Demokratie ist mehr als das Volk

Publiziert am 6. September 2019 von Matthias Zehnder

Demokratie ist mehr als die blosse Mehrheit des Volkes. Demokratie, das sind Institutionen, die Verfassung, Gesetze – und ein respektvolles Ringen um die beste Lösung. Immer mehr Politiker sehen das anders. Boris Johnson zum Beispiel, AfD-Politiker in Deutschland, Matteo Salvini in Italien und auch manche Politikerinnen und Politiker in der Schweiz. Sie verstehen unter Demokratie so etwas wie eine Diktatur des Volkes. Sie fügen damit der Demokratie, absurderweise in deren Namen, grossen Schaden zu.

Der britische Premierminister Boris Johnson schäumt: Im Namen des Volkes will Johnson den Brexit am 31. Oktober erzwingen – doch die von demselben Volk gewählten Parlamentarier halten ihn mit einem Gesetz davon ab. Das Gesetz legt fest, dass die Frist für den Brexit um weitere drei Monate, bis Ende Januar 2020, verlängert werden muss, wenn bis am 19. Oktober kein Austrittsabkommen vorliegt, dem das Parlament zugestimmt hat. Mittlerweile hat das Gesetz alle drei Lesungen im Unterhaus passiert.

Boris Johnson war deshalb ausser sich im Unterhaus. «Das ist ein Gesetzentwurf, der dazu gemacht ist, das grösste demokratische Abstimmungsergebnis in unserer Geschichte umzudrehen, das Referendum von 2016!», rief Johnson den Parlamentariern zu.[1] Johnson beruft sich also auf das Volk. «Brexit means Brexit» war das Mantra seiner Vorgängerin Theresa May. So habe es das Volk beschlossen, so müsse es umgesetzt werden. Alles andere sei undemokratisch. Johnson versucht, sich in England als eine Art Winkelried zu inszenieren, der sich im Namen des Volkes mit den Eliten anlegt. Das erinnert an den Diskurs, den die SVP in der Schweiz schon lange pflegt. Auch die AfD in Deutschland und die Lega in Italien sehen sich als wahre Hüter des Volkswillens. Was ist da dran? Handelt das britische Parlament wirklich undemokratisch?

Eher Umfrage als Abstimmung

Johnson beruft sich, wie alle Brexiteers, auf die Volksabstimmung, die 2016 in Grossbritannien durchgeführt wurde: Am 23. Juni 2016 stimmten 51,9 % der Stimmenden für einen Austritt Grossbritanniens aus der EU.[2] Klare Sache, sagen auch viele Schweizerinnen und Schweizer: Die Briten haben abgestimmt, also muss die Regierung jetzt das Land aus der EU hinausführen. Alles andere wäre undemokratisch, eine Missachtung des Volkswillens. Gerade auch aus SVP-Kreisen ist immer mal wieder zu hören: In der Schweiz sei es nicht möglich, den Volkswillen so krass zu missachten. Die britische «Classe Politique» müsse jetzt liefern.

Doch so einfach ist es nicht. Denn mit einer Abstimmung in der Schweiz ist das britische Referendum von 2016 nicht vergleichbar. Rechtlich gesehen war es lediglich ein konsultatives Referendum, das nicht bindend ist – nicht bindend sein kann, weil der Souverän in Grossbritannien nicht das Volk ist, sondern das Parlament. In der Schweiz hätte eine solche Abstimmung zudem nie auf diese Weise stattgefunden. Denn zur Abstimmung kam in Grossbritannien keine Gesetzesvorlage, kein ausformuliertes Austrittsabkommen, kein Verfassungstext, sondern, wie in einer Umfrage, eine simple Frage: «Sollte das Vereinigte Königreich Mitglied der Europäischen Union bleiben oder die Europäische Union verlassen?» Antwortoptionen:
O Mitglied der Europäischen Union bleiben
O Die Europäische Union verlassen

Korrekte Informationen sind Bedingung

Bevor eine Vorlage in der Schweiz der Stimmbevölkerung vorgelegt wird, beraten Bundesrat und Parlament darüber. Dazu gehört, dass möglichst präzise über Rahmenbedingungen sowie Konsequenzen bei einer Annahme oder Ablehnung der Vorlage informiert wird. Weil der Bund im Vorfeld der Abstimmung über die so genannte Heiratsstrafe die Zahl der Betroffenen falsch dargestellt hatte – betroffen sind nicht 80’000 Paare, wie im Abstimmungsbüchlein des Bundes stand, sondern 454’000 Paare), erklärte das Bundesgericht die Abstimmung für ungültig. CVP-Politiker sahen sich durch die Falschinformation in ihren politischen Rechten verletzt. Das Bundesgericht gab ihnen recht.[3]

In der Schweiz ist eine Volksabstimmung also nicht nur eingebettet in einen politischen Prozess zwischen Bundesrat, Parlament und Stimmbevölkerung, der Bund ist auch dazu verpflichtet, die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger so korrekt wie möglich zu informieren. In der Brexit-Kampagne war das völlig anders. Es wurde hüben und drüben mit Zahlen hantiert, die zum Teil jeglicher Grundlage entbehrten. Berühmtestes Beispiel ist das Versprechen, durch einen Brexit könne Grossbritannien pro Woche 350 Millionen Pfund sparen. Boris Johnson versah sogar einen Bus mit einer entsprechenden Aufschrift und versprach, das Geld stattdessen ins Gesundheitssystem zu stecken. Die Zahl war deutlich zu hoch angesetzt und sie vernachlässigte auch, dass nicht nur Geld von Grossbritannien in die EU fliesst, sondern auch umgekehrt Geld aus der EU nach Grossbritannien. Johnson foutiert sich bis heute nicht darum.

Demokratie ist mehr als das Volk

Gerade das Beispiel der annullierten Abstimmung über die Heiratsstrafe zeigt, dass eine Demokratie nicht bloss daraus besteht, dass das Volk quasi brüllend seinen Willen artikuliert. Kern jeder Demokratie ist die Gewaltenteilung in eine Legislative, welche die Gesetze beschliesst, eine Exekutive, welche die Gesetze umsetzt, und eine Judikative, welche Recht spricht und die Rechte der Bürgerinnen und Bürger schützt. Eine Person darf nur einer der drei Gewalten angehören. Die drei Gewalten sind miteinander über genau definierte Prozesse verbunden. Eine wichtige Rolle spielen in einer Demokratie die Medien: Sie sorgen für unabhängige und kritische Information über die drei Gewalten und ihre Arbeit. Eine Demokratie ist also ein komplexes Gebilde. Das Ziel ist es dabei, die Konzentration der Macht bei einzelnen Personen oder Institutionen und den Missbrauch von Macht zu verhindern. Ich meine: auch den Missbrauch von Macht durch das Volk.

Indem Boris Johnson in Grossbritannien das Parlament in eine Zwangspause schickt, damit es ihm den Brexit nicht verhageln kann, indem er missliebige Parlamentarier aus der Partei ausschliesst, tritt er die Demokratie mit Füssen. Auch in Grossbritannien ist die Demokratie ein fein austariertes Gebilde mit zum Teil jahrhundertealten Regeln. Wenn Boris Johnson sich auf einen unbedingten Volkswillen beruft, schwingt er den Vorschlagshammer im Porzellanladen und fügt der Demokratie (absurderweise im Namen der Demokratie) grossen Schaden zu. Die Auseinandersetzung nimmt dabei absurde Züge an. So ist in England die Rede von einem Kampf zwischen Volk und Parlament. «Das Volk gegen das Parlament» steht auf Schildern, die Brexeteers vor dem Parlamentsgebäude tragen. Das ist absurd. Denn das Parlament ist vom Volk gewählt worden – und zwar deutlich nach der Abstimmung über den Brexit.

Demokratie ist ein Prozess

Auch in der Schweiz gilt: Demokratie ist nicht einfach Herrschaft des Volkes. Demokratie ist ein Prozess zwischen verschiedenen Institutionen. Zentraler Bestandteil ist dabei die öffentliche Auseinandersetzung: die Debatten im Parlament, die kritische Diskussion von Gesetzesvorlagen und der Regierungsarbeit durch die Medien und in der Öffentlichkeit. Diese Auseinandersetzung kann nur stattfinden, wenn sich die Teilnehmer gegenseitig respektieren. Wer in einer Demokratie einer ganzen Institution den Mund verbietet, wie das Boris Johnson mit dem Parlament gemacht hat oder wie es Donald Trump mit den Medien zu machen versucht, der hat die Demokratie nicht verstanden. Denn Demokratie ist mehr als das Volk.

Basel, 6. September 2019, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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Quellen:

[1] Vgl. Berichterstattung im Live-Blog der «Zeit» hier: https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-09/brexit-abstimmung-unterhaus-boris-johnson-live

[2] Vgl. Wikipedia-Artikel über das Referendum: https://de.wikipedia.org/wiki/EU-Mitgliedschaftsreferendum_im_Vereinigten_Königreich_2016#Frage_des_Referendums

[3] Vgl, NZZ vom 10. April 2019 «Bundesgericht annulliert Abstimmung zur Heiratsstrafe»: https://www.nzz.ch/schweiz/heiratsstrafe-ld.1473970

4 Kommentare zu "Demokratie ist mehr als das Volk"

  1. „…Auch in der Schweiz gilt: Demokratie ist nicht einfach Herrschaft des Volkes. Demokratie ist ein Prozess zwischen verschiedenen Institutionen…“
    OK. Man muss einfach immer wieder aufpassen, dass diese „Institutionen“ nicht zu viel entscheiden wollen, dass sie sich nicht intern „aufblähen“ bis zum Geht-nicht-mehr, dass sie mehr sein wollen als sie sind bis hin zur Willkür.
    Abstruse Beispiele gibt es von der Schweiz (z.B. Kommissionen, welche Kompetenzen überschreiten) bis hin zu Europa (z.B. die „EU“) genug.
    Ohne die immer wieder korrigierenden richtigen Eingriffe des CH-Volkes und unserer direkten Demokratie hätten wir auch wildwuchernde Institutionen wie z.B. in France, welche der Bevölkerung auf der Nase herumtanzen.

  2. Bei den Sachthemen, für die ich mich als überzeugter Demokrat engagiere, schaffe ich es nur nachhaltig zukunftsorientiert dran zu bleiben, wenn ich mich immer wieder an das Paradox der Demokratie erinnere: Die Mehrheit hat recht … und das auch dann, wenn es nicht das Richtige ist. Das ist aber nicht das Kernproblem: sondern dass die Institutionen der parlamentarischen Parteiendemokratie sich sowohl bei der Legislative, als auch bei der Exekutive und Judikative immer mehr nach der Art eines Macht-Schachs konstituieren und handeln, aber dagegen in Sachfragen kaum wirklich Relevantes leisten. Ein Spiel, das in der Regel auch die Medien aufwendig, geil und perspektivenlos mitspielen. Substanzielle und für alle nachhaltig zukunftsfähige Lösungen gibt es hingegen mit achtsam allparteilichen und kokreativ konstruktiven Prozessen. Die Generation, die das mehrheitlich will, kann und tut, scheint noch nicht einmal gezeugt.

  3. Wenn ich versuche, mich in britische Wahlberechtigte hineinzuversetzen und ihre Gefühle zu erahnen, sehe ich nur düstere Gewitterwolken. Auf eine klare Frage konnten sie im Referendum eine klare Antwort geben. In der Folge schaffte es der politische Apparat einer alten Demokratie nicht, auf einen präzise umrissenen Mehrheitswillen mit adäquaten Taten zu reagieren. Zwar kündigte die Regierung die EU-Mitgliedschaft auf, brachte anschliessend aber beim Parlament den Austrittsvertrag nicht durch. Die vereinbarte Austrittsfrist ist verschoben, bereits spricht man von der nächsten Verschiebung, ein orientierungsloses Parlament hat keinen valablen, mehrheitsfähigen Gegenvorschlag und zieht sich, Johnson macht’s möglich, schmollend in die Opferrolle zurück. Dieses unwürdige Spektakel empfinden garantiert viele Wahlberechtigte als extrem demütigend. Das Land macht sich vor der Welt lächerlich! Ihr Vertrauen in die demokratischen Institutionen hat stark gelitten. Die ziehen mittlerweile garantiert ein Ende mit Schrecken dem Schrecken ohne Ende vor. Und Boris Johnson repräsentiert eben das Ende mit Schrecken. Demokratie kann nicht besser sein als die Leute, die an die Schaltstellen befördert werden. Da helfen alle Gesetze und Regelwerke nichts. Mit kommt dazu nur eine Erklärung in den Sinn: lausige Eliten. Die sind eine globale Gefahr.

  4. Sehr wichtiger Kommentar. Vielleicht wäre es auch gut, für den den Begriff „das Volk“ vermehrt die Vokabel „die (stimmberechtigte) Bevölkerung“ zu nehmen. Das könnte diesen monolithischen Blockbegriff etwas erweitern. In der Tat besteht ja das von SVP, Johnson etc. beschworene VOLK aus dem Teil der stimmberechtigten Bevölkerung, die überhaupt abstimmen bzw. wählen gingen und – wie knapp auch immer – für Thema der SVP bzw. im Fall UK für Brexit stimmten.

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