Der Rest verblasst im Blau

Publiziert am 28. Januar 2022 von Matthias Zehnder

Ich denke mir diese Zeilen hoch über dem Engadin auf einem Sessellift aus. Ich sitze allein auf einer Bank, die sechs Personen Platz bieten würde. Der Sessel schwankt kaum und zuckelt langsam einer Bergflanke entlang in Richtung Bergstation. Es ist ein phantastischer Tag. Die Gipfel der Engadiner Alpen strahlen wie auf einem Bild von Segantini, darüber ein ungetrübtes, tiefes Blau. Ich schwebe allein zwischen Himmel und Schnee, abgehoben von allem, vor allem vom Alltag und dieser Pandemie. 

Die Ansteckungszahlen in der Schweiz haben schwindelerregende Höhen erreicht. Vielleicht findet das Virus bald niemanden mehr, den es noch anstecken kann. Dann wäre es geschafft, wenn nicht wieder eine neue Virus-Variante auftaucht. Und dann? Wie wird das sein, wie wird sich das anfühlen, was werden wir aus der Pandemie gelernt haben?

Ich strecke mich auf meinem Sessel und wippe meine Skier im Takt der Musik. Ich höre meine Jahres-Playlist. Darin sammle ich jedes Jahr aktuelle Songs, die mir wichtig sind. Auch Songs, die meine Kinder gerade gerne haben. Das Handy spielt stronautin diesem Moment «Astronaut» von Sido: «Ich heb ab / Nichts hält mich am Boden…» Genau so.

Meine Kinder. Jetzt sind sie alle erwachsen. Als sie klein waren, waren sie oft krank. Wie Kinder das halt sind. Und Krankheiten lösten immer einen Entwicklungsschub aus. Oder die Krankheiten gaben ihnen die Zeit, um eine Entwicklung durchzumachen. Ich frage mich auf meinem Sessel hoch über dem Schnee der Corviglia, ob das auch für unsere Gesellschaft gilt. Hat die Gesellschaft in der Pandemie auch einen Entwicklungsschub gemacht? Wie wird sich unsere Gesellschaft nach der Pandemie anfühlen?

Der Sessel rüttelt über die Rollen an einem Mast und schüttelt mich durch. Was haben wir gelernt in dieser Zeit als Gesellschaft? Was haben wir am meisten vermisst in dieser Zeit der Einschränkungen? Hoch über dem Engadin kommen mir auf meinem Sessel drei Dinge in den Sinn: Wie wichtig Begegnungen mit Freunden und Bekannten sind. Richtige Begegnungen. Dann die Kultur: Wie schön es ist, Konzerte besuchen zu können, das Theater, Museen, das Kino. Und das dritte? Freiheit? Nein: Das Dritte ist die Unbeschwertheit. Das beinhaltet Freiheit, aber auch Leichtigkeit. Unbeschwert anderen Menschen begegnen zu können, Freunde einzuladen, in einem Restaurant zusammen etwas zu essen, die Köpfe zusammenzustecken und zu diskutieren. Diese Unbeschwertheit.

Ich bin auf dem Plateau Nair angekommen. Der Sicherheitsbügel hebt sich. Was haben wir gelernt in dieser Zeit als Gesellschaft? Dass wir alle zusammen diese Gesellschaft bilden und es auf jeden einzelnen ankommt. Ich setze die Skier auf den Schnee stosse mich ab und Sido singt:
«Ich heb ab!
Ich seh die Welt von oben
Der Rest verblasst im Blau
Ich hab Zeit und Raum verloren, hier oben,
Wie ein Astronaut»

In diesem Sinne grüsse ich Sie herzlich aus dem Endadin. Und ja, Sie haben richtig gelesen: Ich bin in den Ferien. Über diese Zeilen hinaus gibt es heute keinen Wochenkommentar, aber, wie gewohnt, einen Buchtipp und ein Fragebogeninterview.

Zuoz, 28. Januar 2022, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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2 Kommentare zu "Der Rest verblasst im Blau"

  1. „Im Grunde gut“, so titelt Rutger Bregman seine Neue Geschichte der Menschheit: ich bin damit sehr einverstanden (Link zu einer Buchbesprechung, die dem entspricht, was ich darin gefunden habe: https://www.the-art-of-life.at/journal/2020/im-grunde-gut-w5wpy). Wenn Chaos und Wahnsinn herrschen, is es aber schwierig, im Wandel von Innen heraus das Richtige zu tun. Dafür erde und mitte ich mich täglich mit einer buddhistischen Meditation, die sehr alt ist und praktiziert wird, um Mitgefühl, liebende Güte, Herzlichkeit und Verbundenheit mit sich und mit allen andern Lebewesen zu kultivieren. Sie beinhaltet folgende vier Sätze:
    • Möge ich in meinem Herzen wohnen.
    • Möge ich glücklich sein.
    • Möge ich mich gesund und geborgen fühlen.
    • Möge ich unbeschwert und friedvoll durchs Leben gehen.
    Es freut mich, wenn ich andern begegne, die so wie ich unterwegs sind.

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