Video-Buchtipp
Nächster Tipp: Die Gottesmaschine
Letzter Tipp: Junge mit schwarzem Hahn
Wo der Wolf lauert
Wir lieben unsere Kinder, wir versuchen, sie zu schützen, aufs Leben vorzubereiten. Aber was, wenn das eigene Kind böse ist? Wenn das eigene Kind Gewalt anwendet, vielleicht gar einen Mord begangen hat? Das ist die verstörende Ausgangslage im neuen Roman von Ayelet Gundar-Goshen. «Wo der Wolf lauert» heisst das Buch. Und genau das ist nicht so klar.
Hauptfigur und Ich-Erzählerin der Geschichte ist Lilach Schuster, eine Israelin, die mit ihrem Mann Michael, ebenfalls Israeli und Programmierer, und ihrem Sohn Adam im Silicon Valley lebt. Es geht ihnen gut, sie sind wohlhabend und leben nicht mehr im kriegsbedrohten Israel, sondern in den sicheren USA, in einem grossen Haus auf einem grossen Grundstück, dahinter eine «ruhige, grüne Weite, die an eine ruhige, grüne Avenue reichte, in einer der ruhigsten, grünsten und sichersten Städte der Vereinigten Staaten von Amerika». Am Abend des jüdischen Neujahrsfestes ist die Familie von Lilach mit Freunden im Garten am Grillieren. Plötzlich ruft Michael «Es hat einen Anschlag gegeben». Die erste Frage: «Wo? In Haifa? In Tel Aviv?» Aber Michael schüttelt den Kopf und sagt: «Nicht in Israel, hier.» In dieser ruhigen, grünen und sicheren Stadt in den USA hat ein Mann mit einer Machete eine Reformsynagoge betreten, eine Frau getötet und vier weitere Frauen schwer verletzt.
Die vermeintlich sichere, ja heile Welt entpuppt sich als brüchig. Lilach erzählt:
«Als wir uns entschieden, in den Vereinigten Staaten zu bleiben, hatte ich meiner Mutter erklärt, ich wollte Adam an einem Ort aufwachsen lassen, wo es keine Kriege gebe. Jetzt fürchtete ich, wir könnten uns geirrt haben. Vielleicht hatten wir gemeint, Adam vor dem israelischen Irrsinn zu bewahren, ihn tatsächlich aber einem anderen Irrsinn ausgesetzt.» (S. 130)
Doch dieser Irrsinn ist nicht so einfach zu durchdringen. Denn der Anschlag in der Synagoge ist von einem Schwarzen begangen worden, einem dieser ausgegrenzten Männer, einem Opfer von Rassismus in den USA. Die scharfen Grenzen zwischen Opfer und Täter verschwimmen. Sie geraten vollends durcheinander, als bei einer Schülerparty ein Junge ums Leben kommt, ebenfalls ein Schwarzer. Überdosis. War es ein Unfall? Oder hat ihm jemand absichtlich eine Überdosis verabreicht – war es also Mord? Die Polizei ermittelt. Im Verdacht steht ausgerechnet Adam, der Sohn von Lilach und Michael. Was nun?
Es ist fürchterlich: Lilach Schuster verdächtigt ihren eigenen Sohn Adam, einen Jungen namens Jamal Jones umgebracht zu haben. Dabei war Adam immer der Schwache. Er wurde herumgeschubst, gehörte nirgends richtig dazu. Bis nach dem Anschlag in der Synagoge dieser Selbstverteidigungskurs angeboten wurde. Adam ging richtig auf darin – auch dann noch, als der Kurs paramilitärische Züge annahm.
Es ist einer dieser Gegensätze, die das Buch von Ayelet Gundar-Goshen prägen. Lilach Schuster ist israelische Jüdin. Sie lebt seit vielen Jahren im Silicon Valley. Die Angst vor Krieg und Gewalt treibt sie um, deshalb möchte sie nicht nach Israel zurückkehren. Ihr Mann Michael ist Programmier – er entwickelt Software für Waffensysteme und ist damit Teil der Kriegsmaschinerie, vor der Lilach sich fürchtet.
Sohn Adam gerät ins mütterliche Visier, als sich herausstellt, dass der tote Jamal ihn quälte. Jamal hat Adam gemobbt. Als Lilach der Mutter des toten Jungen einen Kondolenzbesuch macht, entdeckt sie im Zimmer von Jamal Gegenstände und Kleidungsstücke ihres Sohnes. Die Turnschuhe sind sogar noch mit «Adam» angeschrieben. Plötzlich erfasst sie, was sie ich längst hätte merken müssen: Adam ist nicht schusselig und verliert ständig seine Sachen. Er hat nichts verloren, nichts vergessen. Man hatte es ihm weggenommen. Von Minute zu Minute kommen ihr mehr Dinge in Jamals Zimmer bekannt vor. Die Jeans mit dem gelben Streifen, von der Adam behauptet hatte, sie sei zerrissen, hängt über der Stuhllehne. Lilach erkennt sogar ihre eigene Handschrift an der Innentasche. Ein Originalhut von Indiana Jones, die sie Adam in Disneyland gekauft hat, taumelt an einem Haken über dem Bett. Ein Nike-Sweatshirt. Eine Lederjacke von Banana-Republic. Ein Jackett von Gap.
Offenbar hat Jamal Adam förmlich ausgenommen, vielleicht aus Neid auf den jüdischen Jungen aus reichem Elternhaus. Adam hat das erduldet, ohne je etwas zu sagen. Jamal ist schwarz und lebt in einem heruntergekommenen Viertel. Die wirtschaftlich schlechte Lage von Jamal ist das Resultat eines systematischen Rassismus in den USA. Opfer Jamal wird Adam gegenüber aber zum Täter und mobbt ihn. Ist Opfer Adam dem Täter Jamal gegenüber zum Täter geworden? Beide Jungen sind Opfer, beide Jungen könnten aber auch Täter gewesen sein. Nichts ist mehr einfach.
Wie in einer Detektivgeschichte deckt Ayelet Gundar-Goshen Schicht um Schicht der wahren Geschichte auf. Die «Ermittlungen» führt also nicht ein Polizist, sondern die besorgte Mutter, Lilach Schuster. Das aber umso unerbittlicher. Sie stellt fest, dass sie ihren Jungen nicht gut kennt. Könnte Adam tatsächlich Jamal Jones ermordet haben? Und welche Rolle spielte dabei Uri, der Trainer und Mentor der Jungen in der Selbstverteidigungsgruppe, den Adam anhimmelt?
Es ist eine vertrackte Geschichte, die Ayelet Gundar-Goshen uns erzählt, Opfer und Täter, Rassismus und Antisemitismus, Reich und Arm, Heimat und Exil, Krieg und Frieden geraten durcheinander und entlarven uns Leser dabei, wie einfach wir uns mit einigen wenigen Stereotypen zu Vorurteilen hinreissen lassen. Wir meinen, die Welt sei doch recht simpel und finden uns im Treibsand der Gefühle wieder. Ayelet Gundar-Goshen hat damit das Kunststück geschafft, ein Buch über Antisemitismus, Rassismus, Krieg und Exil zu schreiben, ohne dabei zu Moralisieren. Spannend zu lesen – und trotz des ernsten Themas erstaunlich unterhaltend geschrieben.
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783036958491
Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/
Basel, 28. September 2021, Matthias Zehnder
PS: Wenn Sie keinen Buchtipp mehr verpassen möchten, abonnieren Sie meinen Newsletter: Sie erhalten jeden Freitag ein Mail mit dem Hinweis auf den aktuellen Buchtipp, einen Sachbuchtipp und den Wochenkommentar. http://www.matthiaszehnder.ch/abo/