Das blinde Auge der Bürgerlichen

Publiziert am 21. Februar 2020 von Matthias Zehnder

Bürgerliche Parteien stehen traditionell ein für die Freiheit. Wenn im 21. Jahrhundert eine Freiheit wichtig ist, dann ist es die digitale Freiheit. Doch die ist heute bedroht. Denn (digitale) Freiheit gibt es nur, wenn es auch eine Privatsphäre gibt. Und um die Privatsphäre ist es im Internet schlechter bestellt denn je. Schuld daran sind nicht die Staaten, sondern die grossen Internetkonzerne – und genau auf diesem Auge sind die Bürgerlichen blind.

Letzte Woche habe ich an dieser Stelle über den Kurzschluss der Bürgerlichen geschrieben: Der Schluss «Bürgerlich = Freiheit = Auto» war vielleicht in den 60er Jahren sinnvoll, heute ist es, vor allem in den Städten, vorbei damit. Das haben alle gemerkt (bis auf die Bürgerlichen). Heute steht das Automobil nicht mehr für Freiheit und Unabhängigkeit, sondern für Stau und Umweltbelastung. In Städten, wo der Platz knapp ist, sind Blechkarrossen nichts als ein Klotz am Bein. Wenn die Freiheit heute nicht mehr nach Benzin riecht und wir sie nicht mehr mit dem Auto erfahren können – womit dann? Die Antwort ist einfach: durch digitale Vernetzung: Es gibt heute nichts Wichtigeres als die digitale Freiheit.

Simpel, denken Sie jetzt vielleicht, im digitalen Raum gibt es keinen Stau und man braucht keinen Parkplatz. Diese Freiheit ist also eine einfache Sache. Könnte man meinen. Es gibt aber drei Aspekte, welche die digitale Freiheit heute einschränken. Da ist zuallererst der grundsätzliche Zugang zu digitalen Medien. In der Schweiz haben wir damit wenig Probleme: Breitband-Internet steht in unserem Land flächendeckend zur Verfügung.[1] In Deutschland können viele Menschen von einer so guten Abdeckung nur träumen. Computer, Tablets und Mobiltelefone sind in der Schweiz zudem vergleichsweise günstig. Mit der grundsätzlichen Zugänglichkeit haben wir in der Schweiz kaum Probleme (es sei denn, politisch werde 5G ausgebremst).

Freiheit nur dank Privatsphäre

Ein Internetanschluss und ein Computer alleine machen aber noch nicht frei. Es braucht zum zweiten ein gerütteltes Mass an Medienkompetenz, um sich frei im digitalen Raum bewegen zu können. Damit sieht es schon schlechter aus. Zwar haben wir in der Schweiz hohe Nutzungsraten: In allen Altersgruppen ist das Internet heute das am meisten genutzte Medium. Anders sieht es aus, wenn es um grundlegende Medienkompetenzen geht. Dabei geht es um das Wissen über die Medien, die Fähigkeit, Medien kritisch zu nutzen und selbstbestimmt aktiv an der Medienwelt teilzunehmen.[2] Auf allen drei Ebenen hapert es. Bei den älteren Mediennutzerinnen und -nutzern fehlt es vor allem an der Partizipationskompetenz: Sie getrauen sich zu wenig. Bei den jüngeren Nutzern, den «digital natives», fehlt es vor allem an Sach- und Rezeptionskompetenz. Anders gesagt: Sie sind zu wenig kritisch.

Neben Zugang und Kompetenz gibt es aber noch eine dritte Bedingung für die digitale Freiheit: den Datenschutz. Digitale Freiheit gibt es nur, wenn die digitale Privatsphäre geschützt ist. Und genau darum ist es heute schlechter bestellt denn je. Vielleicht denken Sie jetzt an staatliche Schnüffler und Überwachung etwa durch die amerikanische National Security Agency NSA, wie sie Edward Snowden ans Tageslicht gebracht hat. Ich denke aber nicht in erster Linie an staatliche Akteure. Unsere digitale Privatsphäre ist heute vor allem durch die grossen Digitalfirmen bedroht, konkret vor allem durch Facebook und Google. Die beiden Firmen dominieren weltweit eine ganze Reihe von Märkten, darunter natürlich die Suche (Google) und die sozialen Medien (Facebook und die Tochter Instagram), aber auch Video (Youtube von Google), Messenger (Facebook-Tochter WhatsApp), Browser (Google Chrome) und vor allem digitale Werbung (beide).

Die Macht, uns zu beeinflussen

Google und Facebook sammeln im grossen Stil Daten darüber, was wir suchen, wohin wir gehen, mit wem wir sprechen, was wir sagen und was wir lesen. Dank der gesammelten Daten können die beiden Firmen auf unsere Konsumgewohnheiten, auf die politische Ausrichtung, auf die sexuelle Orientierung, ja sogar auf unsere gegenwärtige Stimmung schliessen. Das ist hochproblematisch, weil beide Firmen weitgehend steuern können, welche Inhalte wir im Internet sehen: Google zeigt uns ausgewählte Suchresultate im Browser, Facebook zeigt uns ausgewählte Beiträge in der Timeline. Auf diese Weise haben Google und Facebook die Macht, uns zu beeinflussen, ohne dass wir es bemerken.[3]

Google weiss zum Beispiel jederzeit, wo ich mich gerade befinde. Das ist keineswegs versteckt oder geheim, das lässt sich online abfragen.[4] Google weiss zum Beispiel, wo ich wohne und auf welcher Strecke ich am Morgen jeweils jogge. Google weiss, dass ich mit dem Fahrrad zur Arbeit fahre und kennt den genauen Weg. Google weiss, wann und wo ich einkaufe, wann ich ein Restaurant oder eine Ausstellung besuche und wann ich das Tram nehme. Und diese Aufzeichnungen sind noch vergleichsweise harmlos.

Rund 100 Datenpunkte

Viel problematischer ist nämlich, was Google und Facebook über meine Lese- und Konsumgewohnheiten wissen. Facebook etwa speichert über jeden Benutzer rund 100 Datenpunkte, darunter Beziehungsstatus, Arbeitgeber, politische Ausrichtung, Vermögen, Konsumverhalten, Reisetätigkeit oder Art der Kleidung.[5] Facebook zeichnet dafür nicht nur das Verhalten auf den eigenen Plattformen auf, sondern verfolgt die Nutzerinnen und Nutzer auch ausserhalb von Facebook.[6] Aufgrund dieser gespeicherten Angaben ist der Algorithmus von Facebook (also die künstliche Intelligenz, die Facebook antreibt) in der Lage, vorauszusagen, was mich interessiert und (vor allem) auf welche Werbung ich ansprechen werde.

Die Datenanalysen werden aber nicht nur für Werbung verwendet. Google und Facebook nutzen die Angaben auch dazu, um ihre Angebote zu personalisieren. Das Ziel ist es dabei, die Benutzer so lange wie möglich auf ihren Plattformen zu behalten. Weil dafür Werbung und Inhalte personalisiert werden, steuern die beiden Plattformen über ihre Algorithmen das, was wir online erleben. Auf diese Weise sind sie in der Lage, die Meinungen und die Haltungen ihrer Benutzer zu beeinflussen. Genau das hat die Firma Camebridge Analytica im Wahlkampf von Donald Trump und im Abstimmungskampf um den Brexit ausgenutzt.[7]

Niemand kann sich dem entziehen

Google und Facebook verfolgen nicht nur ihre eigenen Nutzer, sie tracken auch Menschen, die nicht über ein Facebook-Profil oder einen Google-Account verfügen. Kein Internetbenutzer kann sich heute den Fangarmen der beiden Firmen entziehen. Ganz abgesehen davon, dass es fast nicht möglich ist, das Internet zu nutzen, ohne mit einem Angebot von einer der Firmen in Berührung zu kommen. Die beiden Anbieter, die uns online am meisten nützen, sind gleichzeitig die mächtigste Bedrohung für unsere digitale Freiheit. Wer könnte unsere Freiheit schützen?

Darauf gibt es nur eine Antwort: der Staat. Nur der Staat kann die digitale Freiheit des Einzelnen schützen, indem er die Privatsphäre der Menschen vor Übergriffen durch die grossen Internetfirmen schützt. Dieser Schutz ist nicht einfach nice to have. Es wäre eigentlich die Pflicht des Staates, die Menschen vor digitalen Übergriffen auf ihr Privatsphäre zu schützen. So sieht es zum Beispiel eine spannende Studie des Schweizerischen Kompetenzzentrums für Menschenrechte (SKMR) aus dem Jahr 2016.[8] Mit anderen Worten: digitale Freiheit (und damit digitale Privatsphäre) ist ein Menschenrecht, das der Staat zu schützen hat.

Eine Herausforderung für den Liberalismus

Und genau das ist das Dilemma der Bürgerlichen. Liberalismus heisst: möglichst grosse Freiheit des Einzelnen bei gleichzeitig möglichst kleinem Einfluss des Staates. Denn traditionellerweise ist es der Staat, der die Freiheit des Einzelnen und die Freiheit der Wirtschaft einschränkt. In der digitalen Welt ist das anders. Da ist es die Wirtschaft (in Gestalt der grossen Digitalkonzerne), welche die Freiheit des Einzelnen (und im Extremfall sogar die Freiheit einzelner Staaten) einschränkt. Auf diesem Auge jedoch sind die (meisten) Bürgerlichen blind.

Luca Urgese, der Präsident der Basler FDP, weist darauf hin, «dass die FDP in ihrem Parteiprogramm die Prinzipien des Dateneigentums und der Selbstbestimmung des Individuums ausdrücklich festgehalten» habe,[9] dass er selbst soeben einen Vorstoss eingereicht habe, «um dem Recht an den persönlichen Daten im Kanton mehr Gewicht zu geben»,[10] und dass sich die FDP «schon seit einiger Zeit mit dem Thema Digitalisierung beschäftigt und dazu verschiedenste Vorstösse eingereicht» habe.[11] Parteiprogramm und Vorstösse bestätigen das Bild einer liberalen Partei: der Staat soll sich digitalisieren und der Einzelne soll das Recht an seinen Daten haben, die der Staat von ihm speichert. Das ist alles gut und zielt in die richtige Richtung – die grosse Bedrohung der Freiheit geht im Internet aber eben nicht vom Staat aus, sondern von den grossen Konzernen. Und das passt nicht ins liberale Weltbild.

Verstehen Sie mich recht: Es geht mir nicht darum, hier die bürgerlichen Parteien pauschal in die Pfanne zu hauen oder ihnen die Schuld daran in die Schuhe zu schieben.[12] Mich interessiert der Bruch, der grundsätzliche Widerspruch, der im Umgang mit der Freiheit steckt. Politik und Begriffe der 60er oder 70er Jahre lassen sich nicht mehr auf die Situation im 21. Jahrhundert anwenden. Die Digitalisierung hebelt das traditionelle Links-Rechts-Schema in der Politik aus. Wir müssen uns überparteilich (und wohl auch überstaatlich) darum kümmern. Unser aller digitale Freiheit ist zu wichtig, als dass wir sie im Klein-Klein des Parteiengezänks untergehen lassen können. Denn digitale Freiheit ist ein Menschenrecht.

Basel, 21. Februar 2020, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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Quellen

Bild: ©Leszek Czerwonka – stock.adobe.com

[1] Die Breitband-Abdeckung können Sie auf dem Breitbandatlas der Schweiz einsehen: https://map.geo.admin.ch/?topic=nga&lang=de&bgLayer=ch.swisstopo.pixelkarte-grau&catalogNodes=15066,15041,320

[2] Professorin Helga Theunert zum Beispiel spricht von Sachkompetenz, Rezeptionskompetenz und Partizipationskompetenz. Vgl: Fred Schell, Elke Stolzenburg et al.: Medienkompetenz. Grundlagen und pädagogisches Handeln. München: KoPäd-Verlag 1999.

[3] Vgl. dazu etwa die Studie von Amnesty International: «Surveillance Giants: How the Business Model of Google and Facebook threatens human Rights». Amnesty International: London 2019; https://www.amnesty.org/download/Documents/POL3014042019ENGLISH.PDF

[4] Sie können unter diesem Link selbst nachschauen, was Google über Sie weiss: https://google.com/maps/timeline?pb

[5] Eine Liste der Datenpunkte, die Facebook sammelt, finden Sie hier: https://netzpolitik.org/2016/98-daten-die-facebook-ueber-dich-weiss-und-nutzt-um-werbung-auf-dich-zuzuschneiden/

[6] Welche Daten Facebook dabei über Sie zusammenträgt, können Sie (wenn Sie Nutzer von Facebook sind) hier abrufen: https://www.facebook.com/off_facebook_activity/

[7] Vgl. dazu Brittany Kaiser: Die Datendiktatur. Wie Wahlen manipuliert werden. Hamburg: Harper Collins 2020

[8] Christine Kaufmann et al: Das Recht auf Privatsphäre im digitalen Zeitalter. Staatliche Schutzpflichten bei Aktivitäten von Unternehmen. SKMR: Bern 2016; abrufbar hier: https://www.menschenrechte.uzh.ch/dam/jcr:d7885e2b-dd5a-4a6d-98fa-968d4c1c939c/160922_SKMR-Studie_Privatsphaere.pdf

[9] In einem Mail an mich als Reaktion auf den Wochenkommentar von letzter Woche, siehe hier: https://www.fdp-bs.ch/positionen/digitalisierung

[10] Siehe hier: http://www.grosserrat.bs.ch/de/geschaefte-dokumente/datenbank?such_kategorie=1&content_detail=200110169

[11] Siehe zum Beispiel «Termine mit der Verwaltung online vereinbaren»: http://www.grosserrat.bs.ch/de/geschaefte-dokumente/datenbank?such_kategorie=1&content_detail=200109020 oder «Steuererklärung online ausfüllen»: http://www.grosserrat.bs.ch/de/geschaefte-dokumente/datenbank?such_kategorie=1&content_detail=200109572 oder «Baubewilligungsverfahren digitalisieren»: http://www.grosserrat.bs.ch/de/geschaefte-dokumente/datenbank?such_kategorie=1&content_detail=200109968

[12] Ich habe auf den Kommentar von letzter Woche Der Kurzschluss der Bürgerlichen gerade von Bürgerlichen viele Reaktionen erhalten – ablehnende und zustimmende übrigens.

7 Kommentare zu "Das blinde Auge der Bürgerlichen"

    1. Sich mit den Bürgerlichen (respektive der entsprechenden Wertehaltung und Politik) auseinanderzusetzen, lohnt sich gerade deshalb, weil es sie gibt. Meine Kommentare richten sich ja nicht gegen die Bürgerlichen, sie setzen sich mit einzelnen, politischen Fragen und Haltungen auseinander. Aber das zu vermitteln, ist in einer Schwarz-Weiss-Welt natürlich schwierig…

    2. Unsere Parlamente erlebe ich als eidgenössische Mittelstands- und Vielparteien-Bürgervereine. Nationalistisch begründet und begrenzt spielen sie ihr Gewinner-Verlierer-Machtschach. Sie bezeichnen es medien- und selbstwirksam als Politik. Um damit gutbürgerlich korrekt – sowohl von und für Links, als auch von und für Rechts – davon abzulenken, dass globalisierte Grosskonzerne und Superreiche für unser aller Leben autokratisch, gierig und rücksichtslos den Takt und den Ton angeben. Den Vogel schiessen diejenigen ab, denen es gelingt, das Ganze als Demokratie zu vermarkten.

  1. Die Digitalisierung entspricht dem Prinzip der kollektiv verantwortungs- und wertefrei organisierten Marktwirtschaft. Wo vor allem zählt, was Profit bringt und was Spass macht. Und wo Mächtige und Reiche tun oder lassen können, was und wie sie es wollen. Autokratien und Demokratien sind gleichermassen nationalistisch belämmert. Parlamentarische Parteiendemokratien sind mit ihrem Links-Rechts-Machtschach beschäftigt und bringen in wesentlichen Lebensfragen keine für alle nachhaltig zukunftsfähigen Lösungen zustande. Es gibt Bewegungen, die kokreativ und kooperativ unterwegs sind.

    1. Nein, die Digitalisierung und vor allem das Internet müssten der Profitlogik eben gerade nicht entsprechen. In der Anfangszeit des Internets und des World Wide Webs war die Vision eines egalitären Netzwerks vorherrschend, das allen Menschen gleichwertigen Zugang zu Wissen bietet. Lesen Sie zum Beispiel einmal «A Declaration of the Independence of Cyberspace» von John Perry Barlow hier: https://www.eff.org/de/cyberspace-independence Der Text beginnt mit den Worten: «Governments of the Industrial World, you weary giants of flesh and steel, I come from Cyberspace, the new home of Mind. On behalf of the future, I ask you of the past to leave us alone. You are not welcome among us. You have no sovereignty where we gather.» Die Vision war es, das Internet frei von der Marktlogik zu halten. Bis heute gibt es Teile des Internets, die so funktionieren (Wikipedia zum Beispiel). Deshalb: Nein, die Digitalisierung ist nicht einfach Markt und Konsum. Im Gegenteil: Das Internet hätte als globales, egalitäres Netzwerk das Potenzial, ein Instrument der selbstbestimmten Aufklärung zu sein. Dieses Potenzial steckt immer noch im Internet!

      1. Auch ich gehe beim Internet mit grosser Freude und grundsätzlich sehr von einem solchen Potenzial aus. Aber ist es damit nicht ähnlich wie beispielsweise mit der Freiheit, wenn sie grossmächtig und neoliberal vermarktet allen um die Augen und Ohren geschlagen wird?

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