Vortrag über Arnold Böcklins „Selbstbildnis im Atelier“, 1893

Publiziert am 26. Januar 2016 von Matthias Zehnder

Wir leben in einem Zeitalter, das gerne als das narzisstische bezeichnet wird, weil viele Menschen um sich selbst kreisen. Der Gestus, der zu diesem Zeitalter gehört, ist das Selfie, das Selbstportrait mit dem Handy. Beobachten Sie einmal Jugendliche, die ein Selfie schiessen, wie sie mit der Kamera im Handy flirten und mit den Augen das vorgestellte Publikum anschmachten. Sie sind sich der eigenen Wirkung und der Funktionsweise des Mediums, das sie benutzen, bis ins Detail bewusst.

Wir stehen hier vor drei historischen „Selfies“, die bezüglich dieser Bewusstheit des Publikums unterschiedlicher nicht sein könnten.

Selbstportrait Van GoghLinks sehen Sie das „Selbstbildnis mit Japanischem Druck“ von Vincent van Gogh, gemalt im Dezember 1887. Es ist ein Selbstportrait als Auseinandersetzung mit sich selbst. Das Publikum kommt in diesem Bild nicht vor, van Gogh konnte nicht damit rechnen, dass dieses Bild je Beachtung finden würde. Sein Gesicht war für ihn wohl mehr Aufgabe, das Portrait also eher Resultat einer Etüde als Selbstdarstellung.

HodlerSelbstportraitRechts ein „Selbstbildnis“ von Ferdinand Hodler aus dem Jahr 1912. Anders als van Gogh hat Hodler sein Gesicht wohl nicht nur einfach als Aufgabe gesehen, sondern die Selbstportraits gezielt zur Selbstpositionierung genutzt. Er hat sich selbst immer wieder gemalt und sich dabei stark stilisiert. Verschönert. Sein Gesicht ist ihm also nicht Aufgabe, sondern Ausgangspunkt einer Selbstfiktion, einer Selbststilisierung im Hinblick auf ein Publikum.

Schliesslich in der Mitte Arnold Böcklin. Sein letztes Selbstportrait.

 

BoecklinSelbstportrait

Das bekannteste Selbstportrait von Böcklin ist das Selbstportrait mit fiedelndem Tod. Es ist zweifellos spektakulärer als dieses Bild. Totzdem ist mir persönlich dieses Bild wichtiger, weil es viel über Böcklin und das Verhältnis zu seiner Heimatstadt aussagt.

Entstanden ist das Bild 1893. Tauchen wir kurz ein in dieses Jahr 1893.

Das Jahr 1893…

  • Am 23. Februar…
    …erhält Rudolf Diesel ein Patent auf „Arbeitsverfahren und Ausführungsart für Verbrennungskraftmaschinen“, heute bekannt als Dieselmotor.
  • Am 20. August…
    …wird in der Schweiz die Volksinitiative zur Abschaffung des Schächtens angenommen.
  • Am 29. August…
    …erhält der amerikanische Tüftler Whitcomb Judson ein Patent auf eine Verschlusstechnik namens clasp-locker, heute bekannt als – Reissverschluss.
  • Am 19. September…
    …führt Neuseeland als erster neuzeitlicher Staat das Frauenwahlrecht.
  • Am 15. November…
    …besonders wichtig: wird der FC Basel gegründet.

 

1893 werden geboren:

  • am 12. Januar…
    …Hermann Göring, späterer Generalfeldmarschall und Nummer Zwei im Dritten Reich
  • am 20. April…
    …der spanische Maler Joan Miró
  • am 30. Juni…
    …Walter Ulbricht, später Staatsratsvorsitzender der DDR
  • am 26. Juli…
    …der deutsche Maler George Grosz
  • am 28. Juli…
    …der Schweizer Schriftsteller Meinrad Inglin,  der Autor des Schweizerspiegel

 

1893 sterben:

  • am 6. Juli…
    …der französische Schriftsteller und Dichter Guy de Maupassant
  • am 18. Oktober…
    …der französische Komponist Charles Gounod
  • am 6. November…
    …der russische Komponist Pjotr Tschaikowski

 

Ereignisse aus Kunst und Literatur im Jahr 1893:

  • Edvard Munch malt die erste Version seines Gemäldes Der Schrei.
  • In Venedig findet die erste Biennale statt
  • In Deutschland erscheinen die ersten drei Bände „Winnetou“ von Karl May
  • Das Theaterstück „Anatol“ von Arthur Schnitzler wird uraufgeführt.

Das also ist das Jahr 1893

Arnold Böcklin ist jetzt 66 Jahre alt

Biografische Situation

Nach vielen Ortswechseln – Basel und Rom, Weimar und München, Florenz und Zürich – hat sich Arnold Böcklin wieder in Italien niedergelassen. Er ist gesundheitlich angeschlagen. Am 14. Mai 1892 hat ihn ein erster Schlaganfall getroffen, vielleicht handelt es sich aber auch um eine akute Kreislaufstörung, verursacht durch übermässiges Rauchen und Trinken.
Item: Böcklin ist nicht mehr fit.

Anfang Juli 1893 reist er mit seiner Frau Angela zur Erholung an die italienische Riviera, nach Viareggio, Forte dei Marmi und
San Terenzo. Das ist südlich der Cinque Terre, grob gesagt also zwischen Genua und Livorno, ungefähr auf der Höhe von Florenz, an der Westküste Italiens.

Dieser Teil der Küste wird für die späteren Jahre Böcklins Lieblingsaufenthalt. Vom Golf von Spezia stammen auch viele Motive zu den späteren Küstenbildern wie der „Überfall von Seeräubern“, die „Ruine am Meer“ und die „Kapelle“ am Meer.

Anfangs 1893 bezieht er zunächst die Villa Torre Rossa in Fiesole. Von April bis November 1893 wohnt er wieder in San Terenzo und malt dieses Selbstbildnis der Basler Sammlung. Er hat die Folgen seiner schweren Erkrankung glücklich überwunden, beherrscht, wie wir unschwer sehen, wieder die Fertigkeiten der Hand.

Schauen wir uns das Bild etwas genauer an

Seine Gesichtszüge sind gelassen, sie zeigen keine Spuren vorangegangener Lähmungserscheinungen. (Zumindest hat Böcklin keine Spuren gemalt.)

Böcklin trägt

  • eine grob karierte Sommerhose
  • eine auberginefarbene Weste, nur der oberste Knopf ist geschlossen, gegen unten öffnet sie sich die Weste leicht und macht ein gelbes oder goldenes Innenfutter sichtbar
  • ein zerknautschtes Tüchlein guckt aus der Jacketttasche
  • über die locker geschlungenen Krawatte hängt die Kette des Zwickers.
  • Bart und Haare wirken gepflegt, nach der Art eines
    Offiziers a.D.
  • Die Stirn ist nicht locker und glatt, sondern gerunzelt, die Brauen etwas zusammengezogen

Böcklin schaut den Betrachter nicht an, er schaut, von uns aus gesehen, rechts an ihm vorbei oder besser: rechts über ihn hinweg. Der Torso ist, fast wie auf einem aegyptischen Bild, frontal abgebildet, das Gesicht leicht abgewendet.

In der rechten Hand hält er einen Pinsel, in der linken die Palette. Sie erinnern sich: Im Jahr, als das Bild gemalt wurde, ist der FCB gegründet worden – und auf der Palette des Malers befinden sich die Farben Rot und Blau. > Das kann kein Zufall sein, oder?

Im Hintergrund verdeckt ein grüner, etwas zerschlissener Samtvorhang ein Regal.

Auf der Staffelei steht ein Selbstportrait, mit Rötel sind darauf die Züge des Malers abgebildet. Er hat sich dabei im Profil gezeichnet. Wir sehen Böcklin auf dem Bild also sowohl von vorne, wie im Profil.

Dieses Selbstportrait ist sein letztes. Es ist ein Auftrag der Basler Kunstkommission für die Öffentliche Kunstsammlung Basel. Böcklin malt sich also im Bewusstsein, dass die Basler Kunstwelt sein Bild anschauen wird, dass die Basler im (heutigen) Kunstmuseum vor diesem seinem Bild stehen werden, so, wie wir heute vor ihm stehen.

Böcklin präsentiert sich auf dem Bild also so, wie er in seiner Heimatstadt gesehen werden will. Er kalkuliert wohl sehr genau, was er trägt und wie er wirkt.

Also: Wie wirkt er?

  • Ein erfolgreicher Grandseigneur der Kunst
  • Man hat fast den Eindruck, dass wir, indem wir ihn anschauen, ihn stören
  • Da ist also der erfolgreiche Maler, den einen störenden Auftrag aus seiner Heimatstadt erhalten hat.
  • Es ist ein Mann, der es nicht mehr nötig hat, seiner Heimatstadt zu gefallen, weil er längst in der ganzen Welt erfolgreich ist.

Bei den Baslern kommt die lässige Haltung nicht gut an. Man kritisiert den unschicklichen Anzug des Malers, die karierte Sommerhose, das zerknautscht eingesteckte Tüchlein.

Mit anderen Worten: Böcklins Botschaft wird in Basel verstanden.

Arnold Böcklin, 1827 in Basel geboren, hatte es nicht einfach in seiner Heimatstadt. Lange war seine Malerei den Baslern zu bunt, zu gegenständlich und gleichzeitig zu fantastisch. Erst als er in 1859 in München mit «Pan im Schilf» grosse Anerkennung fand, versöhnte sich auch Basel langsam mit ihm.

1862 erteilt ihm die Kunstkommission den ersten grossen Auftrag zu «Jagd der Diana» – allerdings erst, nachdem die Herren der Kunstkommission sich anhand von Skizzen von der «Tauglichkeit» des Bildes überzeugt hatten.

1893 ist Böcklin längst berühmt, ein Star, er hat die Anerkennung aus der Heimatstadt materiell nicht mehr nötig. Sie ist ihm aber zweifellos eine Genugtuung.

So schaut er auf seinem Selbstportrait in unsere Richtung, aber er schaut uns nicht an.

Er hat sich uns, seinem Publikum zugewendet, als wolle er sich nach einer Störung umsehen. Sein Blick schaut in eine Ferne, er schweift über die Köpfe des vorgestellten Publikums hinweg, das vor dem Bild im Basler Kunstmuseum steht. Wie wir heute.

Auf der Staffelei steht ein angefangenes Bild, darauf sind die Umrisse eines Selbstporträts im Profil zu sehen. Böcklin malt sich also beim Malen eines (anderen) Selbstporträts.

Wir Basler haben ihn bei der Beschäftigung mit sich selbst gestört. Wir lenken ihn von sich ab.

Zwei Jahre, nachdem dieses Bild entstanden ist, im April 1895, bezieht Böcklin eine eigene Villa Bellagio in San Domenico bei Fiesole. Acht Jahre später, am 16. Januar 1901, stirbt er in seiner Villa. Sein Tod wird Anlass zu Kundgebungen in Deutschland, der Schweiz und Italien.

Obwohl er auf der Münchner polizeilichen Anmeldung als katholisch vermerkt ist, wird er auf dem protestantischen Campo santo degli Allori bei Florenz begraben.

Das Selbstporträt oder eben: das Selfie von Arnold Böcklin spricht mich an, weil sich daraus viel über seine komplizierte Beziehung zur Stadt Basel herauslesen lässt. Es ist ein Bild, das in sich viele Perspektiven beinhaltet:

  • Den Blick von uns, den Betrachtern, auf das Bild
  • den Blick des abgebildeten Malers auf sein vorgestelltes Publikum
  • sein Blick auf sich selbst auf der Staffelei.

Es ist ein Bild, das Basel enthält, ohne es abzubilden.

Es ist ein Bild, das uns vor Augen führt, dass es die Wirklichkeit nicht gibt, dass es Wirklichkeit immer nur aus einer bestimmten Perspektive gibt.

Es ist ein Bild aus der Perspektive von Arnold Böcklin.

***

Vortrag gehalten am 22. Januar 2016 im Rahmen von Persönlichkeiten reden auf Einladung der Freunde des Kunstmuseums Basel vor einer Wand mit den Selbstportraits von Vincent van Gogh, Ferdinand Hodler und Arnold Böcklin in der Ausstellung Von Cézanne bis Richter im Museum für Gegenwartskunst.

Ein Kommentar zu "Vortrag über Arnold Böcklins „Selbstbildnis im Atelier“, 1893"

  1. Danke für die Betrachtung und die geschichtlichen Bezüge, das der Reissverschluss zeitgleich patentiert wurde ist erstaunlich.
    Dieses Selbstporträt ist auf der Rückseite abgebildet des 2014 erschienenen historischen Roman „Carissima mia! Die Frau des Malers Arnold Böcklin“ von Helen Liebendörfer.
    In Basel war es schwierig, der Professor Jakob Burckhardt hat ihm vorgeschrieben, was und wie er darstellen soll an den Wänden im Augustinermuseum. Die Basler sind gut dargestellt im Buch. Auch sonst ein spannendes Buch, in Dialoge gesetzt.

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