Blick zurück auf die Gegenwart

Publiziert am 7. Juni 2019 von Matthias Zehnder

Bei diesem schönen Wetter steigen bereits die ersten Schwimmer in den Rhein und lassen sich im kühlen Nass bachab treiben. Den wenigsten dürfte bewusst sein, dass der Rhein erst seit wenigen Jahren so sauber ist, dass das möglich ist. Heute blicken wir kopfschüttelnd auf die 50er und 60er Jahre zurück, in denen es die Schweizer Politiker verpassten, griffige Gewässerschutzgesetze zu schaffen. Was wohl künftige Generationen von unserem Umgang mit der Luftverschmutzung, mit Pestiziden und mit Antibiotika in der Tierzucht denken werden?

Darum beneidet uns die ganze Welt: In Basel ist es möglich, sich im Rhein schwimmend durch die Stadt treiben zu lassen. In Paris hat Bürgermeisterin Anne Hidalgo versprochen, die Seine bis 2024 so sauber zu machen, dass man darin schwimmen kann. In die Sauberkeit des Flusses will sie bis zu einer Milliarde Euro investieren.[1] In New York soll es dank eines schwimmenden Pools, der das Wasser filtert, schon früher möglich sein.[2] Viele andere Flüsse sind viel zu schmutzig, als dass Menschen darin baden könnten. Den meisten Rheinschwimmern ist kaum bewusst, dass auch der Rhein noch nicht lange so sauber ist, dass man gefahrlos darin schwimmen kann.

Was sind die wichtigsten Erfindungen und Entwicklungen der Menschheit? Diese Liste ist natürlich lang. Auf der Liste dürften so grundsätzliche Dinge stehen wie das Rad oder die Schrift, aber auch Antibiotika, die Waschmaschine und Nylonstrümpfe. Es gibt viele solcher Listen im Internet.[3] Eine der wichtigsten Erfindungen steht jedoch nie auf diesen Listen, obwohl sie viele Leben gerettet, unser aller Leben deutlich angenehmer gemacht hat – und die Schweiz rund 35 Milliarden Franken gekostet hat: die Kanalisation und die damit verbundenen Abwasserreinigungsanlagen. Für Schweizerinnen und Schweizer ist die Kanalisation im Jahr 2019 eine unsichtbare Selbstverständlichkeit. Doch das ist es keineswegs.

Typhus und Cholera

Noch vor 100 Jahren starben in der Schweiz Menschen an Typhus. Das statistische Jahrbuch des Jahres 1919 listet 82 Typhus-Fälle auf – ein deutliches Zeichen dafür, dass die hygienischen Verhältnisse in der Schweiz prekär waren und viele Menschen keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser hatten.[4] Ein wichtiger Grund dafür war der Umgang mit Abwasser und Fäkalien. Die wurden unprätentiös per Abtritt in öffentliche Gewässer entsorgt oder man liess die Abwässer in Gruben versickern. Auf diesem Weg wurde das Grundwasser verunreinigt. Weil sich die Bevölkerung gleichzeitig aus Sodbrunnen mit Trinkwasser versorgte, kam es zu Ausbrüchen von Cholera und Typhus.

1867 nahm die Stadt Zürich den Bau eines Kanalisationsnetzes in Angriff. Dabei kam ein Kübelsystem zum Einsatz, das die Stadt Paris entwickelt hatte: die eigentlichen Abwässer wurden in die Kanalisation geleitet, die festen Fäkalstoffe im Haus in einem auswechselbaren Kübel mit Siebeinsatz gesammelt.[5] In Basel diente der (damals noch offene) Birsig als Cloaca Maxima, als Abwasserkanal für die ganze Stadt. Man kann sich heute wohl nicht mehr vorstellen, wie das gestunken haben muss. Die Einwohner scheint das nicht gestört zu haben: 1876 und 1881 lehnten die Basler Stimmbürger ein Kanalisationsgesetz und die Sanierung des Birsig ab. Erst 1896 bewilligten die Stimmbürger die Einführung einer Kanalisation in Basel.[6]

Abwasser direkt im Rhein

Sehr viel mehr Sauberkeit brachte das aber nicht. Zwar wurden die Abwässer in der Kanalisation gesammelt, die mündete aber in den Rhein. So landeten Abfälle, Fäkalien und Industrieabwässer im Fluss. Und zwar nicht nur harmlose Stoffe: Die damalige Chemiefirma Ciba-Geigy leerte ab Mitte des 19. Jahrhunderts die stark arsenhaltigen Rückstände ihrer Produktion direkt in den Rhein.[7] Das störte niemanden – ja: man machte sich darüber schlicht keine Gedanken. Der Rhein war damals kein Fluss, sondern eine Kloake, die nur so starrte von Fäkalien und Giften. Die Basler Abwasserreinigungsanlage in Kleinhüningen ist erst 1982 (!) in Betrieb genommen worden.

Erst 1953 erhielt der Bund die Kompetenz, die sicht- und riechbare Gewässerverschmutzung zu bekämpfen, schreibt Patrick Kupper in seiner Untersuchung über die Entstehung der Umweltbewegung in der Schweiz.[8] 1955 trat das eidgenössische Gewässerschutzgesetz in Kraft, das sich allerdings bis zu seiner Revision 1971 als ziemlich stumpfe Waffe erwies.[9] Im Juni 1971 beriet der Nationalrat das «Bundesgesetz über den Schutz der Gewässer gegen Verunreinigung». Es ist spannend, heute auf die damalige Debatte zurückzuschauen und zu verfolgen, wie schwer sich der Rat damals tat, ein griffiges Gewässerschutzgesetz anzunehmen. Die «NZZ» berichtete darüber sperrig, genau, maliziös.[10] Auch darüber schütteln wir heute den Kopf. Pestizide wurden 1971 bewusst vernachlässigt, von Dünger ist nicht einmal die Rede. Erst 1991 wird der Umgang mit Dünger im dritten Gewässerschutzgesetz geregelt. Schon 1953, spätestens aber 1971 hätten es die Räte in der Hand gehabt, ein wirklich griffiges Gesetz zum Schutz der Gewässer zu verabschieden. Aus heutiger Sicht kann man über den laschen Umgang der Politiker mit der Umwelt nur den Kopf schütteln.

Die Gedanken unserer Enkel

1971 – das ist noch keine 50 Jahre her. Wie wohl die Menschen in 50 Jahren über unseren Umgang mit der Umwelt reden werden? Werden sie auch den Kopf über die eidgenössischen Räte schütteln, welche die Trinkwasserinitiative und die Pestizidinitiative ohne Gegenvorschlag vors Volk bringen wollen? Die Initiativen sind den Wirtschaftspolitikern zu extrem, weil sie Pestizide und Antibiotika aus der Landwirtschaft verbannen wollen.[11] Oder die Luftqualität. Der Grenzwert für die Ozonbelastung liegt in der Schweiz bei 120 Mikrogramm pro Kubikmeter. Er wird als Mittelwert über eine Stunde gemessen und darf ein Mal pro Jahr überschritten sein. Ein Mal! Dieser Grenzwert wurde 2018 in der Region Basel hundertfach überschritten. In Basel St. Johann wurde der Grenzwert während 257 Stunden (!), in Bettingen wurde er 699 Stunden (!!) lang überschritten.[12]

Wir werden in Zukunft auf die verschmutzte Luft der Gegenwart ähnlich ungläubig zurückschauen, wie wir heute auf den verschmutzten Rhein der 50er Jahre zurückblicken. Ich frage mich zum Beispiel, wie es sein kann, dass im Jahr 2019 immer noch Fahrzeuge mit stinkenden Zweitaktmotoren verkehren können. Wenn Sie einmal bei heissem Wetter auf einem Velo hinter einem Töffli einen Berg hochpedalt sind, verstehen sie vielleicht, was ich meine. Wenn ich an die Rückstände von Antibiotika,[13] Hormonen und Medikamenten im Wasser unserer Flüsse denke, wird mir ganz anders. Das Schmunzeln über den Umgang mit Fäkalien im Mittelalter gefriert zu einer Grimasse. Was wohl unsere Enkel und Urenkel über uns denken werden? Und wie sie wohl über die Berichterstattung in unseren Medien denken werden?

Basel, 7. Juni 2019, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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Quellen

[1] Vgl. «Le Figaro» 18.06.2018: http://www.lefigaro.fr/sciences/2018/06/18/01008-20180618ARTFIG00306-se-baigner-dans-la-seine-en-2024-la-promesse-a-1-milliard-d-euros-d-anne-hidalgo.php

[2] Vgl. https://pluspool.org/

[3] Zum Beispiel hier: https://www.wissen.de/die-wichtigsten-erfindungen-der-menschheit oder hier: http://www.eine-frage-der-technik.de/

[4] Vgl. Statistisches Jahrbuch der Schweiz 1919, S. 23; vgl. https://www.bfs.admin.ch/asset/de/hs-b-00.01-jb-1919

[5] Vgl. Martin Illi: «Von der Schîssgruob zur modernen Stadtentwässerung». Verlag Neue Zürcher Zeitung 1987

[6] Vgl. Historisches Lexikon der Schweiz: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/007861/2002-05-31/

[7] Vgl. Historisches Lexikon der Schweiz: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/024598/2014-01-14/

[8] Vgl. Patrick Kupper: Abschied von Wachstum und Fortschritt. Die Umweltbewegung und die zivile Nutzung der Atomenergie in der Schweiz (1960-1975). Lizentiatsarbeit Universität Zürich 1997; S. 24f.

[9] Ebenda.

[10] Vgl. «Neue Zürcher Zeitung» vom 16.06.1971 Seite b21

[11] Vgl. https://www.luzernerzeitung.ch/sport/landwirtschaftsinitiativen-sollen-ohne-gegenvorschlag-vors-volk-ld.1120003

[12] Vgl. https://www.asb.bs.ch/nm/2018-sommer-2018–hohe-temperaturen-und-viel-ozon-wsu.html

[13] Vgl. https://www.swissinfo.ch/ger/studie–antibiotika-rueckstaende-belasten-fluesse-in-aller-welt/44992438

2 Kommentare zu "Blick zurück auf die Gegenwart"

  1. Ich denke, Umweltschutz und die ganzen Folgen sind bei uns in der Schweiz auf jeden Fall, in Europa teils/teils (kommt auf die Länder an) ein Thema, das berührt, daher beschäftigt und deshalb (mehr oder weniger) mit Taten gestemmt wird.
    Umweltschutz sollte nicht mit der Parteienlandschaft in Verbindung gebracht werden, da er allumfassend ist. Trotzdem sind die Parteien (nebst unserem obersten Organ, der Bevölkerung) unsere Triebfedern.
    Alle CH-Parteien sind da deshalb mit von der Partie (mal so, dann mal eher so…)
    Die Grünen haben´s im Programm, die Mitte (CVP & Konsorten) schlingern wie immer um die (noch verhandenen) Bäume und dreschen schöne Phrasen, bei welchen meist nur Leere und Selbstdarstellung dahintersteckt und die Bürgerlichen versuchen es auch mit Grün: Die FDP hat die Umwelt (aus dem 3,4 Liter-SUV-Auto) kurz vor den Wahlen wahrgenommen (wenigstens das) und bemerkte, dass es hinter den Autobahnleitplanken ja noch weitergeht und die SVP, welche aus der Bauernpartei entsprang, weiss ohne viele Worte, wie Grün geht („Lifere statt lavere“; oder besser „Umverteilen“): Machen, Anpacken heisst es dort bei vielen innovativen KMU-Parteimitgliedern; z.B. dem strammen SVP-Mitglied und Patron der Firma Eberhard-Bau (eberhard.ch), welche Pioniere sind in Bau und Umwelt und 4 Millionen Kubikmeter sauberes Aushubmaterial im Kanton Zürich recyclen, man denke einmal an die auch bei unseren SVP-Landwirten, welche auf mehr Biodiversität setzen, Grünbrachen für Vögel und Käfer einrichten, das Gras länger stehen lassen und dadurch mehr Bienenweiden bieten, und so ein europäisches einmaliges hohes Tierwohl unseren Tieren bieten usw. usw…
    Und dann die JUGEND: Vielen von Ihnen geht die Natur ans Herz (das einzig Richtige). Ich hoffe, es hat viele echte Naturschützer darunter und nicht solche (wie leider auch gesehen), welche am Freitag ein Snap-Chat von der Klimademo posten und am Samstag ein Snap-Chat von der Tate Gallery in London posten, wo man doch weiss, das Flüge (in der ganzen EU immer noch ohne Benzinsteuer, MWST und Lufttrassegebühren) die grössten Treiber im Klimanotstand sind = einmal nach Dubai jetten = gleich viel Ausstoss wie 4 Jahre Autofahren in der Schweiz. (Quelle: Tamedia/Tagesanzeiger/Das Magazin „Tagimagi“von letzthin).
    Die MEHRHEIT der JUGEND ist also unsere Zukunft. Wenn man sie reden hört, engagiert und zielgerichtet, ist es eine Freude.
    Natürlich gibt es auch Ausnahmen: Die CVP-Tochter Julia Schneider (Kind, 18, von CVP-Nationalrätin Elisabeth Schneider-Schneiter) kandidierte für den Landrat. Natürlich ungewählt. Als man sie über den Klimaschutz reden hörte, neben den anderen Schülern, musste ich schmunzeln: Es war, als hätte die Tochter eine Kassette ihrer Mama verschluckt: „Man muss auf die Interessen der Wirtschaft Rücksicht nehmen. Man muss mit Bedacht handeln“, diese Worte habe ich so für mich noch im Sinn….
    Aber eben, Ausnahmen bestätigen die REGEL.
    HOFFENTLICH.

  2. In einer Gesellschaft und mit einer Politik, wo mehrheitlich nur zählt, was Profit bringt, ist der Schutz der Umwelt höchstens interessant, wenn sich damit ein Geschäft machen lässt. So wollen beispielsweise nur ein paar Spinner*innen wissen, dass der Flugverkehr vom EuroAirport jeden Tag Hunderte von Tonnen Gift- und Schadstoffe absondert.

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