Ferdinand von Schirach und die Ambivalenz

Publiziert am 26. Januar 2024 von Matthias Zehnder

Diese Woche habe ich in Basel Ferdinand von Schirach in seinem Einpersonenstück «Regen» gesehen. Ich war und bin begeistert, wie perfekt er Form und Inhalt miteinander verknüpft hat. Im Stück spielt er einen Laienrichter, einen Schöffen, der vom Gericht in einem Mordfall wegen Befangenheit abgelehnt wird. Der abgelehnte Schöffe ist Schriftsteller von Beruf – Ferdinand von Schirach war Strafverteidiger, bevor er Schriftsteller wurde. Figur und Autor sind sich also sehr nahe. Im Kern geht es im Stück darum, dass Menschen immer befangen sind. Es geht um Befangenheit und um Ambivalenz. Und dieses Wort, «Ambivalenz», hat sich mir eingebrannt an dem Abend. Es steht für Zwiespältigkeit und Zerrissenheit und die Unmöglichkeit, klare Urteile zu fällen. Wir haben hier miteinander letzte Woche über das neue Stammesdenken in der Politik nachgedacht. Über das stärkere Auseinanderklaffen von Stadt und Land, von Demokraten und Republikanern und die Frage, woher diese grosse Sehnsucht nach der laut verkündeten, starken Position kommt. Im Stück von Ferdinand von Schirach habe ich die Antwort auf diese Frage gefunden. Ich möchte deshalb diese Woche mit Ihnen über Ambivalenz nachdenken.

Ich bin ein leidenschaftlicher Theatergänger. In den letzten Jahren habe ich die Freude am Theater aber etwas verloren. Mir scheint, dass viele Regisseure nicht mehr auf die Sprache vertrauen. So kommt es zu Inszenierungen, die eher Performance sind. Zu «Überschreibungen» von Klassikern. Immer ist da noch ein Bildschirm, der das Bühnengeschehen kommentiert und Musik, meist aus Lautsprechern, überlagert alles wie eine klebrige Sauce. Die Schauspielerinnen und Schauspieler geben alles und gehen aufs Ganze. Nur mit Literatur hat das alles kaum mehr etwas zu tun. Die Sprache geht im Klamauk unter. Und dann kam Ferdinand von Schirach nach Basel. Ausverkauftes Haus im Stadtcasino. Auf der Bühne steht von Schirach und spricht. Ein 60jähriger Mann im Anzug. Die Bühne ist, abgesehen von einem Stuhl und einem Bistrotisch mit Kaffeetasse, Zigaretten und einem Glas Wasser, leer. Im Zentrum steht die Sprache, das, was von Schirach sagt. – Ich habe es geliebt.

Er spielt einen Laienrichter, einen Schöffen, der über einen Mann richten muss, der seine Frau erstochen hat. Der Mann ist geständig, der Fall scheint klar. Trotzdem kommt es zu einem Konflikt mit der Verteidigung und einem Antrag, zu überprüfen, ob der Schöffe befangen sei. Jetzt sitzt der Laienrichter im Café und erzählt. Weil er Schriftsteller ist von Beruf, heben sich die Grenzen zwischen dem Autor und seiner Figur rasch auf. Von Schirach kokettiert damit auf der Bühne, indem er aus seiner Rolle heraustritt und mit dem Publikum Kontakt aufnimmt. Er durchbricht als Autor die vierte Wand, also die imaginäre Grenze, die das Geschehen auf der Bühne vom Publikum abschliesst. Bald ist nicht mehr klar, wer hier spricht: der Autor oder der Schauspieler? Verkompliziert wird die Sache dadurch, dass der Autor ja nicht Schauspieler ist und der Schauspieler auf der Bühne einen Autor spielt. Diese Aufhebung der Klarheit bildet formal perfekt das Kernthema des Stücks ab: die Ambivalenz.

«Ambivalenz» ist kein einfaches Wort. «ambo» ist Lateinisch: ambō, ambae, ambō bedeutet «beide» im Sinne von «beide zusammen». Und valere bedeutet «gesund sein, stark sein; Einfluss haben, vermögen, gelten». ambo valent bedeutet also wörtlich: Es gilt beides. Ambivalenz meint, dass gleichzeitig widersprüchliche Gefühle, Einstellungen oder Gedanken vorhanden sind. Es geht um einen emotionalen Zwiespalt, etwa wenn jemand gleichzeitig Liebe und Hass gegenüber einer Person empfindet. Es geht also um eine Art emotionale Zerrissenheit.

Ein ähnliches Wort ist «Ambiguität». Das kommt von ambiguus, ambigua, ambiguum und bedeutet schwankend, zweifelhaft, zweideutig, ungewiss; strittig. Ambiguität steht deshalb für Mehrdeutigkeit oder Unklarheit in der Bedeutung. Ein Wort, ein Satz, ein Symbol oder eine Situation ist ambig, wenn  mehrere Interpretationen möglich sind oder mehrere Bedeutungen vorliegen. Ambivalenz, der innere Zwiespalt, ist oft das Resultat von äusserer Ambiguität, der Mehrdeutigkeit in der Sache. Oder, angewendet auf den Auftritt von Ferdinand von Schirach: Er hat durch die Ambiguität seines Auftritts, diese Mehrdeutigkeit zwischen Autor und Schauspieler, Schriftsteller als Beruf und als Figur, die innere Ambivalenz seiner Figur (und seiner selbst) perfekt abgebildet.

Im Stück sagt Ferdinand von Schirach (respektive die Figur, die er spielt): «Winston Churchill sagte, alle grossen Dinge seien einfach, und viele könnten mit einem einzigen Wort ausgedrückt werden: Gerechtigkeit, Freiheit, Ehre, Pflicht, Hoffnung, Gnade. Sehr schön. Aber genau das stimmt heute nicht mehr. Nicht in unserer Zeit. Eine Demokratie ist zwangsläufig das Gegenteil von Mystik und Geheimnis. Sie muss es sein. Je besser sie für uns wird, desto mehr besteht sie aus Fragen, aus immer engeren, immer kleinteiligeren Fragen, aus hunderten und tausenden Kompromissen. Und vor allem aus einem: aus Ambivalenz. Das ist das Schlüsselwort unserer Zeit: Ambivalenz. Es ist heute nicht mehr möglich, etwas zu sagen, ohne sofort das Gesagte wieder in Frage zu stellen. Ambivalenz – das ist der Kern unserer sich ständig verfeinernden Zivilisation.»

Er nennt die Benin-Bronzen in Paris, die wir heute nicht mehr betrachten können, ohne das koloniale Unrecht mitzudenken. Oder die Bilder von Emil Nolde. «Diese Bilder können Sie sich heute nicht mehr unvoreingenommen ansehen, weil Nolde ein Antisemit war. Ein Antisemit und ein Rassist. Das sehen Sie jetzt mit, es geht gar nicht anders.» Das Problem dabei ist, dass es die Bilder nicht schlechter macht. Die Bilder von Emil Nolde bleiben gut, die Musik von Richard Wagner bleibt umwerfend, die Frauenportraits von Picasso bleiben faszinierend, die Filme von Woody Allen bleiben ikonisch und unterhaltsam. Wir wissen aber, was Emil Nolde, Richard Wagner, Pablo Picasso und Woody Allen gesagt und getan haben. Wir stehen deshalb ihren Werken zwiespältig gegenüber.

Das gilt nicht nur für die Werke von Antisemiten oder Malern, die Frauen schlecht behandelt haben. Es gilt auch für Politiker und für Manager und für ganz alltägliche Dinge. Das Auto zum Beispiel. Wir können heute einem Auto nicht mehr so unbefangen begegnen, wie das die Menschen in den 50er Jahren konnten. Wir sehen in einem Auto nicht mehr nur Freiheit und Mobilität, sondern auch Umweltbelastung und Ressourcenverbrauch. Oder nehmen wir etwas so simples wie ein Stück Torte. Können Sie noch ein Stück Kirschtorte, ein Tiramisu oder ein Stück Nusstorte ansehen, ohne an die vielen Kalorien und den Zucker zu denken? Können Sie noch Wein trinken, ohne an Ihre Leber zu denken?

Was im Kleinen gilt, das gilt im Grossen noch viel mehr. Gut oder schlecht? Opfer oder Täter? Legitimer Befreiungskampf oder Terrorismus? Klare Urteile zu fällen, wird immer schwieriger. Egal, was Sie sagen, es wird nicht lange gehen, bis es wieder in Frage gestellt wird. Bis Sie es wieder in Frage stellen müssen. Im Stück von Ferdinand von Schirach sagt der Laienrichter, das Urteilen über Menschen komme ihm «deshalb heute nur noch wie eine grosse Dummheit vor». Denn nur wer dumm ist, kann die Widersprüche ausblenden.

Widersprüchlich sind dabei nicht nur die Gegenstände (und sowieso die Menschen), über die wir urteilen. Widersprüchlich sind auch die Urteilenden selbst. Denn jeder Mensch ist in sich selbst gefangen – und deshalb befangen. Ferdinand von Schirach nennt als Beispiel «Frühstück bei Tiffany». Truman Capote, der das Buch geschrieben hat, wollte für die Rolle der Holly Golightly unbedingt Marilyn Monroe. «Können Sie sich das vorstellen?», fragt von Schirach auf der Bühne. «Er wollte nicht Audrey Hepburn, sondern eine Frau, die in jeder Beziehung das Gegenteil war. Er hatte ein ganz anderes Holly-Golightly-Bild in seinem Kopf. Ein völlig falsches, wenn Sie mich fragen. Genau das ist der Zauber der Literatur – sein Bild spielt für mich keine Rolle.»

Und das ist, nebenbei bemerkt, die Kunst von Ferdinand von Schirach. Indem sein Schöffe auf der Bühne das Holly-Golightly-Bild im Kopf von Truman Capote als «völlig falsch» bezeichnet, urteilt  er natürlich und führt uns die Ambivalenz dieses Urteils vor Augen. Der Zauber der Literatur liegt dabei darin, dass dieses Urteil unerheblich ist, weil jeder sein eigenes Holly-Golightly-Bild im Kopf hat. Haben muss. Denn jeder Leser erschafft sich beim Lesen seine eigene Welt.

Das Problem ist nun, und das führt uns Ferdinand von Schirach danach vor Augen, dass das nicht nur beim Lesen so ist, sondern auch beim Leben: Jeder Mensch erschafft sich seine eigene Welt, weil er sich dabei auf Wahrnehmungen verlässt, die nur er hat, weil niemand sonst in seinem Körper steckt. Jedes Weltbild ist deshalb ein Konstrukt, es kann keine unbefangenen Urteile geben. Deshalb ist die Ambivalenz von Autos und Pablo Picasso, von Sachertorten und Woody Allen keine Überraschung, sondern nur logisch.

Leider ist diese Ambivalenz sehr anstrengend. Immer mehr Menschen haben deshalb Sehnsucht nach dem starken Mann (seltener übrigens nach der starken Frau). Einem Politiker, der aufräumt mit der Ambivalenz in der Welt, der klar sagt was gut ist und was schlecht, was richtig ist und was falsch. Der das Problem der Migration mit dem Vorschlaghammer löst wie einst Alexander der Grosse den Gordischen Knoten. Immer mehr Menschen haben Sehnsucht nach Klarheit, Halt und Sicherheit und wünschen die Ambivalenz zum Teufel.

Das Problem ist nur: Die offene Gesellschaft gibt es nicht ohne Ambivalenzen. In einer Demokratie besteht die Politik nicht aus Antworten, sondern vor allem aus Fragen. Und aus unterschiedlichen Perspektiven. Das gilt auch und gerade für die Schweiz mit ihren vielen Sachabstimmungen. Es kommt sehr selten vor, dass eine Abstimmung in einer Mehrheit von mehr als zwei Dritteln resultiert. Sehr häufig stehen sich zwei Gruppen gegenüber, die 55 und 45 Prozent der Stimmenden repräsentieren. Auf beiden Seiten gibt es kluge Leute, es gibt also immer Argumente dafür und dagegen. Denn die Welt ist ambivalent.

Doch auch die Ambivalenz hat Grenzen. Wenn es um den Menschen selbst geht, um seine Freiheit und damit um seine Würde und um die Menschenrechte, darf es keine Ambivalenz geben. Deshalb gehen dieser Tage in Deutschland plötzlich so viele Menschen auf die Strasse, die noch nie an einer Demonstration teilgenommen haben, und protestieren gehen Rechtsextremismus. Denn da hört die Ambivalenz auf. Es gibt Dinge, die gibt es nur ganz oder gar nicht. Die Schwangerschaft zum Beispiel. Eine Frau kann nicht «ein wenig» schwanger sein. Und so, wie es bei der Entstehung eines Menschen ist, so ist es später, wenn es um dessen Rechte, seine Freiheit und seine Würde geht. Über Pablo Picasso und Emil Nolde können wir streiten, über das Auto und die Sachertorte, über Handyantennen und Solarzellen. Aber nicht über das Menschsein.

Anders gesagt: Jeder Mensch mag die Welt anders wahrnehmen. Das ist die Ambivalenz. Aber dass jeder Mensch die Welt anders wahrnehmen und sich eine eigene Meinung bilden darf, das gehört zum Menschsein dazu. Das darf nicht infrage gestellt werden. Wer sich bewusst wird, dass jeder Mensch die Welt anders wahrnimmt, kann aufhören, über andere zu urteilen und so die Ambivalenz auch besser ertragen, weil er eingesehen hat, dass die Ambivalenz zwar anstrengend ist, aber zum Menschen gehört. Ohne Ambivalenz keine Menschen.

Einen Lichtblick gibt es übrigens. Wir sind zwar alle in uns und unseren Wahrnehmungen gefangen (und deshalb befangen), aber wir haben die Sprache. Auch wenn gerade Dichter der Sprache misstrauen – wir können es wenigstens versuchen, uns damit zu verständigen. Wie gut das funktionieren kann, wenn ein Dichter sein Sprachhandwerk beherrscht, führt uns Ferdinand von Schirach ein seinem Theaterstück über Ambivalenz vor. Dafür gibt es ein anderes Fremdwort: paradox. Ist das nicht wunderbar?

Basel, 26. Januar 2024, Matthias Zehnder mz@matthiaszehnder.ch

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Quellen

Bild: André Kowalski

Ferdinand von Schirach während der Uraufführung von «Regen» am 10. Oktober 2023 in der Philharmonie in Berlin.

Ferdinand von Schirach: Regen. Eine Liebeserklärung. Luchterhand, 112 Seiten, 28.90 Franken; ISBN 978-3-630-87738-9

2 Kommentare zu "Ferdinand von Schirach und die Ambivalenz"

  1. Gute Auslegeordnung anhand eines Theaterstückes des Begriffes „Ambivalenz“.
    1.) Was mir im gehobenen Text aufstösst ist der derbe Satz: «Denn nur wer dumm ist, kann die Widersprüche ausblenden.» Das finde ich «wüst». Denn wer über «Dumme» redet (ein Wort, das ich noch nie brauchte) kann selbst ja nur ein «Gescheiter» sein. Eine Überhöhung sich selbst auf Kosten einer Herunterstufung der anderen Mitmenschen.
    2.) Die Sprache sei ein Lichtblick. Sie schreiben richtig, sie sei bloss der Versuch, sich mit ihr zu verständigen. Denn Sätze, Vorträge (Pro und Contra irgendwas), Nachrichten (mit Schlagseite), Glaubenssätze ja gar Verse können ebenso Ambivalenz fördern, gar Verwirrung stiftend sein. Manchmal mehr wie «die Ruhe».

    Das Leben ist kompliziert, geschüttelt und gerührt. Ob mit den Händen arbeitend oder im Kopf. Und da beginnt es und endet es. Viel zu sagen darüber hat, irgendwie passend zu so viel geistigen Gedanken, Gerald Hüther, Neurobiologe, Pädagoge, Autor und Pädagoge
    https://de.wikipedia.org/wiki/Gerald_H%C3%BCther
    über welchen es auch im You-Tube viel interessantes zu sehen und hören gibt. Solche Menschen sind (m)ein Lichtblick in diesen Zeiten….
    NB: Schön das ich erfuhr, dass das Theater auch wieder mal etwas Lohnenswertes darbot. So lohnen sich meine massigen Steuersubventionen doch wieder. Ansonsten sind immer wie zirkusartige Darbietungen und viel Nacktheit bis hin zum Geschlechtsakt auf Bühnen (Zürich) und Ego-Shows angesagt. Und dies ist wortwörtlich «zum Davonlaufen». Denn Theater nur für Theaterintendanten ist einfach nur zu teuer.

  2. Ambivalenz kann bedeuten: sowohl – als auch. Und nicht: entweder – oder. Die gewohnte Politik beispielsweise versucht das Problem mit einer Mehrheitsabstimmung zu lösen: entweder richtig – oder falsch. So kann es kaum für alle und für alles gut werden. Ambivalenzen lassen sich auflösen, wenn es kokreativ gelingt, falsch und richtig unter einen Hut zu bringen: Es ist eine Kunst, für die es die Herzen braucht. Im Kopf der Wahrheit steckt oft ein Stück Lüge: und in der Lüge ein Stück Wahrheit. Im Zweifel lieber ungefähr richtig, als ganz genau falsch: sowohl – als auch.

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