oder Röntgenbilder beurteilt. Der Punkt ist, dass es die Computer grundsätzlich besser können als wir Menschen, dass sie uns in Bereichen überflügeln, von denen wir bisher dachten, dass sie uns ausmachen, seien das nun objektiv wichtige, rationale Fähigkeiten oder subjektiv wichtige Fertigkeiten wie das Autofahren. Ob sie uns nun ersetzen oder nicht – die Computer ziehen uns Menschen mit ihren unendlichen Fähigkeiten den Boden unter den Füssen weg.
Das hat nicht nur Konsequenzen für den Arbeitsmarkt, für Berufsaussichten und Verdienstmöglichkeiten. Dieser Befund muss vor allem Auswirkungen auf unser Menschenbild haben. Vor 250 Jahren hat Immanuel Kant das Zeitalter der Vernunft eingeläutet. Der Mensch verabschiedete sich von Aberglauben und Alchemie und entwickelte die Naturwissenschaften, erfand Maschinen und unterwarf sich die Welt auf ganz neue Art und Weise. Und jetzt kommt eine dieser Maschinen und zeigt dem Menschen den Meister. Nach Jahrzehnten, ja Jahrhunderten, in denen es auf das Zählbare, das Vernünftige ankam, übernehmen Computer und Roboter diese Domäne.
Deshalb glaube ich, dass 250 Jahre nach der Aufklärung, nach dem Zeitalter der Vernunft ein neues Zeitalter anbricht: das Zeitalter des «Herzens». Das emotionale Zeitalter. Dieses emotionale Zeitalter wird nicht nur schön sein. Auch Hass und Neid sind Gefühle. Derzeit haben Politiker wie Donald Trump, Matteo Salvini oder Viktor Orbán Aufwind, die es verstehen, genau diese Gefühle zu schüren – und dabei jede Vernunft in den Wind schlagen. Aber es werden wieder andere kommen, Politiker, Künstler und Wissenschaftler, die es verstehen, positive Gefühle anzusprechen, die uns helfen werden, uns auf jene Fähigkeiten zurückbesinnen, die uns von einer mit Algorithmen hantierenden Maschine aus Blech und Silizium unterscheiden. Auf die Schaffenskraft, auf soziale Beziehungen, auf das Edle und Gute – auf das Herz.
Lesen Sie dazu mein neues Buch Die Digitale Kränkung. Über die Ersetzbarkeit des Menschen. NZZ Libro, 220 Seiten, 24 Franken; ISBN 978-3-03810-409-4
Weitere Informationen zum Buch finden Sie hier: https://www.matthiaszehnder.ch/digitale-kraenkung/
Erhältlich ist das Buch hier oder als Kindle-E-Book hier.
Basel, 22. November 2019, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch
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3 Kommentare zu "Die digitale Kränkung"
Alle Entscheidungen, ja/nein, schwarz/weiss, 1 oder 0 kann ein Computer sicher viel schneller treffen als wir Menschen. Aber wenn es um Ethik / Moral, um Gefühle, um Verantwortung, um Für-Sorge geht können wir wieder unsere Menschlichkeit ausspielen.
Bei den Beispielen, wo Computer oder Roboter besser waren, scheint es vor allem um Intelligenz zu gehen, wie sie mit dem Intelligenztest gemessen wird. Leistungen, die extrem auf Intelligenz basieren, werden in der Regel überbewertet. Oft ist auch das, was vor allem nur mit Intelligenz zustande kommt, nicht wirklich nützlich und wertvoll. Oft sogar eher das Gegenteil. Menschen brauchen und haben noch viele andere Talente. Paradoxerweise zeigen Computer und Roboter, dass es Menschen mit Kopf, Herz, Hand und Fuss gibt. Sie können existenziell wesentlich mehr, als das, was hoch honoriert wird, wenn es nur um Konkurrenz und Profit geht.
International, national, emotional, irrational und manchmal auch „fatal“ …sind die Wochenkommentare und Bücher von Matthias Zehnder.
Dieses Buch scheint (wiederum) gelungen, beizufügen gilt bloss noch, dass die Technik die Menschheit zu unselbstständigen Individuen macht.
Früher mit Landkarten bestens gefahren (im wörtlichen und übertragenden Sinn), seit dem ein Navi mein Auto bereichert, vertraue ich nicht mehr meinem Orientierungssinn und schon gar nicht mehr unseren sehr guten Landeskarten. Man wird nervös, wenn das dünne Navi-Stimmchen einem nicht nach links oder rechts lotst. Ergo = „unselbstständigen Individuen…“
Fuhr man früher mit dem Wagen rückwärts, achtete man auf sein Gefühl und die Augen, seine Sinne, wann die Mauer kommt, der Baum, das Fahrrad, in das man nicht reinfahren möchte.
Fällt heute mal der Rückwärtsabstandwarner aus (piep-piep-piep), wird man nervös, unsicher und ängstlich, denn die Distanz und das Gefühl, wann die Mauer wirklich kommt, hat man verlernt.
Nicht nur zu unselbständigen Kreaturen, auch zu gefühlsleeren, sinnentfremdeten und gespürlosen Zeitgenossen formt uns die allseits auf dem Hochaltar unsere Gesellschaft zelebrierte Hochtechnik um.
Bei allen „Hochkulturen“ folgte der Fall. Wann ist es bei uns soweit? Ich sehne mich danach. Auf dass die Menschheit wieder normal wird.