Anleitung zum Glücklichsein
Wenn Sie Ihren Freunden «viel Glück im Neuen Jahr» wünschen – wünschen Sie ihnen Glück im Sinne von gute Zufälle oder Glück im Sinne von Glücklichkeit – also «good luck» oder «happiness»? Ersteres vermutlich – und das ist schade. Denn nötig haben wir alle vor allem das Zweite: die «happiness», die Glücklichkeit. Weil es 2016 weiss Gott genügend Nachrichten gab, die uns unglücklich machten, entbiete ich Ihnen zum Jahresende eine kleine Anleitung zum Glücklichsein und wünsche Ihnen im neuen Jahr –nun ja: viel Glück!
Als bekannt wurde, dass am 25. Dezember 2016 der britische Pop-Sänger George Michael nur 53-jährig überraschend gestorben war, twitterte die britische Popgruppe Simply Red: Its hard to take in. One of our most talented singer songwriters has left us. RIP George Michael. Such sad, tragic news. 2016 please end. Also etwa: Es ist kaum zu begreifen. Einer unserer talentiertesten Singersongwriter hat uns verlassen. Ruhe in Frieden, George Michael. So traurige, tragische Nachrichten. 2016 bitte geh zu Ende.
2016 please end – das fasst für viele Menschen dieses Jahr recht gut zusammen, das mit Massenbelästigungen zu Silvester in Köln begann und mit dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Berlin noch nicht zu Ende war. Wikipedia verzeichnet allein für das Jahr 2016 weltweit über 100 Terroranschläge. In Syrien tobt ein blutiger Bürgerkrieg, der kein Ende nehmen will – und der Frieden könnte, wie im Irak und in Afghanistan, noch schrecklicher werden, als der Krieg es war. Grossbritannien votierte für den Brexit und versucht seither, mit steifer Oberlippe darüber hinwegzusehen, dass nicht die Briten die Bedingungen für den Ausstieg setzen, sondern die EU. Die USA wählten Donald Trump zum Präsidenten, was, einmal abgesehen von allen politischen Präferenzen, nur schon deshalb zu denken geben sollte, weil noch nie ein Mann mit so geringem politischem Knowhow ins Weisse Haus einzog – und wohl auch noch nie ein Mann, der die Institutionen der Demokratie so geringschätzt.
2016 please end – das gilt auch für viele Entwicklungen in der Schweiz. Seit der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative ist unser Land blockiert und laviert zwischen einem emotionalen Trotzentscheid und rationaler Politik. Den Atomausstieg hat das Volk verworfen, eine Lösung für die Endlagerung des Atommülls ist aber in weiter Ferne. Der Graben zwischen einer nostalgisch-konservativen Landschaft und liberal-progressiven Städten wird immer tiefer. Die Schweiz befindet sich mitten in einer rasant fortschreitenden Deindustrialisierung und will gleichzeitig die Investitionen in Universitäten und Fachhochschulen herunterfahren. Noch nie waren so viele Menschen auf der Flucht – und seit dem Zweiten Weltkrieg stiessen die Flüchtenden noch nie so oft auf verschlossene Türen. Auch und gerade in der Schweiz – 2016 please end.
Bloss: Ende Dezember ändert sich nur die Jahreszahl. Die Welt bleibt dieselbe. Auch 2017 werden wir Anschläge erleben. Auch 2017 werden sich in der Schweiz SVP und SP Grabenkämpfe um eine Zukunft liefern, die beide Parteien in der Vergangenheit sehen. Auch 2017 werden Millionen von Menschen kaum ein Dach über dem Kopf haben und kaum das nötigste zu Essen. Die Wahlen im Frühling in Frankreich und im Herbst in Deutschland könnten Front National und AfD grosse Wahlerfolge bescheren. In der Schweiz dräuen die nächsten europapolitischen Abstimmungen. Was tun? 2017 please end?
Das kann ja nicht die Lösung sein. Was aber dann? Wie können wir angesichts des generellen Unglücks glücklich werden?
Das erste Problem: Die Briefträger-Verzerrung
Es gibt die alte Journalisten-Weisheit: Wenn ein Hund den Briefträger beisst, ist das keine Nachricht. Wenn der Briefträger aber einen Hund beisst, das ist eine Nachricht. Anders gesagt: Das Erwartbare, das Normale hat keinen Nachrichtenwert. Gemeldet wird das Aussergewöhnliche, das Überraschende. Dieses journalistische Naturgesetz führt aber zu etwas, was ich Briefträger-Verzerrung nenne: Wenn nie gemeldet wird, wenn Hunde Briefträger beissen, aber immer gemeldet wird, wenn Briefträger Hunde beissen, verkehrt sich unser Weltbild ins Gegenteil dessen, was tatsächlich der Fall ist: Also glauben wir mit der Zeit, dass sehr viele Briefträger Hunde beissen und ganz wenige Hunde Briefträger beissen. Logisch, oder?
Genau das ist der Fall bei Nachrichten über Flugzeugabstürze, Terroranschläge, Erdbeben und andere Katastrophen. Der Normalfall ist, dass Flugzeuge heil ankommen, dass kein Anschlag auf den Weihnachtsmarkt verübt wird und dass die Erde nicht bebt. Fliegen ist die sicherste Art des Reisens. Das grösste Risiko dabei ist der Weg zum Flughafen. Weil aber jeder Flugzeugabsturz, der sich irgendwo auf der Welt ereignet, gross gemeldet wird, kommt es zur Briefträger-Verzerrung: Wir glauben, dass Flugzeuge häufig abstürzen. Wer glücklich bleiben will, muss sich die durch die Briefträger-Verzerrung entstellte Welt wieder entzerren. Und das bedeutet: Wenn Sie im Neuen Jahr glücklich werden möchten, führen Sie sich entweder bei solchen Nachrichten das Verhältnis zwischen beissenden Hunden und beissenden Briefträgern vor Augen – oder Sie konsumieren solche Nachrichten nicht mehr.
Das zweite Problem: Die Überhöhung der Vergangenheit
Neben der Briefträger-Verzerrung gibt es einen weiteren Grund, warum wir der Überzeugung sind, dass die Welt den Bach runtergeht: die stille Gewissheit, dass früher alles besser war. Spätestens seit Sokrates beklagen sich Erwachsene und Erzieher über die jeweils heutige Jugend – und das ist schon weiter über 2000 Jahre her. Ein Unterschied gegenüber früher lässt sich festmachen: Dank Handy, Computer und Internet unterscheidet sich die Lebensweise der Generationen heute stärker als früher – das heisst aber nicht, dass alles schlechter wird. Manchmal gilt das Gegenteil.
Nehmen wir als Beispiel die Luftverschmutzung. Haben Sie schon einmal vom Tag als London starb gehört? So wird eine Smog-Katastrophe in London genannt, die sich zwischen dem 5. und 9. Dezember 1952 ereignete. Die Schadstoffkonzentration in der Luft war so hoch, dass Tausende von Menschen starben. Der Smog in London war so dicht, dass sich Busse verfuhren und Menschen sich zu Fuss verirrten. Die Sichtweite fiel auf 30 cm – auch innerhalb von Gebäuden. Im Sadler’s Wells-Theater musste eine Aufführung von La Traviata nach dem ersten Akt abgebrochen werden, weil das Publikum die Schauspieler auf der Bühne nicht mehr sah! Die Probleme, die London mit dem Smog hatte, waren nicht neu. Bereits 1891 versuchte die Stadt mit dem Public Health Act die Zahl der russenden Öfen einzudämmen – mit wenig Erfolg. Das Beispiel zeigt: Früher war nicht alles besser. Im Gegenteil. Wir können uns heute gerade in Sachen Umweltverschmutzung die Verhältnisse von vor 50 oder 100 Jahren kaum mehr vorstellen. Wenn Sie im neuen Jahr glücklich werden wollen, schauen Sie deshalb nicht in die angeblich glorreiche Vergangenheit, sondern kümmern Sie sich um die Zukunft. Die kann manchmal durchaus rosig sein – aber nur, wenn wir uns um sie bemühen.
Das dritte Problem: Das Glück der anderen
Tief in unseren Genen eingemeisselt ist ein verhängnisvoller Satz. Er lautet: Jeder ist seines eigenen Glückes Schmid. In einer liberalen (bis libertären) Welt gilt dieser Satz wieder ganz besonders: Jeder ist für sein eigenes Glück selbst verantwortlich. Streng Dich an, dann geht es Dir gut. Die Folge ist eine Welt voller Ellenbogen, in der sich jeder nur um sich selbst kümmert – mit dem Resultat, dass kaum jemand wirklich glücklich wird. Ganz anders sähe es aus, wenn der Satz lauten würde: Jeder sei seines Nächsten Glückes Schmid. Wenn alle sich mehr um das Glück ihrer Freunde, Angehörigen und Nachbarn kümmern würden, dann würde das Glücksniveau in der Welt fast automatisch steigen. Meinen Sie nicht auch?
In diesem Sinn wünsche ich Ihnen viel Glück im 2017!
9 Kommentare zu "Anleitung zum Glücklichsein"
Lieber Herr Zehnder
Es ist gut, dass es Sie gibt, und, dass wir mit diesen Kommentaren immer wieder festen Boden spüren.
Alles Gute im kommenden Jahre; und vom Glück reden wir nur, wenn wir Happy People begegnen, wenn wir von ihnen auch etwas lernen, und wenn wir das Privileg haben, andere auch glücklicher zu machen.
Mit freundlichen Grüssen
Bryan Stone
Lieber Matthias
Danke für deine Begleitung durch das Jahr mit diesen interessanten Wochenkommentaren. Was bleibt mir aber zu sagen?
Ich wünsche dir und der ganzen Familie sher herzlich ein gesundes, gefreutes neues Jahr und eine sanfte Landung in demselben 😉
Auf ein Andermal.
Beatrice
Glück haben und glücklich sein sind für mich zwei Schuhe vom selben Paar. Oft gehe ich barfuss. Allein gelassen, frei und unabhängig vom Glück. Glücklich bin ich in Lebensräumen, in denen Vielfalt als Reichtum gilt und sich entfalten kann. Wichtig sind mir dabei teilhaben und teilnehmen können. Damit und dafür gibt es viel zu tun. Auch im 2017.
Tschechov sagt, „Es gibt fuer uns kein Glück, nur die Sehnsucht danach.“ Ich kann ja Glück mit dem Begriff der Zufriedenheit ersetzen. Ist weniger zufällig, machbar, Aber wie auch immer, lieber Herr Zehnder ganz herzlichen Dank für ihre zum nachdenken anregenden Kommentare.
Vielleicht passt ja zu all diesen Überlegungen die Jahreslosung der evangelischen Kirchen aus dem Alten Testament nicht schlecht:
Gott spricht: „ich schenke euch ein neues Herz und lege einen neuen Geist in euch“ (Ezechiel 36,26) – geschrieben in Babylon vor 2 500 Jahren.
Ich wünsche Ihnen und uns ein Jahr, das uns alle positiv überrascht. Ich weiss, dass die Aussichten dafür nicht sonderlich rosig sind. Trotzdem hoffe ich darauf und ich bin überzeugt, es wird auch im neuen Jahr viel Gutes und Schönes geschehen. Richten wir unseren Fokus auch etwas darauf, wird uns dies helfen auch traurige News besser zu verarbeiten. Mit Ihren Wochen-Kommentaren leisten Sie einen wichtigen Beitrag in dieser Richtung. Deshalb, Herr Zehnder, herzlichen Dank. Ich schätze Ihre Arbeit und warte schon gespannt auf ihren nächsten Wochen-Kommentar.
Welche Wohltat: ein Wochenkommentar von Matthias Zehnder ohne den obligaten Kommentar von Thomas Zweidler!
Herzlichen Dank für diesen positiven Beitrag zum Thema Glücklich Sein im neuen Jahr, Herr Zehnder.
Es ist doch eine Frage des Blickwinkels. Konzentriere ich mich auf die negativen oder positiven Dinge, die in der Welt geschehen?
Tatsache ist, dass sowohl Positives als auch Negatives geschieht und zwar gestern, heute und morgen. Alle Aspekte des Lebens zu sehen und zu betrachten, mit der Existenz von Positivem und Negativem macht Menschen einiges glücklicher als nur die negativen Fakten im absoluten Fokus zu haben, wie Krieg, Terrorismus, Trump und so weiter. Zur gleichen Zeit werden Menschen durch die neuste Medizin gesund, Babies werden geboren, Menschen verlieben sich, Unternehmen werden gegründet oder politische Entscheide getroffen, die dem heutigen Produktiven und sinngebenden Fortschritt dienen.
Leben ist Bewegung, ständig und immer wieder bewegt es sich zwischen den beiden Polen von Negativem und Positiven. Nur so ist Weiterentwicklung möglich. Und dieser Weiterentwicklung sind wir unterworfen, ob wir das wollen oder nicht, sie ist Teil des Mensch Seins.
Herzlichen Dank für diesen positiven Beitrag zum Thema Glücklich Sein im neuen Jahr, Herr Zehnder.
Es ist doch eine Frage des Blickwinkels. Konzentriere ich mich auf die negativen oder positiven Dinge, die in der Welt geschehen?
Tatsache ist, dass sowohl Positives als auch Negatives geschieht und zwar gestern, heute und morgen. Alle Aspekte des Lebens zu sehen und zu betrachten, mit der Existenz von Positivem und Negativem macht Menschen einiges glücklicher als nur die negativen Fakten im absoluten Fokus zu haben, wie Krieg, Terrorismus, Trump und so weiter. Zur gleichen Zeit werden Menschen durch die neuste Medizin gesund, Babies werden geboren, Menschen verlieben sich, Unternehmen werden gegründet oder politische Entscheide getroffen, die dem heutigen Produktiven und sinngebenden Fortschritt dienen.
Leben ist Bewegung, ständig und immer wieder bewegt es sich zwischen den beiden Polen von Negativem und Positiven. Nur so ist Weiterentwicklung möglich. Und dieser Weiterentwicklung sind wir unterworfen, ob wir das wollen oder nicht, sie ist Teil des Mensch Seins.