Der verborgene Schatz des Staates

Publiziert am 29. September 2023 von Matthias Zehnder

Herbst in der Occitanie – das sind die Farben von van Gogh im Teller: Oliven und Tomaten, Austern und Makrelen und dazu ein Glas Picpoul de Pinet. Die Sonne steht tief, die Pinien und Zypressen werfen lange Schatten. Die Nächte sind fast schon kühl, das Gras ist am Morgen nass von Tau. Noch hat die Sonne aber Kraft und wärmt die hellen Kalksteinmauern rasch wieder auf. Am Strand bei Marseillan bauen Marcel und seine Freunde das «Restaurant Cap Horn» ab. Das Schild «Viandes, Poissons, Salades, Moules» lehnt schief an der Holzbaracke. Sie sammeln Liegestühle ein und demontieren die Terrasse, wo sie einen heissen Sommer lang Touristen verköstigt haben. Der alte Mann mit dem Glacewagen dreht eine letzte Runde am Strand, seine Hupe klingt rostig von der langen Saison, manchmal gönnt er sich jetzt eine Pause, setzt sich im Schatten seines Wägelchens in den Sand und schaut, wie die Touristen, auf das ewige Blau des Mittelmeers hinaus. Alle, Touristen wie Einheimische, scheinen durchzuatmen und sich zu strecken.

Ich liebe diese Stimmung. Ganz besonders diese langen, von Platanen gesäumten Strassen, die wie auf einer Kinderzeichnung schnurgerade auf einen Hügel führen und auf der anderen Seite hinunter, nur um wieder den nächsten Hügel in Angriff zu nehmen. Es dauert manchmal zehn, manchmal zwanzig Minuten Fahrt, bis wieder ein Haus in Sicht kommt. Hier hat es Landschaft zwischen den Siedlungen. Man kommt zu Atem. In der Ferne brummt, wie eine besonders tiefe Hummel, ein Flugzeug, das Brummen wird leiser, ohne dass das Flugzeug am Himmel aufgetaucht wäre. Die Hektik des Alltags in der Schweiz ist weit weg.

Graben und Stromleitung links, Graben und Telefonleitung rechts – Strasse bei Marseillan im Herbst 2023.

Erst auf den zweiten Blick fallen die tiefen Gräben links und rechts der Strasse auf. Die meisten Strassen sind hier gesäumt von solchen Gräben. Auf kleineren Strassen machen sie das Kreuzen ganz schön schwierig. Einmal sehen wir sogar ein Auto, das, wie ein gestrandeter Käfer, kopfüber auf dem Dach in einem Graben liegt. Es muss schon ein par Tage da gelegen haben: Alle vier Räder fehlen. Wir fragen uns, warum die Strassen von so tiefen Gräben begrenzt sind, wo sie das Kreuzen doch offensichtlich so gefährlich machen.

Die Antwort ist einfach: Die Gräben sammeln das Wasser. Alle Strassen sind leicht gewölbt. Der Regen rinnt zur Seite in die Gräben. Eine andere Form der Entwässerung gibt es nicht. Die Gräben lenken den Blick auf ein Thema, das ebenso wichtig wie langweilig ist: die Infrastruktur des Landes, ganz besonders Strassen und Leitungen. Wichtig und langweilig, das ist eine gefährliche Kombination. Kaum jemand interessiert sich für Strom- und Telefonleitungen, den Zustand von Strassen oder ihre Entwässerung. In der Schweiz sind all diese Leistungen gar nicht mehr sichtbar: Die Leitungen sind unter den Boden gelegt, die Strassen unsichtbar von Kanalisationen durchzogen. Niemand macht sich darüber Gedanken.

Bis, ja: bis es nicht mehr funktioniert. Hier, in den Ferien in der Occitanie, ist es zu verschmerzen, wenn der Mobilfunkempfang schwankt zwischen einem Strich 5G und (eher hypothetischen) zwei Strichen 3G. Je nach Wetter und Wind oder ob sich gerade ein Vogel vor der Antenne das Gefieder putzt. Was weiss ich. Festnetz gibt es nicht, respektive nur für wenige. Die Telefonleitungen werden, wie früher, von Mast zu Mast im Freien geführt, parallel zu den Stromleitungen. Was Strom ist und was Telefon, lässt sich kaum unterscheiden. Nur die Isolatoren am Mast verraten die Stromleitungen. Manchmal sind die Leitungen notdürftig an einem Baum befestigt oder am Kamin eines Hauses. Geflickt werden sie vor allem mit Klebeband. Homeoffice im Hinterland? Kann man vergessen. Hier können nur Schriftsteller zu Hause arbeiten. Glasfaser? Unmöglich. Schnelles Internet gibt es hier höchstens per Satellit, seufzen die Einheimischen. Unnötig, zu erklären, dass das viel zu teuer ist.

Erst wenn das Notebook Minuten braucht, um ein, zwei Mails zu laden und Websites sich, wie in den Anfangstagen des Internets, nur schrittweise aufbauen, wird dem Besucher aus der Schweiz bewusst, wie gut und zuverlässig unsere Infrastruktur ist. Die Strassen, die Kanalisation, die verbuddelten Leitungen für Strom und (superschnelles) Internet – sie sind der Staatsschatz unseres Landes. Unsichtbar, aber unverzichtbar. Ob in Basel oder Samedan – Strassen und Leitungen sind top.

Und warum sind die Unterschiede so gross? Warum steht es hier in Südfrankreich, in der Occitanie, so viel schlechter um die Infrastruktur als in der Schweiz? Nein, es liegt nicht daran, dass die Schweizer es so viel besser machen. Es liegt daran, dass die Schweiz so viel dichter besiedelt ist. Unser Mittelland ist ein mehr oder weniger zusammenhängendes Siedlungsgebiet. Das lässt sich viel einfacher mit schnellem Netz und guten Strassen  erschliessen als das dünn besiedelte französische Hinterland. Das ist die positive Seite der Neun-Millionen-Schweiz: Kein Weg ist weit, alles gut erschlossen. Der Nachteil: Wir haben, ausser in den Alpen und vielleicht im Jura, keine Landschaften mehr. Deshalb geniessen wir in Frankreich die Weite und den grossen Himmel.

Es ist, zumal im Wahlkampf, Mode geworden, die Neun-Millionen-Schweiz zu geisseln. Aber es gibt den Fünfer und das Weggli bekanntlich nie gleichzeitig, auch wenn wir Schweizer manchmal meinen, dass die Regel für uns eine Ausnahme mache. Die Schweiz hat den Vorteil, dass sie zur Stadt geworden ist – und bezahlt das mit den Nachteilen, die eine Stadt mit sich bringt. Im Alltag, für Familien, für die Ausbildung, die Arbeit, sind kurze Wege von Vorteil. In der Freizeit, in den Ferien, vermissen wir die Weite. Aber es gibt Weite genug um unser Land herum. Und in den Alpen.

Ich schaue einem kleinen Vogelschwarm nach, der über das frisch gepflügte Feld zieht. Ein Nachzügler versucht mit hektischem Flügelschlag den Anschluss nicht zu verpassen. Wohin sie wohl ziehen? Seit Jahrtausenden geniessen die Menschen an dieser Küste, was die Natur hervorbringt: Oliven, Austern und Wein. Die Politik wird in Paris gemacht. Und in Brüssel. Darüber schütteln sie hier beim ersten Pastis nur die Köpfe. Aber Paris ist weit weg. Brüssel sowieso. Manchmal ist der schlechte Empfang hier ein Segen.

Montagnac, 29. September 2023, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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2 Kommentare zu "Der verborgene Schatz des Staates"

  1. Es freut mich, dass auch Sie (neben mir und vielen anderen) feststellten, dass es in der Schweiz „keine Landschaften“ mehr gibt. (…Wir haben, ausser in den Alpen und vielleicht im Jura, keine Landschaften mehr. Deshalb geniessen wir in Frankreich die Weite und den grossen Himmel…).
    Dieser «Nachteil» überwiegt gegenüber dem «Vorteil» bei weitem. Denn bebautes Land wird kaum wieder unbebaut. Zu fest ist alles (im wörtlichen und übertragenen Sinn) mit Beton und Grundbuch zuzementiert. Unsere Kinder werden eine Schweiz ohne Luft, Licht und Ruhe übernehmen müssen. Und flaut der Wirtschaftsboom mal ab, können riesige Ghetto-Flächen entstehen.
    Da Sie weit in den Ferien weilen muss es Ihnen gesagt werden: In der CH sind Wahlen, und in Sachen «Fertig Beton» kann man von keiner Partei was erwarten: Die FDP will (ewiges) Wachstum über alles; die «Mitte»-Partei stellt Wirtschaft über alles (z.B. BL-NR E. Schneider-Schneiter: Wirtschaft über Jugendschutz bei Rauchwerbung, über Arbeitsrecht, da sollen «Rote Linien» nach Launen verschoben werden, kurz = über alles); die SP steht für eine urbane Schweiz und Willkommenskultur, Kaspar Sutter (RR-BS): «Wir müssen wachsen, Wachstum zwingend» (Quelle BaZ von letzthin); Die Grünen sehen immer noch keinen Zusammenhang zwischen mehr-Menschen und mehr-Beton, Grüne Irene Kälin kann sich eine 11 oder 12 Mio.-Schweiz gut vorstellen (Quelle TeleZüri) – alles «bloss Frage der Organisation» sagte sie…
    Landschaften wird es also in der Schweiz keine mehr geben, weiter Himmel auch nicht mehr. Mut macht alleine Ökonom Mathias Binswanger in einem Interview mit dem Beobachter: «Die SVP sollte sich nicht entmutigen lassen, sie ist die einzige Partei, welche die Zuwanderströme wieder kontrollieren können will». Der Hochschullehrer sagt: «Die 10-Millionen-Schweiz, auf die das Land mit grossen Schritten zusteuert, ist nicht gottgegeben», und: «Natürlich können wir auch in einer 20-Millionen-Schweiz leben, wenn wir indische Slums zum Vorbild nehmen.»
    Deshalb liebe ich wie viele z.B. «Diagonale du vide»
    https://de.wikipedia.org/wiki/Diagonale_du_vide
    in France immer mehr und meine Heimat CH wird mir so immer fremder.
    Schon jetzt bemitleiden uns viele Elsässer, welche sich nie vorstellen könnten, in der CH, ohne Eigentum, ohne Land, in dieser ewigen Enge und alles so teuer leben zu können. Ich empfinde, auch ohne 5G&Co., mit Lotterleitungen und Abwassergraben kann man «savoire vivre» haben – je länger, je lieber, je besser….
    n’est-ce pas?

  2. Ihr Wochenkommentar: Einfach nur WAU! Und ja: Weniger motzen und dabei das Gute in unserem Land wieder mehr sehen! Und das Gute in anderen Ländern.
    Kein einziger Vorwurf in Ihrem Text, keine Polemik und doch bringt er mich zum Nachdenken. Vielleicht gerade deshalb.
    Ihnen ganz schöne Ferien!

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