Das Wichtigste
Es ist die Saison der Jahresrückblicke. Die Medien zeigen die heftigsten Unwetter, die besten Fussballer und die einflussreichsten Politiker oder überhaupt die wichtigsten Ereignisse des Jahres 2015. Das Wichtigste. Was könnte das sein? Welche Massstäbe müsste man anlegen? Beginnen wir einmal beim Wort. „wichtig“ meint: es ist von grosser Bedeutung, hat grossen Einfluss. Auf was? Wohl auf die Gegenwart und auf die Zukunft jedes einzelnen. Was also war 2015 das Wichtigste?
Ein einfaches, aber objektives Mittel, um Herauszufinden, was die Menschen 2015 beschäftigt hat, bietet Google mit seinen Jahresrückblicken. Die Suchmaschinenfirma wertet dazu die Suchanfragen aus, die über Google getätigt worden sind. Es ist also quasi die demokratische Festlegung dessen, was wichtig ist. Im globalen Jahresrückblick finden sich denn auch einige wichtige Ereignisse. Der Fifa-Skandal zum Beispiel, das Erdbeben in Nepal, der Emissionsskandal bei VW. Aber auch die Kricket-WM in Australien und Neuseeland oder die Rugby-Weltmeisterschaft. Diese beiden Sportereignisse haben weltweit etwa zehn Mal mehr Suchanfragen ausgelöst als die Flüchtlingskrise. Selbst der Tod des Löwen Cecil in Simbabwe stiess auf mehr Interesse als die Flüchtlinge. Und obwohl Länder wie Deutschland oder Griechenland von der Flüchtlingskrise stärker betroffen waren, erhöhte sich das Suchinteresse daran nur in den USA, in Grossbritannien und in einigen anderen Ländern.
Vielleicht liegt es daran, dass ein globaler Rückblick halt nur weltweit wahrnehmbare Ereignisse berücksichtigt? Fokussieren wir also etwas stärker auf die Schweiz. Für unser Land bietet Google allerdings keinen eigentlichen Jahresrückblick. Dafür ist die Schweiz zu klein. Immerhin lassen sich die Listen der in der Schweiz am häufigsten gesuchten Begriffe aufrufen. Nach welchem Begriff also haben die Schweizer 2015 am häufigsten gesucht? Man darf es fast nicht sagen, so sehr entspricht es dem Cliché: Am häufigsten haben die Schweizer nach „Eurokurs“ gesucht. Das Geld also ist für die Schweizer am wichtigsten.
Halt, höre ich Sie einwenden, der starke Franken hat der Schweiz 2015 grosse Probleme beschert. Die Deindustrialisierung schreitet fort, es wandern also Arbeitsplätze der Produktion ins Ausland ab, der Handel hat Probleme und kämpft mit sinkenden Umsätzen, die Hotellerie hat Mühe, Gäste im Ausland anzusprechen. Das stimmt alles. Die Google-Suche nach dem Eurokurs hat aber einen anderen Hintergrund: Es ist die Suche nach dem aktuellen Wert des Euro. Anders ausgedrückt: Wer nach „Eurokurs“ sucht, will wissen, wie stark er bei einem Einkauf ennet den Landesgrenzen gerade profitieren kann. Dass ausgerechnet das Suchwort „Eurokurs“ an der Spitze der Rangliste von Google in der Schweiz steht, entlarvt uns Schweizer als Schnäppchenjäger, als Profitgeier, als Volk von Einkaufstouristen. Die Welt ist uns egal, Hauptsache, der Preis stimmt.
Google entlarvt also zwar uns Schweizer, zeigt aber nicht, was wirklich wichtig ist. Wie steht es mit Wikipedia? Das Online-Lexikon trägt für jedes Jahr wichtige Ereignisse aus verschiedenen Bereichen zusammen, verweist auf Katastrophen, Nobelpreise und Gedenktage und listet bekannte Geborene und Verstorbene auf. Unter „2.1 Politik und Weltgeschehen“ findet sich „2.1.1 Terroranschläge (Auswahl)“. Der erste Eintrag: „7. Januar: Bei einem Anschlag auf die französische Satirezeitschrift Charlie Hebdo werden in Paris zwölf Menschen getötet.“ Ja, daran erinnern wir uns alle. Für denselben Tag nennt Wikipedia aber einen zweiten Terroranschlag: „Bei einem Massaker der islamistischen Terrorgruppe Boko Haram werden in der nigerianischen Stadt Baga hunderte von Menschen getötet.“ Daran erinnere ich mich nicht. Ich glaube nicht, dass ich davon gehört habe. Wie kann das sein? Sind die zwölf Getöteten von Charlie Hebdo so viel wichtiger als die Hunderten von Toten in Baga? Warum wissen wir alles über einen Anschlag in Paris, solidarisieren uns mit den Getöteten, zünden Kerzen an, benennen unsere Twitter- und Facebook-Profile danach und von einem anderen Anschlag wissen wir rein gar nichts? Hat das vielleicht weniger mit dem Ereignis zu tun als mit seiner Darstellbarkeit in den Medien? Mit den Bildern, die sich vermitteln lassen?
Das Bild, das sich 2015 mir persönlich am stärksten eingeprägt hat, war das Bild von Aylan Kurdi: Der syrische Bub aus Kobane ist Anfang September tot an einen Strand in der Türkei gespült worden. Das Bild des toten Jungen in rotem T-Shirt und kurzer, blauer Hose ging um die Welt. Er war drei Jahre alt, als er im Mittelmeer ertrank. Später erzählte sein Vater, das Boot, mit dem seine Familie flüchten wollte, sei auf der Fahrt vom türkischen Bodrum zur griechischen Insel Kos bei hohem Wellengang im Mittelmeer gekentert. Er habe seiner Frau und seinen beiden Söhnen geholfen, sich am Boot festzuhalten. Sein erster Sohn sei in seinen Armen ertrunken, er habe ihn loslassen müssen, um den anderen zu retten. Doch auch der andere Sohn sei gestorben. Und als er sich um seine Frau habe kümmern wollen, habe er sie tot vorgefunden.
Das Bild des toten Buben am Strand in der Türkei brachte dieses Flüchtlingselend auf den Punkt. Das muss das wichtigste Bild des Jahres 2015 sein. Oder? „Was, wenn nicht dieses Bild eines an den Strand gespülten syrischen Kindes, wird die europäische Haltung gegenüber Flüchtlingen ändern?“, fragte die britische Zeitung „The Independent“ danach. Doch geändert hat sich in Europa nichts. Im Gegenteil. Kurze Zeit später begann Ungarn damit, sich gegen die Flüchtlinge abzuschotten. Andere osteuropäische Länder zogen nach. Mittlerweile ist sich die EU einig, dass sie ihre Aussengrenzen besser „schützen“ will.
Das Wort „Flüchtlingskrise“, das auch in der Schweiz verwendet wird, sagt dazu eigentlich alles: Für uns Europäer besteht die Krise darin, dass uns Flüchtlinge belästigen. Der Grund für ihre Flucht, der Bürgerkrieg in Syrien, die Terrororganisation des so genannten „IS“, lässt uns kalt. Deshalb ist das Bild des kleinen Aylan Kurdi nach unserer Definition auch nicht wichtig. Leider. Denn „wichtig“ meint ja eben: „hat grossen Einfluss“. Doch der Westen hat sich von diesem Bild erholt. Problemlos.
Das Bild von Aylan also ist nicht wichtig. Die Wichtigkeit entsteht in der Gegenwart. Indem wir etwas ernst nehmen und Konsequenzen daraus ziehen, verleihen wir ihm Wichtigkeit. Anders gesagt: Wichtig ist ein Ereignis nicht per se, wichtig wird es, indem wir es wichtig nehmen. Deshalb sind wir auch nicht Opfer von Google oder Wikipedia, von „Blick“ oder SRF. Wir können selbst über die Wichtigkeit von Ereignissen bestimmen, weil wir selbst über unsere Gegenwart bestimmen können. Am Büchergestell neben meinem Schreibtisch hängt ein Satz von Meister Eckhart, einem spätmittelalterlichen Philosophen, der von 1260 bis 1328 gelebt hat. Der Satz lautet: „Die wichtigste Stunde ist immer die gegenwärtige.“ Das Wichtigste ist die Gegenwart. Die Geschichte von Aylan Kurdi und seiner Familie ist todtraurig. Wichtig wird sie nur, wenn sie in unser aller Gegenwart Konsequenzen hat. Denn die Zukunft entsteht jetzt.
13 Kommentare zu "Das Wichtigste"
Danke bestens auch für diesen Beitrag. Bis zum Jahreswechsel bleiben noch ein paar Stunden. Zeit sich ihm Sinne Ihres Beitrages Vorsätze zu nehmen. Oder wie von Meister Eckhart vorgeschlagen: Bereits jetzt!
Herzlich, Annemarie Spinnler
Vielen Dank für den bedenkenswerten Artikel. Ich fühle mich nicht als Schweizerin, wenn ich die Listen mit den Suchtrends der Schweiz anschaue. Immerhin können Basler Flüchtlinge aufnehmen, wenn sie wollen und Platz haben, die GGG vermittelt Flüchtlinge, die von der Sozialhilfe unterstützt werden. Es ist ja unerträglich nichts tun zu können. Es gibt auch viele Privathilfeaktionen von jüngeren Menschen.
Medicin sans frontiere tun was sie können. Es wird das erschütternste Bild bleiben mit dem ertrunkenen Ayal Kurdi am Strand. Dass Menschen heute noch sinnlos sterben müssen durch Krieg und Flucht in der heutigen hochtechnisierten Zeit.
Im 19 Jh. hat nur die Hälfte der Kinder das 10. Altersjahr erreicht, die andere Hälfte ist an Fieber, Lungenentzündung, Thypus, Cholera und anderen Krankheiten gestorben.
An meiner Wohnungstür hängt ein Satz von Meister Eckard: „Gott wohnt immer in mir, aber ich bin nicht immer zu Hause“ das wirkt gegen Gier und Schnäppchenjagd.
Was sicher ist, wir müssen auch unsere Essgewohnheiten umstellen auf weniger Viehzucht, denn wir haben keinen Platz mehr auf diesem Planeten. Alles Gute im Neuen Jahr, Amaya Eglin
Lieber Matthias
Obwohl Monica deine Mails jeweils erhält und mir weiterleitet, wäre ich dankbar, wenn ich sie direkt bekäme.
Herzlichen Dank, die besten Wünsche für eine gute Zukunft und herzliche Grüsse
Dominique
Herzlichen Dank für einen weiteren sehr bedenkenswerten Kommentar – auf welcher Liste finde ich mich wieder mit meinem Herzen, meiner Haltung, meinen alltäglichen Gedanken – vor allem aber mit meinem Handeln? Es lohnt sich, immer wieder darüber nachzudenken!
matthias zehnders pointe hat anne burgmer hier adventlich-künstlerisch umgesetzt:
Gut getroffen, dieser Kommentar über die „wichtigsten“ Ereignisse 2015! Ist es zum Beispiel nicht auch wichtig, dass der neue kanadische Premierminister Justin Trudeau sein Kabinet zu je 50% mit Frauen und Männern besetzt hat, dass alle Minoritäten darin vertreten sind und -man höre und staune – dass die Posten mit Personen besetzt wurden, die sogar den beruflichen Hintergrund dazu mitbringen, also etwas von der Sache verstehen! Wieviel konnte man darüber lesen? Vielleicht gerade mal drei Zeilen? Und muss ich mir gefallen lassen, dass auf der Frontseite einer Tageszeitung ein Heavy-Metal-Band Mitglied mir seine zwei riesigen Stinkefinger entgegen streckt? Scheinbar ist der Tod dieses Mannes das wichtigste Ereignis, über welches am 30.12.2015 frontal berichtet werden muss – und erst noch in dieser dekadenten Form.
Bei mir zu Hause hängt der Spruch: „Taten – nicht Worte“! Eine meiner nächsten Taten ist die Abbestellung meiner bisherigen Tageszeitung.
Lieber Matthias
Herzlichen Dank gerade für diesen speziell nachdenklich machenden Beitrag und all deine früheren Wochenkommentare, Denkanstösse, Thesen und Fragen, die du uns immer wieder mit auf den Weg gibst, gegeben hast. Ich vermisse sie jetzt schon in der BZ und auch diese wird nicht mehr die selbe sein…..
Welch ein Glück, dass ich nun deine Wochenkommentare abonnieren kann, Danke! Ich werde das Abo auch gerne weiter empfehlen, denn gerade in der heutigen, schwierigen Zeit ist es äusserst wichtig, dass uns immer wieder jemand die Augen öffnet und neue Denkanstösse vermittelt; und du machst das einfach brillant.
Von Herzen wünsche ich Dir alles Gute für Deine Zukunft
Elisabeth
Liebe Elisabeth
Vielen herzlichen Dank. Das freut mich sehr — und spornt mich an. Auch Dir alles Gute im Neuen Jahr!
Matthias
Herzlichen Dank, Matthias!
Elisabeth
Lieber Herr Zehnder
Ein Lichtblick! Kann ich doch Ihre Wochenkommentare abonnieren, die mich anspornen und ich der Manipulation der Berichterstattungen ein wenig entgehen kann. Vielen Dank und viel Motivation und Erfolg in Ihrer Arbeit die uns alle bereichert!
eine enttäuschte BZ-Leserin
Firmina Lucco-Martina
Dass ich mich weiterhin politisch engagieren will, können sowohl viele Alte wie auch Junge aus meinem Bekannten- und Freundeskreis nicht nachvollziehen. Sie erachten die Lage insbesondere im Baselbiet als zunehmend hoffnungslos, meinen aber, dass es sich nicht lohnt, es ernst zu nehmen. Möglicherweise kann ich mit einer Mail nichts bewirken, die ich frei nach dem Motto „Versuchen, Wichtiges zu tun“ an alle BL-Landratsmitglieder sowie an diverse Medien-Adressen sende. Als 68jähriger mache ich es nach dem alten 68er-Motto „Du hast keine Chance, nutze es sie!“ trotzdem.
Den Landrat sehe ich als gewählt, um für alle, die im Baselbiet wohnen (notabene auch für diejenigen über 22%, die keine politischen Rechte haben), gerechte und günstige Rahmenbedingungen zu schaffen. Wenn die herrschende Baselbieter Mehrheit mit einer Allianz von zynisch schweigenden Hämmern weiterhin insbesondere auch Unfug diskussions- und perspektivenlos autorisieren will, ist sie dafür noch mehr als drei Jahre demokratisch legitimiert. Menschlich und sachlich gefragt ist aber eigentlich eine Legislative, die Schritt für Schritt konsens- und zukunftsorientiert sowie für umfassend alle, die in unseren Kanton wohnhaft sind, nachhaltig intelligente Vorgaben entwickelt, anstatt sich am Laufmeter mit Firlefanz und perspektivenlosem Nonsens zu beschäftigen.
Von der bzBasel erwarte ich neben Mainstream auch profiliert fundierte Anregungen für einen offenen Diskurs zu gesellschafts- und staatspolitisch substanziellen Fragen: Beispielsweise in der Art der Wochenkommentare des (offensichtlich ebenfalls diskussionslos) ausgemusterten Chefredaktors, die neu auf seiner persönlichen Website erscheinen (Link: http://www.matthiaszehnder.ch/wochenkommentar/).
If I were a fish in its bowl
If I were an office worker in his glassy building
If I were a woman under her black burqa
If I were a prisoner in his sad jail
I would dream of the big blue sea
and the waves
I would dream of the wide sky
and the clouds
I would dream of a gentle wind
stroking my skin
I would dream
I would
I
(Anonymous)
Lieber Herr Zehnder,
Vielen Dank für Ihren hervorragenden einfühlsamen aufklärenden Artikel !
Unabhängig von Ihrem wertvollem Text kommen mir bei der Episode Silvester-Bahnhof-Köln viele Fragen. Unter anderen:
– Was machen so enorm viele Frauen dort an Silvester (gegen 500 !) ?
– Waren diese alle allein oder teilweise in der Gesellschaft eines Mannes ?
– Schreckte die Gegenwart eines begleitenden Mannes nicht vor Angriffen ab ?
– Wie konnte es den angeblichen Muslimen/Flüchtlingen gelingen, an jenem Abend so
systematisch, massiv und vereint aktiv zu sein ?
– Meine Landsleute, die Brasilianer sind bekanntlich freche fröhliche Freier / Frauen-Schänder, als Frau in einer dortigen Grossstadt am späten Abend allein unterwegs zu sein ist ein Risiko, ja fast eine Aufforderung – aber so etwas, wie es hier berichtet wurde, wäre dort unvorstellbar. Wären Muslime vegleichsweise so viel dreister?
– Ob diese Nachricht wirklich so, wie dargestellt – und durch die Polizei allmählich und zögerlich zugegeben – wirklich stimmt ?
– Steckt dahinter vielleicht lediglich eine gesteuerte politische Kampagne gegen Merkel ?
C. R. de Carvalho, Arlesheim