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Betrug

Publiziert am 18. Januar 2024 von Matthias Zehnder

Es gibt Bücher, in die kann man eintauchen wie in eine Schüssel Schokoladenpudding. Oder wie in ein Schaumbad. Dann gibt es Bücher, die sind eher wie Kokosnüsse: Aussen ist die Schale zwar hart, hat man sie aber durchbrochen, wartet ein zartschmelzender Genuss. So gesehen war der neue Roman von Zadie Smith für mich ein Granatapfel-Erlebnis. Ich hatte zu Beginn etwas Mühe damit, die Struktur zu begreifen und in die Geschichte hineinzufinden. Als die Frucht aber geknackt war, habe ich mit grossem Genuss die kurzen Kapitel gelesen – eben so, wie man die einzelnen Kerne aus einem Granatapfel pulen und geniessen kann. «Betrug» heisst der Roman. Hauptfigur der Geschichte ist Eliza Touchet, angeheiratete Cousine, zeitweilige Geliebte und Haushälterin des etwas abgehalfterten Schriftstellers William Ainsworth. Der Roman dreht sich um einen Gerichtsfall rund um einen Betrug, der 1871 die Öffentlichkeit in ihren Bann zieht, den «Tichborne-Case». Vor allem aber geht es um die Frage, wie England zur Sklaverei steht und jene Menschen behandelt, die dafür sorgen, dass die Briten ihren geliebten Tee mit Zucker von ihren Plantagen auf Jamaika süssen können. Um den «Betrug» den Schriftsteller begehen, wenn sie Geschichten erfinden – und um die Fassade der englischen Gesellschaft. In meinem 187. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum es sich lohnt, diesen teils wirklich lustigen Roman zu lesen. Ich gebe Ihnen dafür einige Informationen, die Ihnen helfen, diesen «Granatapfel» von einem Roman einfacher zu knacken, damit Sie gleich von Beginn an Freude an den süssen Kernen haben.

Beginnen wir mit den Äusserlichkeiten: Das Buch von Zadie Smith ist, wie ein viktorianischer Roman, in acht Bände aufgeteilt, die jeweils aus Dutzenden sehr kurzen Kapiteln bestehen. Ein Kapitel ist dabei selten länger als zwei Seiten. Zu Beginn ist vor allem verwirrend, dass der Roman zwischen zwei Zeitebenen hin- und herwechselt: Die erste Ebene spielt in den 1830er-Jahren, als die Briten mit dem Slavery Abolition Act die Sklaverei per Gesetz abschafften. Die zweite Zeitebene spielt in den 1870er Jahren, als ein Betrugsprozess rund um einen Hochstapler England in Atem hielt.

Der Titel des Romans, «Betrug» bezieht sich denn auch, wenigstens auf den ersten Blick, auf diesen Hochstapler. Der Fall ist real. Roger Charles Tichborne, geboren 1829, war der älteste Sohn und damit der Erbe eines reichen, britischen Adligen. Im April 1854 reiste dieser Roger Tichborne auf einem Schiff namens «Bella» von Rio de Janeiro nach Kingston auf Jamaika. Allerdings kam das Schiff nie auf Jamaika an. Mutmasslich ist es mit Mann und Maus untergegangen. Weder vom Schiff noch von seinen Passagieren ist auch nur die geringste Spur übrig geblieben. Die Mutter von Roger, Lady Tichborne, weigerte sich deshalb, den Tod ihres Sohnes zu akzeptieren. Sie war überzeugt, dass ein anderes Schiff die Passagiere der «Bella» an Bord genommen und nach Australien gebracht habe.

Als 1862 ihr Mann starb, begann Lady Tichborne, intensiv nach ihrem Sohn zu suchen. Sie inserierte in Zeitungen, sammelte Informationen und nahm Kontakt zu einem auf Vermisste spezialisierten Büro in Australien auf. Tatsächlich meldete sich ein Mann aus dem Südosten Australiens, er sei Roger Tichborne. Dieser Mann, ein grobschlächtiger, ungebildeter Metzger namens Arthur Orton, hatte rein gar nichts mit Roger Tichborne zu tun und er sah dem schmalen, feingliedrigen Adeligen auch in keiner Weise ähnlich. Aber es ging um eine jährliche Rente von 20’000 Pfund. 1866 reiste dieser «Anwärter», wie er genannt wurde, nach Paris. Lady Tichborne traf ihn da und anerkannte ihn als ihren Sohn. Kurz darauf starb sie. Das löste eine epische, gerichtliche Auseinandersetzung zwischen den Erben der Tichbornes und dem australischen Metzger aus. Die Medien berichteten breit über den Fall. Vor allem die englische Unterschicht nahm dabei stark Partei für den «Anwärter». Sie wollten in ihm den verschollenen Sohn sehen und schlugen alle anderslautenden Beweise in den Wind.

Der Prozess gegen den australischen Hochstapler ist der Dreh- und Angelpunkt des Romans. Darum herum hat Zadie Smith eine höchst unterhaltsame Geschichte gesponnen und dabei geschickt historische Fakten und Fiktion miteinander verwoben. Es beginnt mit den beiden Hauptfiguren des Romans, Eliza Touchet, die im ganzen Buch immer Mrs. Touchet genannt wird, und William Harrison Ainsworth. Beide haben tatsächlich gelebt. William Ainsworth hat 31 historische Romane geschrieben. Als junger Mann galt Ainsworth als der englische Victor Hugo. Einer seiner Romane hat sich kurze Zeit sogar besser verkauft als «Oliver Twist» von Charles Dickens. Während Dickens zum Liebling der englischen Leser aufstieg, geriet Ainsworth aber immer mehr in Vergessenheit.

Zadie Smith beschreibt, wie seine Häuser immer kleiner und seine Schulden immer grösser werden. Wie die Verleger sich nicht mehr um seine Bücher reissen, sondern im Gegenteil lieber nichts mehr mit seinen Manuskripten zu tun haben wollen. Wie Ainsworth sich in die imaginäre Vergangenheit seiner historischen Romane zurückzieht, einer Vergangenheit an Orten, die er selbst auch nur aus Büchern kennt. Das ist die zweite Bedeutung, die der Titel «Betrug» hat: Ist das echt, was Ainsworth schreibt? Seine Freude, ja Lust beim Schreiben ist es zweifellos. Aber ist es nicht Betrug am Leser, wenn er einen historischen Roman schreibt, der auf Jamaika spielt, die Insel aber nur aus Büchern kennt?

Zumal sich sein Wissen auf eine Streitschrift stützt, die Eliza Touchet gut kennt. Die streitbare Cousine, Teilzeit-Geliebte und rettende Haushälterin im Hause Ainsworth hat sich auf der ersten Zeitebene des Romans mit der ersten Frau von Ainsworth für den Abolitionismus interessierte. Das war eine soziale und politische Bewegung im 19. Jahrhundert, die sich gegen die Sklaverei und für die Abschaffung des Sklavenhandels einsetzte. England verbot beides per Gesetz. Das Land machte sich vor, damit genug für die Sklaven getan zu haben und ignorierte geflissentlich, dass der Reichtum der Insel in wesentlichen Teilen auf der Ausbeutung der Menschen in den Kolonien beruhte. In einem Gespräch mit Kollegen im Hause Ainsworth 1830 steht die Entschädigung der Plantagenbesitzer im Zentrum, die ihnen England nach der Abschaffung der Sklaverei bezahlen muss. Haushälterin Touchet bedient und hört mit:

«Unten, musste sie feststellen, hatte sich das Tischgespräch der Politik zugewandt.
‹Ein schweres Los für die Plantagenbesitzer›, bekundete Horne gerade. ‹Was immer wir sonst von ihnen halten mögen, sie bestreiten damit schliesslich ihr Auskommen, und nun müssen sie erfahren, dass ihnen in genau vier Jahren, Schlag Mitternacht, alles auf einen Streich genommen werden soll. Angesichts dessen erscheint eine gewisse Entschädigung für die Besitzer nur angemessen.›
‹Zwanzig Millionen Pfund sind ja wohl etwas mehr als angemessen!›, wandte Maclise ein, worauf Forster entgegnete: ‹Aber leider doch unvermeidlich›, und sein Busenfreund Charles ihm umgehend beisprang, so wie sie es stets zu handhaben schienen: ‹Sicher ist das alles ein abscheulicher Vorgang. Gottlos und unmenschlich, wie es Wilberforce bereits vor zwanzig Jahren aufgezeigt hat. Deshalb wurde der Handel ja auch abgeschafft, Gott sei Dank. Und diese himmelschreienden zwanzig Millionen sind nun hoffentlich zumindest das Letzte, was wir davon noch hören. Ich für meinen Teil habe es gründlich satt, davon zu hören. Es mangelt uns schliesslich nicht an heimischen Problemen, auf die wir das Augenmerk richten könnten …›
‹Ah, Mrs. Touchet! Wie sieht es denn nun aus mit dem Port …›» (S. 151)

Kommt Ihnen das bekannt vor? Im Zentrum der Diskussion stehen die Plantagenbesitzer und ihr wirtschaftliches Fortkommen, das durch das Sklavereiverbot gefährdet ist. Mitleid mit den Sklaven spielt keine Rolle. Es geht nur um die Unternehmen. Genau so diskutieren wir heute über Bauernbetriebe und Umweltschutz, über Autofabriken und Klimaauflagen.

Ainsworth blendet diese Auseinandersetzungen aus und schreibt einen Roman über Jamaika, ohne die Menschen und ihre Probleme zu kennen. Ist das Betrug? Eliza jedenfalls ist das Gewerbe der Schriftsteller suspekt. Wie sie einzelne Versatzstücken aus der Wirklichkeit stehlen und in ihrer Phantasie zu einer erfundenen Welt zusammenbauen. Was, nota bene, genau das ist, was Zadie Smith mit ihrem Roman macht. Eliza selbst ist auch davon betroffen. Sie ertappt sich bei einem Lächeln, als sie sich in einem Buch von Ainsworth selbst begegnet, …

«… angesichts der Beschreibung einer gewissen Eliza, einer schwarzhaarigen, mysteriösen Frau, die der Ich-Erzähler von ‹Mary Stukely›, ein notorischer Bigamist, einfach heiraten muss, obwohl er längst mit der ‹schönen Mary› vermählt ist:
‹Sie überragte die meisten, besass ein gebieterisches Auftreten und das ausdrucksvollste Antlitz, das ich wohl jemals erblicken durfte. Sie mochte nicht das sein, was viele als schön erachten, doch ich weiss von keinem Menschen, der ihre Kraft besass, bereits auf den ersten Blick zu fesseln. Auch liess sich eine schlummernde Spur dunklerer Begierden erahnen …›» (S. 36)

So beschreibt Ainsworth Eliza in einem, übrigens echten, Zitat. Oder ist es doch von Zadie Smith erfunden? Der reale William Ainsworth hatte tatsächlich eine Haushälterin namens Eliza Touchet. Allerdings starb sie einiges früher als im Roman. Zadie Smith schildert also das Leben, das Eliza Touchet hätte führen können, wenn sie länger gelebt hätte. Auch das eine Imagination. Oder ein Betrug?

Zadie Smith erzählt in ihrem Buch also mindestens drei Betrugsgeschichten.

  1. der Tichborne-Skandal mit dem Hochstapler aus Australien, für den das Volk schwärmt
  2. der Selbstbetrug der Briten im Zusammenhang mit der Sklaverei
  3. der Betrug der Leser durch Ainsworth und andere Schriftsteller, vielleicht auch durch Zadie Smith

Alle drei Themen drehen sich letztlich darum, dass ein Betrug nur funktioniert, wenn genügend Menschen sich betrügen lassen wollen – oder sich selbst betrügen. Die meisten Menschen dürften gemerkt haben, dass der grobschlächtige, australische Metzger nie und nimmer ein feingliedriger, adeliger Nachfahre der Tichbornes sein kann. Wer auch nur ein bisschen denken kann, muss wissen, dass sich die Lebensverhältnisse der Sklaven zum Beispiel auf Jamaika nicht über Nacht ändern – und die Briten nur mit einem neuen Gesetz keine guten Menschen werden. Wer Romane liest, weiss, dass er letztlich an der Nase herumgeführt wird. Eigentlich geht es also in dem Buch nicht um die Betrüger, sondern um die Betrogenen, um die Selbstbetrüger. Es ist oft so viel einfacher, interessanter und angenehmer, sich betrügen zu lassen, als einer Sache auf den Grund zu gehen. Wie Eliza Touchet das versucht. Nur um festzustellen, dass die Rente, die sie von ihrem verstorbenen Mann bezieht, auf einem Vermögen beruht, das im Sklavenhandel entstanden ist. «Touché», witzelt Charles Dickens im Buch. Auf Deutsch: berührt, getroffen. Ein Punkt für Zadie Smith. Oder besser: mehrere!

Zadie Smith: Betrug. Roman. Übersetzt von Tanja Handels. Kiepenheuer & Witsch, 528 Seiten, 36.90 Franken; ISBN 978-3-462-00544-8

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783462005448

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 18. Januar 2024, Matthias Zehnder

Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier: https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/

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