Ist unsere Zeit krank?

Publiziert am 8. September 2016 von Matthias Zehnder

Vortrag gehalten als Festansprache anlässlich des 10. Geburtstags des Ärztenetzwerks Nordwestschweiz, am 8. September 2016 in Basel

Zunächst gratuliere ich sehr herzlich zum Jubiläum. Man liest ja im Moment allenthalben, dass Ärztenetzwerke das Gebot der Stunde seien und deshalb eine grosse Zukunft hätten – umso schöner, können Sie bereits auf so viel Vergangenheit zurückblicken. Herzliche Gratulation.

In den letzten Wochen habe ich immer wieder das Wort von der kranken Zeit gehört. Der Anlass war jeweils unterschiedlich:

  • Die Erfolge von Donald Trump in den USA oder die Wahlerfolge der Afd in Mecklenburg-Vorpommern
  • Die Anschläge von Nizza oder von Würzburg – und wie rechte Politiker diese Anschläge für ihre Agenda ausschlachten.
  • Die Negativzinsen und die Geldüberflutung der Wirtschaft durch die Europäische Zentralbank
  • Der Widerspruch zwischen der grassierenden Fettleibigkeit im Norden und dem Hunger im Süden

Immer wieder schütteln die Menschen die Köpfe und stellen fest: Wir leben in einer «kranken Zeit». Oder: Unsere Zeit ist einfach krank.

Die Zeit ist krank.

Geht das? Gibt es so etwas wie eine kranke Zeit? Wer macht sie krank? Kann man sie heilen? Was bedeutet das für uns alle im Allgemeinen? Für Sie als Ärzte, als Gesundheitsfachleute im Speziellen?

Die Feststellungen sind übrigens nicht ganz neu. Hören Sie sich mal diese beiden Diagnosen an:

„Wir leben in einer verwilderten kranken Zeit. Das Auge der Menschen flackert vor dem Angesichte der Natur und des Geistes, weil es sich von phantastischen Seelendünsten in haltloser Furcht und Hoffnung verwirren lässt.“
Oskar Loerke in einem Brief an Gerhart Hauptmann, etwa 1898

Gäb’s eine Presse, die als Arzt den Puls der kranken Zeit fühlt, anstatt als Spucknapf deren Auswurf zu übernehmen, sie zeigte jetzt ein sorgenvolles Gesicht.
Karl Kraus in „Girardi“, 1908

Interessante Sätze aber – für unsere Zeit müssen wir uns wohl selbst an eine Diagnose machen. Was wäre denn eine kranke Zeit? Was bedeutet es, wenn jemand sagt, die Zeit sei krank? Gibt es denn, wenn es eine kranke Zeit gibt, auch eine gesunde Zeit?

Anders gefragt: Welche Missstände unserer heutigen Zeit sind neu, sind heutige Missstände, Krankheiten unserer Zeit und welche Missstände gab es schon immer?

Kriege zum Beispiel gab es schon immer. Seit Kain den Abel erschlug, gehen die Menschen einander an die Gurgel. Nur die Mittel sind viel effizienter geworden – sie sind heute geradezu teuflisch effizient.

Doch auch Kriege in ihrer schlimmsten Form sind nichts Neues: Genozide gab es immer wieder. Cäsar zum Beispiel hat nicht einfach Krieg geführt, sondern mehrfach Völker geradezu vernichtet. Zum Beispiel die Germanischen Stämme der Tenkterer und Usipeter. Das Problem ist bloss: Wir kennen die Geschichte nur aus der Sicht von Cäsar. Die Tenkterer haben uns kein Buch hinterlassen.

Hungersnöte, Gewalt in allen Formen, Lüge, Niedertracht – alles schon dagewesen.

Was also ist neu? Wo hat es wesentliche Revolutionen gegeben?

Nun, die heute am meisten diskutierte Revolution ist nicht die französische, sondern die industrielle Revolution. Genauer gesagt: Es sind die vier industriellen Revolutionen, die alle nicht nur die Industrie betreffen, sondern die ganze Gesellschaft, das ganze Leben.

Erlauben Sie mir, Ihnen kurz die vier Revolutionen ins Gedächtnis zurückzurufen:

Die erste industrielle Revolution brachte die Mechanisierung. Ausgelöst wurde sie von der Erfindung der Dampfmaschine in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Die Folge war die Industrialisierung im 19. Jahrhundert. Sie krempelte Arbeitsbedingungen und Lebensverhältnisse der Arbeiterschicht komplett um.

Die zweite industrielle Revolution brachte die Massenproduktion. Ausgelöst wurde sie durch die Elektrifizierung ab Ende des 19. Jahrhunderts. Die Folge war die Fliessbandproduktion und eine starke Aufteilung der Arbeit in einzelne Schritte. Was das bedeutete, zeigte Charlie Chaplin im Film «Modern Times».

Die dritte industrielle Revolution brachte den Computer. Ausgelöst wurde sie durch die Erfindung des Mikrochips ab etwa 1970. Die Folge war eine weitreichende Automatisierung und die digitale Verfügbarkeit von Informationen, Musik, Bildern und Geld.

Jetzt befinden wir uns mitten in der vierten industriellen Revolution. Sie bringt selbstständig arbeitende Maschinen. Ausgelöst wurde sie durch die Verfügbarkeit von Artificial Intelligence und hochgradig vernetzten Systemen. Die Folge wird ein tiefgreifender Wandel von Arbeit, Industrie und Gesellschaft sein. Erste Anzeichen dafür sind der Kampf um Uber-Taxis, die Macht von Google und so genannte Smart Factories.

Kurz zusammengefasst:

  • Die erste industrielle Revolution brachte die Mechanisierung. Also die Kraft.
  • Die zweite industrielle Revolution brachte die Automatisierung. Also die Effizienz.
  • Die dritte industrielle Revolution brachte den Rechner. Also die Steuerung.
  • Die vierte industrielle Revolution bringt die Vernetztheit, die Smartheit, vielleicht die Intelligenz.

Kraft, Effizienz, Steuerung, Intelligenz – was bleibt dem Menschen? Ich komme auf diese Frage zurück.

Zunächst: Was sind die Folgen dieser Digitalisierung und Vernetzung?

Ein erster Aspekt:

Diese Vernetztheit, die digitale Verbundenheit mit der ganzen Welt, hat uns viele Dinge beschert. Wir können auf Knopfdruck dem amerikanischen Präsidenten zuhören, ein Ferienhaus auf Sylt buchen, Tee kaufen in England, per Video mit der Tante in Neuseeland schwatzen.

Anders gesagt: Die wichtigste Folge der Digitalisierung: Sie hat die Geographie abgeschafft. Die New York Times ist genauso schnell auf ihren Bildschirm geladen wie Haaretz, das Hamburger Abendblatt oder die NZZ. Der E-Shop in Berlin ist wie der E-Shop in Los Angeles, in Wien oder in Bern nur einen Mausklick weit entfernt.

Die Geographie ist abgeschafft.

Dafür hat der Mensch eine neue Errungenschaft: Die Telepräsenz. Sie sind nie mehr nur an einem Ort. Sie fahren an die Nordsee in die Ferien, können aber gleichzeitig im Büro sein. Das Handy oder das Notebook machen es möglich, dass Sie auf Sylt genauso arbeiten können wie im Büro. Sie sitzen zu Hause auf dem Sofa, können aber gleichzeitig ihre Kinder begleiten. SMS und WhatsApp sorgen für ständige Verbindung, für ständiges Mitgehen. Das ist Telepräsenz. Sie können immer auch anderswo sein, sind deshalb oft an mehreren Orten gleichzeitig – und sind vielleicht deshalb nie mehr ganz da.

Vielleicht ist es das, was unsere Zeit krank macht? Dass wir nie mehr ganz da sind, weil wir immer auch woanders sind? Dass wir nie mehr ganz sind? Dass wir nie mehr ganz sind?

Das also ist eine erste Folge der Digitalisierung und Vernetzung.

Ein zweiter Aspekt:

Haben Sie auch schon beobachtet, wie sich Eltern verhalten, wenn ihr Kind ein Konzert hat, gefirmt wird, irgendwo auftritt oder sonst etwas wichtiges erlebt? Was passiert? Die Eltern ziehen das Handy aus der Tasche, Mama fotografiert, Papa filmt. Weil der hat mehr Speicher auf dem Handy. Oder:

  • Familie macht Ferien. Was passiert?
  • Jugendliche gehen an ein Konzert. Was passiert?
  • Sie grillieren einen sensationellen Braten. Was machen Sie?

Wir verhalten uns im Alltag längst wie die Chinesen, die Europe in Ten Days buchen, vom Eiffelturm aufs Jungfrau Joch hetzen und dabei filmen und fotografieren, was das Zeug hält. Die sehen Europa nur durch den Sucher ihrer Kameras. Erst zu Hause auf dem Sofa sehen sie, was sie gesehen haben. Oder vielmehr: hätten sehen können, wenn sie nicht die Kamera vor den Augen gehabt hätten.

Bloss: Im richtigen Leben gibt es kein Sofa nach dem Leben. Wir halten die wichtigsten Momente im Leben fotografisch und filmisch fest, weil sie so wichtig sind – und verpassen es dadurch, die Momente zu erleben.

Vielleicht ist es das, was unsere Zeit krank macht? Dass wir nie mehr ganz da sind, weil wir immer eine Handykamera vor Augen haben? Dass wir nie mehr ganz sind? Dass wir nie mehr ganz sind?

Das also ein zweiter Apsekt.

Verstehen Sie mich recht: Ich bin kein Maschinenstürmer. Ganz im Gegenteil. Die Maschinenstürmer, die Ludditen, haben sich im 19. Jahrhundert gegen die Mechanisierung gewehrt, indem sie die Fabriken stürmten und die Maschinen zerstörten. Der bekannteste Fall eines Maschinensturms in der Schweiz ist der Usterbrand von 1832. Geholfen hat es – nichts.

Nein, ich bin kein Maschinenstürmer. Im Gegenteil. Ich bin nur schwer von meinem Handy zu trennen. Und trotzdem. Oder gerade deshalb.

Wie sagte einst Paracelsus: Die Dosis macht das Gift.

Diese Woche sind die Resultate einer neuen Studie zur Mediennutzung von Jugendlichen in der Schweiz veröffentlicht worden. Was meinen Sie – wieviel Zeit verbringt ein Jugendlicher in der Schweiz im Schnitt pro Tag vor dem Bildschirm, also mit Computer, Smartphone oder TV? Gemeint ist nur die Freizeit, also ausserhalb der Schule.

Unter der Woche sind es pro Tag im Schnitt 4,4 Stunden an Computer, Tablet, Smartphone oder TV, am Wochenende sind es sogar 7,4 Stunden pro Tag. Davon entfallen unter der Woche 2 Stunden 30 Minuten aufs Internet, am Wochenende sind es über 3 Stunden Internet.

Viereinhalb Stunden Bildschirm Pro Tag in der Freizeit – ist es das, was die Zeit krank macht?

Ich glaube, es trägt dazu bei. Die Dosis ist aber nur ein Aspekt dabei. Der andere Aspekt ist die Frage, wie wir mit den Techniken umgehen. Ein Fluglehrer hat mir einmal gesagt, beim Fliegen sei die Frage, ob Du das Flugzeug fliegst – oder das Flugzeug Dich. Das gilt auch für Computer, Handy und Internet: Wer führt wen? Sind wir die Piloten und steuern die Geräte – oder lassen wir uns von den Geräten steuern, führen, verführen?

Computer, Handy und Internet das Kommando zu überlassen, ist ganz einfach. Das Internet ist endlos. Es geht immer weiter. Die Algorithmen führen uns auf passende Seiten, schlagen uns passende Inhalte, passende Spiele vor. Es ist endlos. Und endlos schnell.

Besonders gut sehen wir das in der politischen Debatte, die sich über Internet und soziale Medien immer schneller dreht, endlos, ohne Pause, rund um die Uhr. Das hohe Tempo führt zu einer Überhitzung der Debatte, plötzlich zählen Emotionen statt Fakten, wir werden mitgerissen in einen Strudel von Meinungen und Befürchtungen, Ahnungen und Ängsten. Plötzlich sind wir nicht mehr die Piloten unserer Medien, sondern sitzen im Fahrgastraum und rasen hinein in den dunklen Tunnel, über den Dürrenmatt einst so packend geschrieben hat und der heute, an unseren Bildschirmen, drastische Realität geworden ist.

Wer einmal eine Angst entwickelt hat, ganz egal, ob vor Flüchtlingen, vor dem Islam, vor der Vogelgrippe, vor den Chemtrails, tendiert dazu, Nachrichten stärker wahrzunehmen, die seine Angst bestärken – und Nachrichten zu misstrauen, die sie entkräften. Man spricht in diesem Zusammenhang von einer Filterbubble, in der man sich bewegt – ich spreche lieber von einem Tunnel. Dem Tunnel der Angst. Viele von uns sind heute in einem solchen Tunnel unterwegs.

Vielleicht ist es tatsächlich das, was unsere Zeit fiebrig und krank macht.

Was jetzt? Wie machen wir uns, wie machen wir die Zeit gesund?

Setzen wir die verschiedenen Aspekte zusammen:

Ich habe vorher erstens festgestellt, dass die vier Revolutionen die Kraft, die Effizienz, die Steuerung und die Intelligenz gebracht bzw. übernommen haben und gefragt – was dem Menschen bleibt.

Ich habe zweitens festgestellt, dass die Menschen nie mehr ganz da sind, weil sie immer auch woanders sind.

Ich habe drittens vom Sog der Technik gesprochen, vom Tempo im Tunnel, von der Fiebrigkeit der sozialen Medien.

Wenn die Maschinen Kraft und Intelligenz übernehmen, also Kopf und Hand, dann bleibt dem Menschen nur das Herz – die Seele, wenn sie so wollen.

Der Mensch lebt im Hier und Jetzt. Von Meister Eckhart stammt der Satz: Die wichtigste Stunde ist immer die gegenwärtige. Das Jetzt. Hier. Der Augenblick.

Was den Menschen ausmacht, ist nicht das Ich, sondern das Du, das Gegenüber, die Empathie, das Kümmern, Sorgen, Lieben. Sie brauchen dazu Kopf und Hand, es kommt aber vom Herzen.

Kurz: Es kommt drauf an, was hier und jetzt von Herzen kommt.

Deshalb glaube ich: Wenn wir die Zeit heilen wollen, müssen wir wieder mehr auf unsere Herzen hören. Hier, jetzt, immer.

Damit Sie sich nachher um Ihre Herzen kümmern können, müssen Sie sich aber jetzt zuerst um Ihre Mägen kümmern. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen guten Appetit.

Vortrag gehalten als Festansprache anlässlich des 10. Geburtstags des Ärztenetzwerks Nordwestschweiz, am 8. September 2016 in Basel

Was die 4. industrielle Revolution für den Menschen bedeutet

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