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Wo die Wölfe sind

Publiziert am 19. Juli 2022 von Matthias Zehnder

Sommer, Ferien, Reisezeit. In meiner literarischen Sommerserie entführe ich Sie mit einer Reihe von spannenden Romanen und Krimis an interessante Orte auf der ganzen Welt. Diese Woche geht es nach Schottland. Hier, in den Cairngorms Mountains, leitet die australische Biologin Inti Flynn ein Wolfsprojekt: Zusammen mit ihrem Team will sie im Norden der schottischen Highlands Wölfe ansiedeln. Die Wölfe sollen das natürliche Gleichgewicht in den Wäldern wiederherstellen. Doch die Einheimischen wehren sich, gegen die Raubtiere und auch gegen die ausländischen Wissenschaftler. Die Situation eskaliert, als mehrere Schafe gerissen werden und sogar ein Mann verschwindet. In der Kälte des schottischen Winters droht ein hitziger Kampf um die Wölfe – und um die Frage, was wild ist und was böse. In meinem 113. Buchtipp sage ich Ihnen, warum sich die literarische Reise in die schottischen Highlands lohnt.

 

Wir kennen das aus der Schweiz zur Genüge: Der Wolf gilt als das böse Tier schlechthin. In den Märchen der Gebrüder Grimm verkörpert der Wolf das Böse geradezu, etwa in «Rotkäppchen» oder in «Der Wolf und die sieben Geisslein». Doch dass der Wolf so böse sei, das ist selbst ein Märchen: Wölfe stellen im Wald das ökologische Gleichgewicht wieder her. Das zeigen etwa Forschungen im Yellowstone-Nationalpark: Hier wurden vor über 25 Jahren die Wölfe wiederangesiedelt. Die Raubtiere haben sich als stabilisierende Kraft erwiesen. Sie merzen schwache und kranke Hirsche aus und schaffen so starke und widerstandsfähigere Hirsch-Herden. Weil sie das Wild in Bewegung halten, kann sich zudem der Wald besser erholen. 

Genau diese Effekte erhoffen sich im Roman von Charlotte McConaghy die Wissenschaftler rund um Biologin Inti Flynn von der Wiederansiedlung der Wölfe im Norden von Schottland: Sie wollen im Nordosten von Schottland die Wälder der Cairngorms Mountains wiederbeleben, indem sie mehrere Wolfsrudel auswildern. Wie überall auf der Welt kommt es dabei zum Konflikt mit den Menschen, den Viehzüchtern und Bauern, die den Wolf für böse halten.

Die junge Biologin denkt nicht nur anders über die Wölfe und die Natur, sie empfindet sie auch anders. Denn Inti ist anders als die meisten Menschen. «Um es zu erklären, bezeichnet man es als neurologische Störung. Mirror-Touch-Synästhesie. Mein Gehirn spürt die sinnlichen Eindrücke anderer Lebewesen, aller Menschen und sogar mancher Tiere; was ich sehe, spüre ich auch, und für einen kurzen Augenblick werde ich dann zu ihnen, wir werden eins, und ihr Schmerz, ihr Genuss ist auch der meine. Das kann wie Zauberei wirken, und dafür hielt ich es auch lange, aber in Wahrheit ist es gar nicht so weit davon entfernt, wie sich andere Gehirne verhalten: Sieht man, dass jemand Schmerz empfindet, reagiert man körperlich darauf, indem man sich verkrampft, zurückschreckt oder zusammenzuckt. Wir alle sind fähig zur Empathie. Früher einmal freute ich mich daran, zu empfinden, was andere empfanden. Heute erschöpft mich dieser stete Strom sinnlicher Informationen. Heute würde ich alles darum geben, davon befreit zu sein.» (S. 18)

Weil sie fähig ist, so extrem nachzuempfinden, was andere Menschen, Tiere und sogar Pflanzen spüren, verbindet sich Inti Flynn stark mit der Natur und wird manchmal sogar eins mit ihr. Auch mit ihren Wölfen: Inti hat nicht selten etwas Wildes an sich. Das hat auch damit zu tun, dass sie zeitweise in den kanadischen Wäldern aufgewachsen ist: Ihr Vater hat da gelebt, in enger Verbundenheit mit der Wildnis. Ihre Mutter ist ganz anders: Sie arbeitet in Australien als Polizistin in der Abteilung für Gewaltverbrechen. Sie hat den Glauben an die Menschen verloren und sieht überall nur noch das Böse. Vater und Mutter haben es deshalb nicht lange beieinander ausgehalten. Schon in der Kindheit von Inti Flynn kommt es deshalb zum Gegensatz zwischen wild und böse.

Inti hat eine Zwillingsschwester, Aggie. Mit ihr lebt sie in einer symbiotischen Beziehung. Aggie ist mitgereist nach Schottland. Während Inti durch die Wälder streift und ihre Wölfe hegt, bleibt Aggie im Cottage. Sie getraut sich nicht, das Haus zu verlassen. Sie hat eine Beziehung mit einem gewalttätigen Mann hinter sich. Der Mann hat sie missbraucht, geschlagen, ja gefoltert. Aggie hat es darüber die Sprache verschlagen, sie kommuniziert mit Inti nur noch in der Zeichensprache ihrer Kindheit. 

Auch in Schottland begegnet Inti gewalttätigen Männern. Ein Nachbar schlägt ganz offensichtlich seine Frau spitalreif. Niemand tut etwas dagegen. Ausgerechnet dieser Mann wehrt sich vehement gegen die Wölfe. Die Wölfe folgen nur ihrer Natur, wenn sie ein Tier reissen. Sie sind wild. Was ist mit den gewalttätigen Männern? Folgen die auch ihrer Natur, wenn sie ihre Frauen schlagen? Oder sind nicht sie es, die böse sind?

Auf den Strassen des schottischen Dorfs begegnet Inti noch einem Opfer von Gewalt: Duncan hat als Junge seinen eigenen Vater erschlagen, weil der seine Frau, die Mutter von Duncan, zu Tode geprügelt hatte. Jetzt ist Duncan der lokale Polizeichef und ermittelt gegen den Mann, der seine Frau schlägt, gegen die Wölfe, wenn sie ein Schaf reissen und im Fall des verschwundenen Mannes. Duncan wird zum Gegenspieler von Inti – doch die beiden verlieben sich ineinander. Eine schwierige Ausgangslage. 

Inti und Duncan sind beide auf der Flucht vor ihrer Vergangenheit. Duncan, indem er da bleibt, wo er immer war, sich aber dabei verwandelt, Inti, indem sie möglichst weit weg von ihrer Heimat ist, damit sie sich treu bleiben kann. Im Gespräch mit Duncan sagt sie:
«Ich bin hier, um von allem weg zu sein.»
«Und langsam an Einsamkeit zu sterben.»
«Was wäre denn so falsch daran?» Ich schüttele den Kopf. «Und es ist auch übertrieben. Ich habe die Wölfe. Ich bin zum Arbeiten hier.»
«Die sind aber gefährlicher als wir.»
«Glaubst du?», frage ich. «Zumindest sind sie wilder.»
«Ist das nicht dasselbe?»
«Ich glaube nicht. Ich glaube, uns macht die Zivilisation gewalttätig. Wir stecken uns gegenseitig damit an.»
«Dann würdest du also lieber wie deine Tiere leben. Raus in den Wald und weg von den Menschen. Aber du hast mir doch selbst erzählt, dass sie sich am allermeisten gegenseitig brauchen.»
Darauf sage ich nichts, denn für einen kurzen Moment hasse ich ihn.
«Was ist dir zugestossen?», fragt Duncan.
«Nichts.»
Dann sagt er, und es ist keine Frage. «Was für ein Wesen bist du bloss.» Was für ein Wesen.
«Irgendwer muss sie doch beschützen», sage ich. «Und wenn du deinen Job nicht machst, dann mache ich es eben.»
Hinter seinen Augen wird es plötzlich dunkel. «Du lässt die Finger davon, Inti Flynn. Verstanden?»
Sein Zorn entfacht meinen. Ich stelle mir vor, dass ich die Zähne fletsche, ihm zeige, wie scharf sie sind.
«Ich dachte auch mal, die Menschen wären gut», sage ich. «Ich dachte, wir wären alle von Grund auf freundlich, man könnte uns alles verzeihen.»
«Und jetzt?»
«Jetzt weiss ich es besser.» (S. 165f.)

Es sind diese Grundfragen, die den Roman prägen: Was ist wild und was ist böse? Und was ist der Mensch? Kann es sein, dass ein Mensch, der seiner Natur folgt, wild ist – oder ist er dann nur böse, weil er sich nicht mehr kontrolliert? Eingebettet sind diese Fragen in die packenden Schilderungen der schottischen Wälder und des wilden Lebens der Wölfe. Eine Nebenwirkung des Romans wird sein, dass sie danach die Wölfe mit anderen Augen sehen.

Charlotte McConaghy: Wo die Wölfe sind. Roman. S. Fischer Verlag, 432 Seiten, 31.90 Franken, ISBN 978-3-10-397100-2

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783103971002

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 19. Juli 2022, Matthias Zehnder

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https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/

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