Fünf Denkanstösse an Stelle eines Wochenkommentars
Einen eigentlichen Wochenkommentar gibt es heute nicht – der Wochenkommentar macht Sommerpause. Dafür gibt es aktuelle Lesetipps. Heute: fünf Denkanstösse – also fünf höchst anregende Sachbücher. Es sind Bücher, nach deren Lektüre sie die Welt anders sehen werden. Das erste Buch zum Beispiel handelt davon, dass sich die Gesellschaft heute verhält, als wäre sie psychotisch. Das zweite Buch dreht sich um die Zukunft der Arbeit, das dritte um die Neuerfindung der Welt in Paris, das vierte um die Illusion des Friedens von Versailles. Mein letzter Denkanstoss schliesslich handelt von der Frage aller Fragen: Was ist der Mensch? Spannende Antworten gibt einer der wichtigsten Neurologen der Welt. Und sie dürften nicht jedem gefallen.
Wenn Sie trotzdem einen Wochenkommentar lesen möchten, empfehle ich Ihnen diese drei Kommentare der letzten Wochen, die immer noch aktuell sind:
Sind die Medien schuld? Die SVP gibt den Medien die Schuld am «Klimahype» wie sie es nennt. Lassen sich Wählerinnen und Wähler wirklich durch die Medien manipulieren?
https://www.matthiaszehnder.ch/wochenkommentar/sind-die-medien-schuld/
Warum Tageszeitungen sterben: Jahrelang haben sie auf Unabhängigkeit und Unternehmertum gepocht – jetzt wollen die Verlage plötzlich Geld von Staat und von Google. Doch das wird der guten, alten Tageszeitung nicht helfen. Denn das grosse Problem der Verlage ist: Ihr Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr.
https://www.matthiaszehnder.ch/wochenkommentar/warum-tageszeitungen-sterben/
Fakenews: Es gibt nur ein Rezept: Twitter und Facebook kommen immer wieder in die Schlagzeilen, weil sie Fakenews veröffentlichen. Trotz aller Kontrollen: Es gibt keinen einfachen Weg, Falschinformation zu verhindern. Eigentlich gibt es nur ein Rezept dagegen.
https://www.matthiaszehnder.ch/wochenkommentar/fakenews-es-gibt-nur-ein-rezept/
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Aber jetzt zu den fünf Denkanstoss-Lektüretipps.
Mein erster Denkanstoss dreht sich um eine interessante Diagnose – und eine eher überraschende Behandlung dafür:
Die psychotische Gesellschaft
Wovor haben Sie Angst? Sind es eher die Flüchtlinge oder die Klimakatastrophe? Der Verlust der Privatsphäre in der digitalen Welt oder die Überwachung durch die NSA? Vor Selbstmordattentätern, Amokläufern oder Gotteskriegern? Sicher ist: In der Gesellschaft machen sich Unbehagen, Angst und Ohnmacht breit, begleitet von einem Gefühl der Dringlichkeit, Sorge und Verzweiflung. Und viele Ängste sind berechtigt, denn die Folgen der Katastrophen sind deutlich: das Erstarken nationalistischer Kräfte, die Verachtung für alle, die angeblich nicht dazugehören, die Suche nach Abgrenzung und eigener Identität. Ariadne von Schirach stellt deshalb fest: Auf vielen zunächst ganz unterschiedlich scheinenden Ebenen stellen sich Fragen danach, wer wir sind, wer wir sein wollen und wie wir gut miteinander und mit allem, was ebenfalls ist, zusammenleben können. Doch bis wir sie beantworten können, erinnert diese allgemeine Auflösung, die zugleich eine Auflösung des Allgemeinen ist, stark an das Krankheitsbild einer Psychose. Eine Psychose, das ist eine Erkrankung des Geistes, ein innerer Ausnahmezustand. So lange er dauert, verliert der Betroffene den Kontakt zur Realität. Die Grenzen zwischen Ich und Welt verschwimmen und die eigene Identität wird dadurch ebenso instabil wie total.
Im Kern jeder psychotischen Erfahrung steht ein umfassender Realitätsverlust. Dazu kommen Symptome wie Erregungszustände, aber auch Wahnideen und mangelnde Krankheitseinsicht. «Der psychotische Mensch hat seinen Geist und sein Urteilsvermögen verloren, sein Leben ist ihm fremd geworden», schreibt Ariadne von Schirach. «Begleitet wird dieser Selbst- und Weltverlust von Angst angesichts der inneren Auflösung und Ohnmacht angesichts der Unfähigkeit, selbst etwas daran zu ändern.» Diese Sätze beschreiben recht genau, was auf gesellschaftlicher Ebene im postfaktischen Zeitalter passiert: ein fundamentaler Zweifel an der Wirklichkeit ebenso wie an ihrer medialen Vermittlung. Was ist wahr, was ist falsch, und wem soll man noch glauben? Es gibt immer mehr News, die Interesse und Empörung schnell entzünden und noch schneller wieder abflammen lassen. «Diese kollektiven Erregungszustände sind ebenso allgegenwärtig wie folgenlos, weil alles, was sie zum Inhalt haben, angesichts stetig nachdrängender News keinen Raum mehr hat, aufgenommen und eingeordnet, geschweige denn irgendwie verarbeitet zu werden.» Deshalb haben es auch auf kollektiver Ebene Wahnideen leicht, sich auszubreiten, von ominösen Verschwörungstheorien über abstruse, oft nationalistisch, rassistisch oder sexistisch Privatideologien bis hin zu bösartigen Verleumdungen, die vor allem in den sozialen Netzwerken fast ungebremst verbreitet werden können. Für Ariadne von Schirach ist deshalb klar: Wir leben in einer psychotischen Gesellschaft. Sie belegt ihre Diagnose auf interessante Art und Weise – und weist uns einen schönen, einen poetischen Ausweg aus der Psychose. Ein spannendes Buch!
Ariadne von Schirach: Die psychotische Gesellschaft. Wie wir Angst und Ohnmacht überwinden. Tropen, 260 Seiten, 29.90 Franken; ISBN 978-3-608-50233-6
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Mein zweiter Denkanstoss handelt davon, ob und wie wir in Zukunft arbeiten werden – und was wir als Gesellschaft unternehmen müssen, damit wir überhaupt noch Arbeit haben werden:
Die Rettung der Arbeit
Dass die Digitalisierung die Welt der Arbeit verändern, ja umpflügen wird, dürfte heute jedem klar sein. Die Frage ist: Wer gehört dabei zu den Gewinnern, wer zu den Verlierern? Die einen verdienen besser, weil ihr Können gefragt ist, und sie haben mehr Freizeit. Die anderen sind arbeitslos, weil ihre Arbeit von Maschinen erledigt wird. Die einen verdienen in der globalisierten Digitalwelt Unsummen – die anderen halten sich mit Kurzzeitjobs mehr schlecht als recht über Wasser. Bildung, eine gute Ausbildung und Erfahrung sind keine Garantie mehr für Arbeit, Lohn und Brot. Kein Wunder treibt derzeit die Angst vor der Zukunft der Arbeitswelt viele Menschen um. Es ist die Angst davor, bald nur noch Anhängsel eines Computers oder Sklave einer App zu sein oder gar komplett aussortiert zu werden. Allerdings kreist diese Debatte oft nur um Zahlen, um Studien, Geld und um die Wirtschaft. «Was fehlt, ist eine Einigung auf grundlegende Werte und die Entwicklung einer Vorstellung davon, wohin es im Interesse des Gemeinwohls mit der digitalen Transformation der Arbeitswelt gehen könnte», schreibt Lisa Herzog. In ihrem Buch spricht sie die zentralen Fragen an und versucht, sie aus philosophischer Sicht zu beantworten. Denn bei den anstehenden Veränderungen in der Arbeitswelt geht es um grundlegende Mechanismen des gesellschaftlichen Zusammenlebens und in der Folge auch um die Verteilung von Einkommen, Ansehen – und Macht.
Bei den Veränderungen der Arbeitswelt geht es um nicht weniger als um die Grundfragen der politischen Philosophie: Wie wird menschliches Zusammenleben organisiert? Was macht eine gute und gerechte Gesellschaft aus? Wie können wir unsere Institutionen und sozialen Praktiken entsprechend gestalten? Weil diese Fragen rund um die Zukunft der Arbeit so zentral sind, plädiert Lisa Herzog plädiert dafür, dass wir sie einfach ihrem Schicksal oder dem ungesteuerten Wirken des freien Markts überlassen. Sie schreibt: «Arbeit ist mehr als ein lästiges Übel, und sie ist mehr als ein Mittel zum Geldverdienen. Arbeit ist eine zutiefst menschliche Angelegenheit: etwas, das so sehr zu unserem Wesen gehört, dass es sie wahrscheinlich auch dann noch gäbe, wenn die sozialen Verhältnisse komplett anders organisiert wären und Maschinen uns noch mehr Aufgaben abnehmen würden.» Denn Menschen wollen etwas schaffen und die Welt gestalten. Sie plädiert deshalb dafür, die Arbeitswelt und die rechtlichen und sozialen Spielregeln, nach denen sie funktioniert, so zu gestalten, dass sie unseren Vorstellungen von der Würde und den Rechten der Einzelnen und vom Wohl der Gesellschaft als ganzer entspricht, «anstatt hinzunehmen, dass sie von den Kräften, die derzeit die digitale Transformation vorantreiben, auf eine Art und Weise geformt wird, die unseren Vorstellungen von Gerechtigkeit, Freiheit und Demokratie zuwiderläuft.» Sie fordert deshalb eine demokratische Kontrolle der Wirtschafts- und Arbeitswelt. Das bedeutet auch: Zentrale Fragen unserer Zukunft werden sich am Verhältnis zwischen Wirtschaft und Politik entscheiden. Das Buch bietet deshalb nicht nur Einsichten in die Arbeitswelt der Zukunft, sondern birgt auch politisch Zündstoff.
Lisa Herzog: Die Rettung der Arbeit. Ein politischer Aufruf. Hanser Berlin, 224 Seiten, 31.90 Franken; ISBN 978-3-446-26206-5
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783446262065
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Mein dritter Denkanstoss nimmt Sie mit in die pulsierenden Nachkriegsjahre in Paris, in eine Zeit, als Intellektuelle aus aller Welt die Kultur neu formten:
An den Ufern der Seine
Nach dem zweiten Weltkrieg, als Deutschland am Boden lag, das russische und das osteuropäische kulturelle Leben zerstört war, Spanien im Faschismus gefangen, Italien mit dem Aufbau beschäftigt und Grossbritannien sich von den Kriegsanstrengungen zu erholen versuchte, konzentrierte sich das kulturelle Leben Europas zehn Jahre lang auf Paris: An den Ufern der Seine nahm der New Journalism seinen Anfang, der die Grenzen zwischen Literatur und Reportage vermischte. Hier entstand das absurde Theater. Maler überwanden den sozialistischen Realismus und loteten die Grenzen der geometrischen Abstraktion aus. Das Action Painting entstand. Philosophen gründeten neue Denkschulen wie den Existenzialismus und gleichzeitig eine politische Partei. Schriftsteller entwickelten den Nouveau Roman. Schwarze Jazzmusiker, die wegen der Rassentrennung ihrer Heimat den Rücken gekehrt hatten, wurden in den Konzertsälen und Clubs von Paris bejubelt. Diesem kulturellen Aufbruch in Paris ist dieses Buch gewidmet: Es ist ein erzählerisches Porträt des Pariser Lebens in der Zeit zwischen 1940 und 1950: eine Rekonstruktion, eine Bildcollage, ein Kaleidoskop von Schicksalen, das auf verschiedenen Quellen und Dokumenten beruht.
Zu den Helden des Buchs gehören natürlich Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir, aber auch Samuel Beckett, Albert Camus und Norman Mailer, natürlich spielt Pablo Picasso eine grosse Rolle, aber auch Alberto Giacometti, Alexander Calder und Ellsworth Kelly. Hätte das Buch Töne, wäre Miles Davis zu hören, Boris Vian und Juliette Gréco – und viele mehr. Bei manchen wie Jean Cocteau ist es selbstverständlich, dass sie damals Paris prägten, bei anderen, etwa bei Ernst Jünger oder Irwin Shaw ist es eher überraschend. Agnès Poirier stützt sich bei der Darstellung der Zeit auf Journale und Tagebücher, aber auch viele weitere Quellen wie Zeitungsausschnitte, Archive und Zeitzeugen. Sie schafft es dabei, die Zeit, die Diskussionen und die Strassen von Paris so lebendig zu schildern, dass sie uns Leserinnen und Lesern ein echtes Eintauchen in die Pariser Nachkriegszeit ermöglicht. Das ist nicht nur spannend, sondern schafft auch die Grundlage dafür, die Ideen aus jener Zeit zu verstehen und nachvollziehen zu können. Denn viele dieser Ideen prägen die Kunst und Kultur bis heute.
Agnès Poirier: An den Ufern der Seine. Die magischen Jahre von Paris 1940 – 1950. Klett-Cotta, 508 Seiten, 36.90 Franken; ISBN 978-3-608-96401-1
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783608964011
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Mein vierter Denkanstoss handelt von einem Friedensschluss, der keiner war:
Die grosse Illusion
Als die deutschen Minister Hermann Müller und Johannes Bell am 28. Juni 1919 im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles ihre Unterschrift unter den Friedensvertrag mit den Alliierten setzten, war das eine hoch symbolische politische Inszenierung, bei der nichts dem Zufall überlassen und den Besiegten nichts erspart blieb. Eckart Conze schreibt in seinem Buch, dass die düstere Szene offenbare, «dass der Krieg mit der Pariser Konferenz und dem Friedensschluss von 1919/20 nicht zu Ende ging.» Es habe damit zwar eine Demobilmachung der Truppen stattgefunden – aber keine «Demobilmachung der Geister»: Die Friedensschlüsse bauten die alten Spannungen nicht ab, sondern verlängerten sie in die Nachkriegszeit und schufen obendrein neue Konflikte. Die Welt kam nicht zur Ruhe. Grossbritannien und Frankreich, die europäischen Imperien, hatten zwar den Krieg gewonnen, ihre Imperien aber waren erschüttert. Von Indochina über Indien bis nach Irland nahmen Forderungen nach nationaler Selbstbestimmung an Stärke zu. In Ostmittel- und Südosteuropa kam es nach der Auflösung des Zarenreichs, des Habsburgerreichs sowie des Osmanischen Reichs zu einer Nationalisierung der Einzelstaaten, mit vielen kriegerischen Konflikten. In Deutschland erwies sich der Versailler-Vertrag als schwere, als zu schwere Belastung für die junge Demokratie der Weimarer Republik.
Dabei waren 1919 die Hoffnungen der ganzen Welt darauf gerichtet, dass nach dem Grossen Krieg eine stabile Ordnung geschaffen und dauerhafter Friede herrschen würde. Doch wie Eckart Conze zeigt, erwiesen sich alle Hoffnungen als gewaltige Illusion. Denn weder die alliierten Sieger noch das geschlagene Deutschland und die anderen Verlierer waren bereit, wirklich Frieden zu machen. Auf allen Seiten ging auch nach dem Waffenstillstand der Krieg in den Köpfen weiter, mit verheerenden Folgen. Versailles war letztlich ein Frieden, den keiner wollte – eben: eine grosse Illusion.
Eckart Conze: Die grosse Illusion. Versailles 1919 und die Neuordnung der Welt. Siedler, 560 Seiten, 42.90 Franken; ISBN 978-3-8275-0055-7
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783827500557
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Mein fünfter Denkanstoss schliesslich dreht sich um die Beantwortung der Fragen aller Fragen aus der überraschenden Sicht eines Nobelpreisträgers der Medizin:
Was ist der Mensch?
Mit dieser Frage haben sich Philosophen, Dichter und Ärzte seit Anbeginn der Menschheit beschäftigt. Am Eingang des Apollotempels in Delphi war das Motto «Erkenne dich selbst» sogar in Stein gehauen. Seither haben sich Denker immer wieder aufs Neue darum bemüht, die Gedanken, Gefühle, Verhaltensweisen, Erinnerungen und kreativen Kräfte zu verstehen, die den Menschen zu dem machen, was er ist. Im 17. Jahrhundert kam der französische Philosoph René Descartes auf die griffige Formel «Ich denke, also bin ich». Er sagte damit auch: Geist und Körper sind unabhängig voneinander. Eric Kandel schreibt, dass Descartes das Pferd von hinten aufgezäumt habe: In Wirklichkeit müsste es heissen «Ich bin, also denke ich». Das Resultat dieser Wende des Nachdenkens über das Denkens ist die Neurowissenschaft, also die Wissenschaft vom Gehirn und damit eine neue, biologische Herangehensweise an den Geist. Die Neurowissenschaft basiert auf dem Konzept, dass unser Geist ein System von Prozessen ist, die vom Gehirn vollzogen werden, und das Gehirn ist seinerseits eine Art komplizierte Rechenmaschine, die unsere Wahrnehmung der Aussenwelt konstruiert, unsere inneren Erlebnisse erzeugt und unsere Tätigkeiten steuert.
Der das schreibt, muss es wissen: Eric Kandel gilt als einer der bedeutendsten Neurowissenschaftler des 20. Jahrhunderts. 1929 in Wien geboren, emigrierte er kurz nach der Machtübernahme der Nazis mit seiner jüdischen Familie in die USA. Seit 1974 ist er Professor an der Columbia University in New York. Für seine Forschung erhielt Eric Kandel im Jahr 2000 den Nobelpreis für Medizin. Kandel hat sich in seiner Arbeit immer wieder mit der Frage beschäftigt, inwiefern komplexe menschliche Verhaltensweisen biologische Ursachen haben. In seinem neuen Buch geht er der Frage nach, wie die Prozesse im Gehirn, die unseren Geist entstehen lassen, durcheinandergeraten können, was dann zu verschiedenen schweren Krankheiten führt: Autismus, Depression, bipolare Störung, Schizophrenie, Alzheimer, Parkinson und posttraumatische Belastungsstörung. Kandel erklärt, warum Wissen über solche fehlgeleiteten Prozesse nicht nur unentbehrlich ist, wenn wir neue Therapien für die Krankheiten finden wollen, sondern auch, um die normale Funktionsweise des Gehirns besser zu verstehen. Ausserdem macht er deutlich, dass wir unsere Kenntnisse über die Funktionsweise des Gehirns erweitern können, wenn wir normale Varianten der Gehirnfunktion untersuchen, beispielsweise die Vorgänge, durch die sich das Gehirn in der Entwicklung differenziert und so unsere sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität festlegt. Und schliesslich zeigt er, wie wir mit einer biologischen Herangehensweise an den Geist nach und nach auch die Geheimnisse von Kreativität und Bewusstsein lüften können. Kandel ermöglicht damit neue Einsichten über das Wesen des Menschen, aber auch ein tieferes Verständnis für unser gemeinsames und individuelles Menschsein.
Eric Kandel: Was ist der Mensch? Störungen des Gehirns und was sie über die menschliche Natur verraten. Siedler, 368 Seiten, 42.90 Franken; ISBN 978-3-8275-0114-1
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783827501141
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Wittdün auf Amrum, 12. Juli 2019, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch
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2 Kommentare zu "Fünf Denkanstösse an Stelle eines Wochenkommentars"
Persönliche Anmerkung zum Buch „Die psychotische Gesellschaft“: Gegenüber einer Gesellschaft, die immer mehr psychotisch zu denken und zu handeln scheint, fühle ich mich wie ein Geisterfahrer. Weil ich mich zwar auf der richtigen Spur wähne, aber nicht auf der rechten bin. Ein Beispiel. Zum NZZamSonntag-Beitrag von Alain Zucker „Die Probleme werden grösser – wie auch unser Hang sie zu verdrängen“ habe ich gefragt: Braucht die Gesellschaft eine Psychoanalyse? Und dazu ausgeführt: Das Nachkriegs-Wirtschaftswunder-Perpetuum-Mobile «Immer-noch-mehr-dank-immer-noch-mehr» steht still. «Immer-noch-mehr» geht nicht mehr. Und es ist so, wie es Alain Zucker schreibt: Die Mehrheit will es nicht wissen. Auch und vor allem im Schlaraffenland Schweiz nicht. Probleme, wie sie sich beispielsweise mit dem Klimawandel, den mangelnden Ressourcen und der globalen Verschuldung stellen, werden kollektiv maximalmöglich verdrängt. Könnte vielleicht eine Psychoanalyse der Gesellschaft helfen: Um aus dieser Sackgasse zu kommen und um nachhaltig zukunftsorientiert handlungsfähig zu werden? – Dieser Text wurde von der NZZamSonntag nicht publiziert.
Eine persönliche Anmerkung zum Buch „Die psychotische Gesellschaft“. Immer mehr wähne ich mich gegenüber der Gesellschaft als Geisterfahrer: Zwar auf der richtigen Spur, aber nicht auf der rechten. Dazu ein Beispiel. Zum NZZamSonntag-Beitrag von Alain Zucker „Die Probleme werden grösser – wie auch unser Hang sie zu verdrängen“ habe ich die Frage gestellt: Braucht die Gesellschaft eine Psychoanalyse? Und dazu kurz ausgeführt: Das Nachkriegs-Wirtschaftswunder-Perpetuum-Mobile «Immer-noch-mehr-dank-immer-noch-mehr» steht still. «Immer-noch-mehr» geht nicht mehr. Und es ist so, wie es Alain Zucker schreibt: Die Mehrheit will es nicht wissen. Auch und vor allem im Schlaraffenland Schweiz nicht. Probleme, wie sie sich beispielsweise mit dem Klimawandel, den mangelnden Ressourcen und der globalen Verschuldung stellen, werden kollektiv maximalmöglich verdrängt. Könnte vielleicht eine Psychoanalyse der Gesellschaft helfen: Um aus dieser Sackgasse zu kommen und um nachhaltig zukunftsorientiert handlungsfähig zu werden? Die NZZamSonntag hat diesen Beitrag nicht publiziert.