Das Ende der Geschichte

Publiziert am 29. Januar 2021 von Matthias Zehnder

Wie wird das alles bloss noch enden? Wenn wir Virologen fragen, antworten sie mit Kurven. Ärzte geben Diagnosen. Politiker warnen. Ökonomen sehen schwarz. Aber wer nur ist für die Visionen zuständig? So langsam sollten wir uns doch Gedanken darüber machen, wie die Welt nach der Pandemie aussieht. Ich habe die Fachleute für das Ende von Geschichten gefragt: Schriftsteller. Vier Schweizer Autor*innen haben für mich in Form einer Kurzgeschichte aufgeschriebene, wie es weitergehen oder enden könnte. Mit zwei von ihnen habe ich ein kurzes Videointerview darüber geführt und sie gefragt, wie sie die Pandemie erleben. Das Ergebnis ist interessant: Am optimistischsten ist jener Autor, dem es selbst gesundheitlich am schlechtesten geht – und die Autorin, die auf Sansibar fast nichts von der Pandemie mitbekommt, erlebt die Schweiz am stärksten als Gefängnis. Aber lesen Sie selbst.

Noch ist Januar. Es ist dunkel und kalt. Alles, was Spass macht, ist geschlossen und die Bürokraten ziehen alle Schrauben an, von denen sie denken, sie seien noch zu locker. In Basel sind diese Woche die Museumsdirektoren auf die Barrikaden gestiegen. «Kultur und kulturelle Bildung wieder zugänglich machen. Museums-Lockdown beenden. Für das geistige Wohl aller!», forderten sie in einer Petition an den Bundesrat. Museen seien grosse Räume, sie hätten gute Schutzkonzepte und seien wichtige Bildungsinstitutionen. Man möge doch, wenn es denn um Lockerungen gehe, früh auch an die Museen denken.

Doch von Lockerungen ist derzeit nicht die Rede. Ich habe im Gegenteil den Eindruck, dass allenthalben die Schrauben angezogen werden. Im Hinblick auf die mutierte Virusvariante, die um einiges ansteckendes ist, mag das ja verständlich sein. Ich habe aber auch den Eindruck, dass sich Beamte, Behörden, ja unsere Gesellschaft über das Schliessen hinaus keine Gedanken macht. Wir setzen derzeit alles auf die Impfung ( und müssen feststellen, dass die Schweiz bei den Bestellungen zu sparsam und zu vorsichtig war). Aber darüber hinaus höre ich wenig Visionen, wie denn die Zukunft aussehen soll. Als am 8. Mai 1945 in Europa der Zweite Weltkrieg zu Ende war, läuteten ihn der ganzen Schweiz die Glocken, die Menschen umarmten sich und nahmen den Frieden in Angriff. Bei der Pandemie wird es einen solchen Moment nicht geben. Dieses Virus wird nicht einfach verschwinden. Wir werden damit leben müssen – und das heisst auch: Wir werden uns überlegen müssen, wie wir damit leben wollen. Genau das findet aber nicht statt: Unsere Politik und die Verwaltung ist auf Eindämmen und Einschränken fokussiert. Es wird aber bald darum gehen, eine neue Normalität zu gestalten. Wir müssen jetzt beginnen, darüber nachzudenken, wie unsere Welt dann aussehen soll. Der Aufschrei der Basler Museen sollte deshalb ein Weckruf sein.

Das Ende der Geschichte

Denken wir also über die Zukunft nach. Wie könnte das Ende dieser Pandemie vor sich gehen? Ich habe mich gefragt, mit wem ich denn darüber reden könnte. Wenn wir Virologen fragen, antworten sie mit Kurven. Ärzte geben Diagnosen. Politiker warnen. Ökonomen sehen schwarz. Ich habe mich deshalb an Spezialist*innen für das Ende von Geschichten gewendet: an Schriftsteller. Wer sonst wäre es sich gewohnt, auf wenige Zeilen das Ende einer Geschichte zu skizzieren?

Ich habe also Schweizer Autorinnen und Autoren gefragt, die sich gewohnt sind, Plots zu entwerfen. Ein Plot, das ist das Gerüst einer Geschichte, etwa eines Krimis. Ich habe deshalb Schweizer Krimiautoren gebeten, mir ein kleines Exposé zu schreiben, wie diese Pandemie-Story enden soll. Die Berner Krimiautorin Christine Brand, der Basler Romancier Claude Cueni, Wahlzürcher Michael Theurillat und der Historiker und Autor Martin Widmer haben mir mit Kürzestgeschichten geantwortet. Mit Christine Brand (über eine wackelige Leitung nach Sansibar) und mit Michael Theurillat habe ich darüber hinaus auch noch Video-Interviews geführt.

Optimismus im Gefängnis

Interessant an den Kurzgeschichten ist, dass der Autor, dem es gesundheitlich am schlechtesten geht, am zuversichtlichsten ist. Claude Cueni schreibt, er gehe davon aus, dass wir «die aktuelle Pandemie dieses oder nächstes Jahr erfolgreich beenden werden.» Allerdings wird es nicht die letzte Pandemie sein. Er schreibt, wir würden «vermehrt mit sogenannten Zoonosen konfrontiert sein, also mit Viren, die vom Tier zum Menschen überspringen. Auch im auftauenden Permafrost werden Viren und Bakterien freigelegt, die für unser Immunsystem neuartig sind.» Weniger positiv sieht Historiker Martin Widmer die Zukunft: Er stellt die Beamten ins Zentrum seiner Kürzestgeschichte. Bei ihm haben die Beamten Angst – und zwar Angst vor der Angst der Menschen.

Christine Brand hat mit einer kleinen Dystopie geantwortet: In ihrer Geschichte zerfällt die Welt in zwei Teile. Die Geimpften, die wieder glücklich leben, sich aber bei jedem Kratzen im Hals eine Maske überziehen, und die Ungeimpften, die Coronaleugner und Maskenverweigerer, die sich in überwachte Ghettos zurückgezogen haben. Sie selbst lebt auf Sansibar fast wie vor der Corona-Zeit. Bloss die Kreativität, die habe gelitten, sagte sie mir im Videointerview. Als sie im Herbst aus der Schweiz zurück nach Sansibar gereist sei, hatte sie Schwierigkeiten: «Als ich angekommen war, hatte ich zuerst Mühe, mich in dieser maskenfreien Welt zu bewegen. Ich habe mich fast nicht rausgetraut im ersten Moment.» Und dann habe sie gemerkt, wie sich eine grosse Anspannung löste. «Ich habe das richtig körperlich gespürt.» In der Schweiz müsse man immer vorsichtig sein, immer aufpassen. «Man ist immer in einer Alarmstimmung». «Ich stehe hinter allen Massnahmen und doch kommt es mir vor, als würden die Menschen in der Schweiz sehr eingeschränkt leben, wie in einem Gefängnis.» Das ganze Gespräch mit Christine Brand (über eine ziemlich wackelige Leitung zwischen Sansibar und Basel) gibts hier auf YouTube:

Die Geschichte von Michael Theurillats dreht sich um einen kleinen Beamten, der plötzlich wichtig wird. Das spricht er auch im Interview an: «Es wurde sehr vielen Menschen durch Corona plötzlich Bedeutung verliehen», sagt er. Man hört ihnen zu, sie haben etwas zu sagen. «Lokalpolitiker von absoluter Unbedeutung sind plötzlich täglich in den Medien – was macht das mit diesen Menschen?» Theurillat sagt, es gebe keinen Weg zurück zur Normalität: «Wir werden den Weg zu einer neuen Normalität finden müssen.» Die Macht der unbedeutenden Beamten, die Diskrepanz der apokalyptischen Voraussagen der Taskforce und die banale alltägliche Gefährlichkeit des Virus – das ganze Interview mit Michael Theurillat gibts hier auf YouTube:

Was lernen wir daraus? Nun: Das schöne an Kultur ist, dass sie nicht immer nützen muss. Deshalb müssen wir auch nicht unbedingt etwas Konkretes aus den Geschichten lernen. Das Erleben im Lesen kann schon genug sein. Als Essayist kann ich es aber nicht lassen, drei Schlussfolgerungen zu ziehen.

Die erste: Wir können im Sommer nicht einfach die Glocken läuten und unser altes Leben ist wieder da. Es wird eine neue Normalität geben. Eine, die wir neu aushandeln und ausgestalten müssen. Und zwar, bevor sie beginnt. Deshalb wäre es wichtig, sich jetzt schon Gedanken darüber zu machen.

Die zweite: Verbieten ist einfacher als loslassen. Wer eine Notbremsung einleitet und voll auf die Bremse steht, muss sich nur um das Anhalten kümmern. Danach wieder langsam loszufahren, ist schwieriger. Man muss nämlich wissen, wohin. Das braucht Gestaltungswille. Den sehe ich derzeit nicht.

Die dritte: Im Kontakt mit «meinen» Autoren wurde mir bewusst, wie sehr mir die Kultur und die kulturelle Auseinandersetzung fehlt. Nein, Kultur ist nicht bloss die Glasur auf dem Kuchen. Die Kultur ist die Hefe in der Gesellschaft, die das Mehl erst in Brot verwandelt. Sie lässt sich nicht in Excel-Sheets einsperren und in Franken messen – aber ohne Kultur bleibt die Gesellschaft fades Mehl.

Basel, 29. Januar 2021, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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Und hier die vier Geschichten


Claude Cueni:

«The only difference between reality and fiction is that fiction needs to be credible.»

Dass ein Einbrecher ins Schlafzimmer der Queen eindringt, ist absolut unwahrscheinlich. Und doch ist genau das vor Jahren geschehen. Ein Roman ist keine Doku, er muss nicht wahr sein, aber innerhalb der definierten Realität muss die Handlung logisch sein.

Meinen Pandemieroman «Genesis» bot mein Agent ein halbes Jahr vor Covid-19 während der Frankfurter Buchmesse an. Er meinte, Lektoren würden dystopische Stoffe mögen, der Markt hingegen weniger. In meinem Roman immunisiert ein Wissenschaftler Patienten mit einem Eingriff ins Erbgut. Er ist erfolgreich. Unethisch ist, dass er Sierra Leone zu seinem Versuchslabor macht.

Müsste ich den Roman um eine gefährliche Mutation erweitern, wäre mein Professor Mendelez weiterhin erfolgreich, weil er ja auf seine Grundlagenforschung zurückgreifen kann. Ich gehe davon aus, dass wir auch die aktuelle Pandemie dieses oder nächstes Jahr erfolgreich beenden werden. Fürs Erste. Da der Mensch immer tiefer in unberührtes Tierreich eindringt, werden wir vermehrt mit sogenannten Zoonosen konfrontiert sein, also mit Viren, die vom Tier zum Menschen überspringen. Auch im auftauenden Permafrost werden Viren und Bakterien freigelegt, die für unser Immunsystem neuartig sind.

Ich bin in medizinischen Belangen optimistisch. Meine verstorbene Frau hatte 14 Jahre lang diverse Krebserkrankungen. Sie überlebte so lange dank neuer Therapien und Medikamente. Ich selbst erfahre am eigenen Leib die Fortschritte der Medizin. Ich habe die statistisch maximale Überlebenszeit bereits um Jahre überschritten. Viele Krankheiten, die früher zu einem raschen Tod führten, sind heute chronisch. Natürlich stirbt man am Ende, aber man hat doch noch ein paar Jahre in der Nachspielzeit erlebt.


Claude Cueni

Claude Cueni, geb. 13.1.1956 in Basel. Schrieb über 50 Drehbücher für «Tatort», «Peter Strohm», «Eurocops» und «Autobahnpolizei». «Das grosse Spiel», sein historischer Roman über die Erfindung des Papiergeldes, wurde in 13 Sprachen übersetzt. In seinem 2014 erschienen, autobiographischen Roman «Script Avenue» hat er das Sterben seiner ersten Frau und seine anschliessende Erkrankung an Leukämie thematisiert. Sein letzter Roman heisst «Genesis. Pandemie aus dem Eis.»

http://www.cueni.ch/

https://www.matthiaszehnder.ch/menschenmedien/claude-cueni/

https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/genesis-pandemie-aus-dem-eis/


Christine Brand:

So endet es

Wir schreiben das Jahr 3 n.C. – nach Corona, nicht nach Christus; eine neue Zeitrechnung hat die alte abgelöst. Es glaubt eh keiner mehr an einen Gott, geschweige denn an Christus: Die letzten Gläubigen haben sich in der Kirche den Tod geholt. Die Glaubensfrage lautet heute anders: Glaubst du an Corona oder nicht? Die Antwort bestimmt, wo man unter welchen Auflagen leben darf.

Die Geimpften, die sich beim ersten Halskratzen die Masken überziehen, leben beinahe wie in den Jahren v.C. Das ist das Happyend in dieser Geschichte. Weniger glücklich endet sie für die Ungeimpften, die Coronaleugner, die Maskenverweigerer und die Verschwörungstheoretiker: Sie wurden in der Stadt Sankt Gallen zusammengepfercht, die ummauert und zu einem Ghetto umfunktioniert worden ist. Das Ghetto wird vom Schweizer Militär streng bewacht. Allein zu diesem Zweck wurden ein paar zusätzliche neue Kampfjets angeschafft.

Freilich gibt es trotzdem immer wieder Ausbruchversuche. Gerüchten zufolge graben die UGs, wie die Ungeimpften genannt werden, kilometerlange Tunnel, um aus dem Ghetto zu entkommen. Sie fliehen sodann über die grünen Grenzen bis nach Griechenland, um dort die gefährliche Route über das Mittel-meer Richtung Afrika zu nehmen. Immer wieder ist von gesunkenen Flüchtlingsbooten zu lesen, von Dutzenden Toten, die an den Strand gespült wurden, aber die Welle der Empörung über die unmenschlichen Zustände ist längst von den Coronawellen geschluckt worden. Wer die Überfahrt überlebt, zählt trotzdem nicht zu den Glücklichen: Er wird umgehend von den afrikanischen Behörden ausgeschafft und in die Schweiz zurückgeflogen, wo er direkt wieder ins Ghetto wandert. Sämtliche Verhandlungsversuche der Schweiz mit anderen Staaten, dass sie geflüchteten UGs Asyl anbieten sollen, sind gescheitert. Da gibt es kein Pardon.

Dem Vernehmen nach finden in den Ghettos weiterhin täglich Grossdemonstrationen gegen alles und jeden statt. So genau weiss man das allerdings nicht, denn die Bewohner haben ein Verteidigungsdispositiv aufgebaut, das auch neugierige Blicke abhält: Riesige, metallene, spitz zulaufende Abdeckungen sollen das Ghetto vor Strahlung und vor landenden Ufos schützen. Etwa jeder fünfte Ghettobewohner, das schätzt zumindest die Bundespolizei, hat sich der radikalen Untergrundbewegung mit dem geheimen Namen MUGGA (Make die Ungeimpften great again) angeschlossen, die terroristische Anschläge auf das Bundeshaus und andere Institutionen plant. Die Bundespolizei beobachtet die Situation, gibt sich aber gelassen. Denn Ironie des Schicksals ist, dass einzig im Ghetto der Coronaleugner noch immer hohe Corona-Todeszahlen verzeichnet werden, was die Coronaleugner natürlich leugnen. Die Schweizer Regierung aber vertraut blind auf die Zahlen und gibt sich zuversichtlich, dass sich die unschöne Situation im Ghetto von selbst lösen wird: Gemäss den aktuellen Hochrechnungen wird es den UGs eher früher als später so ergehen, wie es einst den Gläubigen erging; sie werden sich an ihren Versammlungen den Tod holen und alsbald ausgestorben sein. Das sagen die Prognosen des Bundesamts für Gesundheit. Wir werden sehen. Was ist heute schon gewiss.


Christine Brand

Christine Brand, geboren 1973 im Emmental, ist freischaffende Autorin. Zuvor arbeitete sie über zwanzig Jahre lang als Journalistin, unter anderem für «Der Bund», die «Rundschau» des Schweizer Fernsehens und für die «NZZ am Sonntag». Die ehemalige Gerichtsreporterin hat unter anderem sechs Kriminalromane publiziert. Sie lebt heute die Hälfte des Jahres in Zürich und ist sonst als schreibende Nomadin unterwegs.

http://www.christinebrand.ch/

https://www.matthiaszehnder.ch/menschenmedien/christine-brand/

https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/die-patientin/


Michael Theurillat:

Die wundersame Mutation des Hans Meier

Hans Meier, noch vor wenigen Monaten dritter Sachbearbeiter einer bis anhin völlig unbedeutenden Statistik-Abteilung im Gesundheitsministerium hatte es endlich geschafft, dass man ihm Gehör verlieh. Schnell war es gegangen, sehr schnell.

An jener Medienkonferenz, an der er rein zufällig teilnehmen musste (sein Chef und dessen Stellvertreter waren wegen eines Stromausfalls im Aufzug stecken geblieben) wurde er unverhofft nach seiner Meinung gefragt.  «Es wird etwas geschehen», hatte er, einem inneren Ruck folgend, ins Mikrophon gestottert. Als Liebhaber der Werke Heinrich Bölls war ihm unter Druck und im Lichte der Scheinwerfer nichts Besseres eingefallen, als eben dieser lapidare Satz aus Bölls gleichnamiger Kurzgeschichte. Und weil ein Journalist nun wissen wollte, WAS denn geschehen würde, warf Meier dem lästig Fragenden das Wort MUTATION an den Kopf. Denn eines wusste Meier, der nie zuvor von einem Journalisten befragt worden war, dass er, Meier, der Statistiker und Zahlenmensch, über Mutationen Bescheid wusste. Es war ein sicheres Feld, auf das er sich zurückzog. Denn Mutationen und Kombi-nationen waren sein Fachgebiet.

Als drei Tage später das Virus (der eigentliche Grund der Konferenz) tatsächlich zu mutieren begann, stand mit Hans Meier plötzlich ein neuer Stern am Firmament der Viro- und Epidemiologen. Meier hatte es vorhergesagt, zeitnah und treffend.

Es ist etwas geschehen!

Und weil die Pandemie noch eine Weile andauerte, ging es mit Hans Meiers Karriere unaufhaltsam bergauf. Die Leute hörten ihm zu, wenn er sprach. Er wurde an Talk-Shows ein-geladen und trat wöchentlich am Fernsehen auf. Weil man ihm geradezu an den Lippen hing, sprach er auch dann noch, als die Fallzahlen stark zurückgegangen und auf sehr tiefem Niveau stagniert waren. Meier fand Freude an neuen Begriffen: «Herdenimmunitätsillusion» oder «Mutantenwachstum» waren zwei seiner vielen Wortschöpfungen. Einen Weg zurück zur Normalität gab es für Meier nicht, zu bedrohlich erschien ihm diese. Und als ihm am En-de ein hoher Regierungsposten in Aussicht gestellt wurde, schien niemand überrascht zu sein. Denn mit seiner Liebe zu Bölls literarischem Gesamtwerk und einem Faible für Zahlen war Hans Meier bestens dafür gerüstet.


Michael Theurillat

Michael Theurillat, geboren 1961 in Basel, studierte Wirtschaftswissenschaften, Kunstgeschichte und Geschichte. Er promovierte auf dem Gebiet der Finanzwissenschaft und arbeitete jahrelang erfolgreich im Bankgeschäft. Seine Romane um den Zürcher Kommissar Eschenbach (erschienen bei Ullstein) sind regelmässig auf den Schweizer Bestsellerlisten. Neben seiner Tätigkeit als Schriftsteller berät er Unternehmungen und Pensionskassen. Theurillat lebt und arbeitet in der Nähe von Zürich.

https://www.matthiaszehnder.ch/menschenmedien/michael-theurillat/


Martin Widmer

Angst vor der Angst

«Das kostet dich Kopf und Kragen.»

«Mich. Uns alle», sagte Heinrich Löffler, der Direktor des Bundesamtes für Gesundheit. Er schaute vor sich auf den Boden und folgte den hellen Adern und ihren Verzweigungen in den ochsenblutfarbenen Marmorplatten.

«Wir müssen handeln. Jetzt», sagte sie.

«Wir müssen es endlich zugeben», sagte Löffler und schaute auf. Monate lang hatten sie die Impfkampagne gegen das Virus vorbereitet. Doch gegen die gefährliche Mutation des Virus hatten sie schlicht nichts in der Hand.

«Auf keinen Fall dürfen wir das zugeben», entgegnete Selma Markovic. Als Innenministerin war sie nicht nur für die Gesundheit der ganzen Schweiz verantwortlich, sondern auch für Ruhe und Ordnung. In zwei Stunden sollte sie, flankiert vom gesamten Bundesrat, vor den versammelten Medienvertretern den Start der landesweiten Impfaktion bekannt geben. Sie atmete tief durch. «Stell dir vor, die Angst und Panik, wenn wir damit an die Öffentlichkeit gingen!»

«Hast du Angst vor der Angst?», fragte Löffler.


Martin Widmer

Martin Widmer arbeitete als Journalist sowie als Historiker für die Basler Museen und für das Laienforschungsprojekt «Grabe wo du stehst». Sieben Jahre war er Co-Verleger bei «Hier und Jetzt», Verlag für Kultur und Geschichte, in Baden. Heute ist er als Autor tätig und hat verschiedene Sachbücher geschrieben. Ende September ist sein erster Krimi erschienen (siehe unten).

www.martinwidmer.ch

https://www.matthiaszehnder.ch/menschenmedien/martin-widmer/

https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/der-vermisste-vom-vierwaldstaettersee/


Quellen

Hauptbild: ©Jag_cz – stock.adobe.com | Autorenbilder: zvg / mz / mz / zvg

Ein Kommentar zu "Das Ende der Geschichte"

  1. Was ist „die Normalität“: Eine Illusion oder die Wahrheit? Es findet ein Wandel statt. Auch in der Wahrnehmung der Welt. Wahr ist, was geglaubt wird. Vieles, was geglaubt wird, stimmt nicht. Es ist eine Illusion. Manipulation ist die Kunst, andere glauben zu machen, was sie glauben sollen. Damit sie nicht wissen wollen, was sie wissen können. Schwierig wird es für Menschen, denen nicht einmal bewusst ist, dass sie nicht wissen, was sie verstehen müssen, um das Richtige zu tun.

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