Der Westen im Wertedilemma

Publiziert am 22. Juni 2018 von Matthias Zehnder

Europa und die USA stecken in einer Flüchtlingskrise. Das liegt nicht etwa daran, dass die Länder des Westens von so vielen Flüchtlingen überrannt würden. Nein: Die Krise besteht darin, dass der Westen seine Werte verhöhnt. Die Werte der Aufklärung, der Freiheit, Gleichheit und der Brüderlichkeit, und die so genannt christlichen Werte gelten offensichtlich nur für Menschen mit dem richtigen Pass. Damit entlarvt sich der Westen selbst: Er ist keine Wertegemeinschaft mehr, sondern nur noch ein Profitcenter – ein Schutzraum für Reiche.

Die beiden deutschen Schwesterparteien CDU und CSU zoffen sich ganz gewaltig. CSU-Innenminister Horst Seehofer will Asylbewerber, die schon in einem anderen Land registriert sind, bedingungslos abweisen. Deutschland wäre damit fein raus. Die Flüchtlinge landen ja selten direkt in Deutschland. Die kommen aus dem Süden. Horst Seehofer würde mit diesem Schachzug das Flüchtlingsproblem an den Süden Europas delegieren. Kanzlerin Angela Merkel will das verhindern. Denn das Delegieren des europäischen Flüchtlingsproblems an Italien und Griechenland ist nicht nur unfair, es ist unklug. Zudem könnte Italien auf die Idee kommen, Flüchtlinge nicht mehr zu registrieren und nach Deutschland durchzuwinken.

In den USA hat Donald Trump auch eine Art Flüchtlingsproblem: Er hat die Zero-Tolerance Policy ausgerufen und lässt die illegale Einwanderung in die USA nicht mehr als Übertretung ahnden, sondern als Verbrechen. Die Folge: Wie Mordverdächtige werden Illegale, die geschnappt werden, sofort ins Gefängnis gesteckt und dabei von ihren Kindern getrennt. 2300 vornehmlich mexikanische Kinder sind seit Mai auf diese Weise von ihren Eltern getrennt worden.[1] Mittlerweile hat er in einem scheinheiligen Akt ein Dekret unterschrieben, das die Trennung von Familien verbietet – jetzt werden Eltern und Kinder einfach gemeinsam eingebuchtet.

Wenn Mitmenschlichkeit strafbar wird

In Ungarn haben Premier Viktor Orbàn und die regierenden Rechtsparteien diese Woche ein Gesetz verabschiedet, das es Nichtregierungsorganisationen verbietet, Flüchtlingen zu helfen. 160 Abgeordnete stimmten für das Gesetz, es gab nur gerade 18 Nein-Stimmen.[2] Wenn eine Nichtregierungsorganisation künftig Wasser oder Nahrungsmittel an gestrandete Flüchtlinge verteilt, kann ihr das als «Beihilfe zur illegalen Migration» ausgelegt werden. Darauf stehen in Ungarn künftig Gefängnisstrafen. Zudem kann den Helfern der Aufenthalt in der Nähe der Grenze verboten werden.

Der italienische Innenminister Matteo Salvini von der Lega steht Orbàn in nichts nach. Salvini hat diese Woche schon dem zweiten Rettungsschiff die Landeerlaubnis verweigert. Den freiwilligen Helfern auf dem Rettungsschiff «Lifeline», das unter niederländischer Flagge fährt, empfahl Salvini: «Diese Fracht von Menschenwesen bringt ihr nach Holland.» Er unterstellte den Helfern zudem, Profit aus den Rettungsaktionen zu schlagen: «Ich weiss nicht, welchen Gewinn ihr daraus (aus der menschlichen Fracht) zieht.»[3] Salvini will die Überfahrten über das Mittelmeer komplett unterbinden und die Flüchtlinge in Lagern in Nordafrika festhalten. Salvini wehrte sich zudem, Flüchtlinge aus dem Norden zurückzunehmen, wie das die CSU will. Salvini drohte damit, die Grenze gegen den Norden zu schliessen.

Recht auf Grenzen?

Österreichs Jungkanzler Sebastian Kurz baut unterdessen an der «Achse der Willigen», wie er es nennt: Er versammelt um sich jene Länder, die nichts am Hut haben wollen mit einer liberalen Flüchtlingspolitik, wie sie Angela Merkel und Emmanuel Macron vorschwebt. Er traf sich diese Woche mit dem deutschen Innenminister Horst Seehofer und dem bayrischen Ministerpräsidenten Markus Söder, darauf folgten Ungarn, Polen, Tschechien und die Slowakei. Kurz will durchsetzen, dass jeder Staat in Europa seine Grenzen nach Belieben dicht machen und Flüchtlinge zurückweisen kann. Kurz und seine Willigen wollen keine Flüchtlinge in Europa. Sie wollen keine europäische Lösung. Sie wollen eine Renationalisierung Europas. Sie wollen wieder Grenzen.

Nun ist das natürlich ihr gutes Recht. Orbàn, Kurz und die anderen sind nun mal Nationalisten. Auch in der Schweiz betont die SVP immer wieder, dass es das Recht eines Landes sei, zu bestimmen, wer ins Land hineingelassen wird und wer nicht. Vielleicht sagen Sie jetzt: Klar dürfen das die Ungarn. Schliesslich ist es ihr Land. Orbàn, Kurz und Salvini verhalten sich nicht anders als Kapitäne auf einem Schiff. Die müssen auch nicht jeden auf ihren Pott lassen. Vielleicht. Aber auf hoher See sind Kapitäne dazu verpflichtet, Schiffbrüchigen Hilfe zu leisten. So steht es zum Beispiel im Artikel 133 des Schweizer Seeschifffahrtsgesetzes: Der Kapitän eines schweizerischen Seeschiffes, der es unterlässt, einem andern Schiff in Seenot oder Personen in Lebensgefahr Beistand zu leisten, obschon er dazu ohne ernstliche Gefahr für sein Schiff, dessen Besatzung und Passagiere imstande ist, wird mit Gefängnis bestraft.[4]

Menschenrechte nur für Schweizer

Die europäischen Länder und die USA behandeln Flüchtlinge und Migranten wie lästige Schmeissfliegen. Sie verhöhnen damit die hehren Worte, die in ihren Verfassungen stehen und sie lachen der Aufklärung ins Gesicht. Die Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft zum Beispiel ist ein wunderbares Dokument. In Artikel 7 steht da: Die Würde des Menschen ist zu achten und zu schützen. Und in Artikel 9: Niemand darf diskriminiert werden, namentlich nicht wegen der Herkunft, der Rasse, des Geschlechts, des Alters, der Sprache, der sozialen Stellung, der Lebensform, der religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugung oder wegen einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung. Aber spätestens bei Artikel 10, in dem steht: Jeder Mensch hat das Recht auf Leben. wird einem klar: Diese schönen Worte gelten nur für Schweizer. Menschenrechte sind in der Schweiz eine Frage des richtigen Passes – und damit keine Menschenrechte, sondern Schweizerrechte.

Wir berufen uns stolz auf die Werte der Aufklärung: auf die Gleichheit und Gleichberechtigung der Menschen, auf Freiheit und Brüderlichkeit und darauf, dass das Vernünftige gut ist und das Gute vernünftig. Wir wehren uns gegen Minarette und die Burka, weil die sich angeblich nicht mit den christlichen Werten vertragen. Der Westen sei eine Wertegemeinschaft und vertrage deshalb die Zuwanderung nur, wenn sich die Zuwanderer explizit diesen Werten anschliessen. Gleichzeitig treten unsere Politiker genau diese Werte der Aufklärung mit Füssen, wenn ihre Flüchtlingspolitik sich ausnimmt wie die Politik um Umgang mit einem Hochwasser. Wenn Flüchtlinge wie unerwünschte Fracht behandelt werden, wie kontaminierter Müll.

Europa als gated community

Nein, wir können nicht alle Geflüchteten aufnehmen – nicht einmal einen Bruchteil davon. Aber müssen wir sie deswegen behandeln wie Sondermüll? Nein, viele der Migranten sind keine Flüchtlinge im engeren Sinn, es sind Wirtschaftsflüchtlinge, die aus ihren Heimatländern flüchten, weil sie da keine wirtschaftliche Perspektive haben. Aber ging das nicht auch vielen Schweizern, vielen Deutschen, vielen anderen Europäern so, als sie im letzten und vorletzten Jahrhundert verzweifelt ins gelobte Amerika auswanderten? Und warum haben diese Menschen in ihren eigenen Ländern denn keine Perspektive? Hat das nicht auch damit zu tun, wie unsere Firmen in diesen Ländern Geschäfte machen?

Nein, ich habe auch keine Lösung für die Flüchtlingskrise. Nein, wir können nicht alle zu uns holen. Allerhöchstens einige wenige, besonders gefährdete. Aber das ist kein Grund, die Scheinheiligkeit der westlichen Politiker weiter zu ertragen. Die Politiker, die Kreuze an die Wand hängen und gleichzeitig die Botschaft des Gekreuzigten verhöhnen. Die Politiker, die von westlichen Werten reden, aber eigentlich nur zwei Werte kennen: Macht und Profit. Nein, die westliche Welt ist keine Wertegemeinschaft mehr. Die westliche Welt ist zum Profitcenter geworden, zum Schutzraum für die Reichen. Wenn wir es zulassen, dass Europa zur gated community wird, dann hat dieses Europa seine Existenzberechtigung verspielt. Ich glaube auch nicht, dass es eine einfache Lösung gibt für den Umgang mit den Geflüchteten. Aber sollten wir es nicht wenigstens versuchen?

Basel, 22. Juni 2018, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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[1] Vgl. https://www.nytimes.com/2018/06/20/us/politics/trump-immigration-children-executive-order.html

[2] Vgl. http://www.dw.com/de/neues-gesetz-bedroht-fl%C3%BCchtlingshilfe-organisationen-in-ungarn/a-44316348

[3] Vgl. https://www.nzz.ch/international/salvini-will-retter-vertreiben-ld.1396932

[4] Vgl. https://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/19530141/index.html#a133

4 Kommentare zu "Der Westen im Wertedilemma"

    1. Danke für den Hinweis, das Profitcenter habe ich korrigiert. Ein Mail lässt sich leider nicht zurücknehmen und ändern. Und leider sieht man solche Dinge manchmal erst, wenn der Sendeknopf schon gedrückt ist. Und dann beisse ich in die Tischkante und ärgere mich fürchterlich über mich selbst. Es kommt nicht von ungefähr, dass Zeitungen Korrektoren haben. Wenn man eigene Texte Korrektur liest, ist man immer mit dem Inhalt beschäftigt und sieht die Fehler schlecht. So bleibt mir nur, um Entschuldigung zu bitten und zu danken für Ihre Aufmerksamkeit…

  1. Lieber Matthias

    Mit diesem Kommentar versteht man warum Herr Villiger Bundesrat werden könnte, Herr Riebli uns seine Kelfershelfer dagegen es nicht werden dürfen. Der Alt-Bundesrat erkennte die wahren Werte, der Andere erkennt sie nicht.

  2. Für den von Menschen gemachten Teil der Flüchtlingskrise ist im Rahmen der real bestehenden Verhältnisse ebenso wenig eine Lösung möglich wie für den von Menschen gemachten Teil der Klimakatastrophe. Bei einem ‚Wertedilemma‘ geht es noch um ’so oder so‘. Diese Grenze zeigt sich immer öfter überschritten. Unter dem Diktat von Gier sind die gelobten oder gerechten Werte de facto ausser Kraft gesetzt. Was zählt, ist nur noch der Profit. Gleichgültigkeit ist Trumpf. Neoliberal befreit herrscht eine kollektiv organisierte Verantwortungs- und Wertelosigkeit. Wo alle tun können, was und wie sie es wollen. Solange sie die Macht auf ihrer Seite haben. In einer Demokratie genügt dafür die Macht der Mehrheit: Auch sie kann korrupt sein. Läuft es schief, kann niemand etwas dafür: Und jede*r ist sich selbst der*die Nächste.

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