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Wie die Saat, so die Ernte

Publiziert am 15. August 2023 von Matthias Zehnder

Sommer, Ferien, Reisezeit. In meiner literarischen Sommerserie entführe ich Sie mit einer Reihe von spannenden Romanen und Krimis an interessante Orte auf der ganzen Welt. In der letzten Folge meiner Serie entführe ich Sie nach Venedig. Seit 30 Jahren lässt hier Donna Leon ihren Commissario Brunetti nach Mördern fahnden: Ihr aktueller Roman schildert bereits Brunettis zweiunddreissigsten Fall. Der Commissario ist älter geworden. Manchmal ist er müde, sicher ist er gelassener. Die Morde stehen schon lange nicht mehr im Zentrum der Geschichten. Im neuen Roman geht es gar um einen Cold Case, also einen ungelösten Fall aus der Vergangenheit, der allerdings so brisant ist, dass er in der Gegenwart ganz gehörig Staub aufwirbelt. In meinem 167. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum sich die literarische Reise nach Venedig lohnt, auch wenn (oder gerade weil) Donna Leon Touristen von einer realen Reise in die Lagunenstadt lieber abhalten würde.

Vor 30 Jahren hat Donna Leon ihren Commissario Brunetti zum ersten Mal in Venedig auf die Piste geschickt. Der deutsche Stardirigent Helmut Wellauer stirbt in der Pause vor dem letzten Akt der Oper «La Traviata» im Teatro La Fenice. Der Mord ereignet sich gleich zu Beginn des Romans, er schiebt die ganze Handlung an. Der tote Stardirigent ist also der Grund, warum Donna Leon die Geschichte erzählt und Commissario Brunetti ins Spiel bringt. Morde hat Donna Leon längst nicht mehr nötig, um eine Geschichte zu erzählen. Commissario Brunetti gehört in vielen Haushalten längst zur literarischen Familie, er ist eine Figur am Lesetisch wie Michel aus Lönneberga, Phileas Fogg, Ravic oder Hildegard Palm. Nein, das ist kein Vergleich, es sind nur einige von vielen Figuren, die bei mir zu Hause am Lesetisch sitzen.

Im neuen Roman wird Brunetti erst nach über 100 Seiten zu einer Leiche gerufen, die in einem Kanal treibt. Bis dahin kümmert er sich um Alvise, einen Polizisten, den ich noch als jung in Erinnerung habe, der aber auch schon fünfzig geworden ist. Alvise ist in Treviso verhaftet worden, Brunetti muss ihn raushauen. Dabei wollte Brunetti endlich in Ruhe die Bücher in seinem Regal aussortieren. Es ist Anfang November, es regnet, es ist kalt und es ist Samstag. Alvise ist schon so lange bei der Polizei wie Brunetti selbst, allerdings ist Alvise immer noch einfacher Polizist. Er hat noch nie einen Täter aufgespürt, aber sich mehr als einmal für einen Kollegen selbst in Gefahr begeben. Mittlerweile ist sein Haar schütter und an den Schläfen weiss geworden; sein Bauch runder und seine Züge sind gealtert. Auch wenn Donna Leon das nicht sagt: Vermutlich geht es auch Brunetti so.

Jedenfalls kommentiert er (oder Donna Leon) immer mal wieder das Altern und die Zeit, die sich ändert. So sieht mittlerweile auch Brunetti am Morgen in der Questura zuerst nach seinen Mails.

«Während er die Namen der Absender überflog, fragte er sich, wie es nur so weit hatte kommen können, dass er jeden Morgen als Erstes seine Mails checkte. Immerhin war er es doch, der sich über die Nabelschnur lustig machte, mit der seine Kinder an ihren Handys hingen, ihr ständiges Bedürfnis zu wissen, wer angesagt war und wer nicht, die Zeitverschwendung auf den Pfaden von Prominenten, die sie niemals leibhaftig zu sehen bekommen würden und die an Orten lebten, wo kein vernünftiger Mensch jemals würde sein wollen.
Und dennoch: Warum konnte er nicht wie Paola zumindest pro forma ein Interesse an der Cyber-Welt ihrer Kinder bekunden, an ihren Gewohnheiten und Vorlieben? Als er seine Frau einmal zu ihrer Geduld beglückwünschte, hatte sie das mit der Bemerkung abgetan: ‹Ich finde, wir können ruhig ab und zu mal in ihre Richtung schauen; das ist doch das Mindeste.›
Er konzentrierte sich wieder auf die Mails: Alle waren dringend, wenige waren wichtig. Nach ein paar Minuten schaltete er den Computer aus und ging nach unten.» (S. 224)

Es ist keine laute Kritik, die Donna Leon am Zeitgeist anbringt, es ist eher ein Seufzen, mit dem wir uns alle verbinden können. Wenigstens diejenigen unter uns, deren Haare, wie bei Alvise, an den Schläfen auch schon weiss geworden sind. Schon heftiger fällt die Kritik aus, die Donna Leon an der Stadtregierung von Venedig äussert: Die Stadt ist überschwemmt von Touristen, die vielen Besucher lassen den Einheimischen kaum mehr Platz und Luft zum leben. Donna Leon ist nicht die Einzige, die das kritisiert: Vor wenigen Tagen hat die Unesco gedroht, Venedig auf die schwarze Liste zu nehmen. Die Überfüllung durch Touristen und das Missmanagement der Stadt gefährde Venedigs Status als Weltkulturerbe. Das Paradoxe daran: Donna Leon beklagt in ihren Büchern zwar seit Jahren die Touristenmassen in Venedig, trägt mit ihren Romanen aber selbst dazu bei, dass Venedig eine Wunschdestination für viele Reisende bleibt.

Kritisch setzt sich Donna Leon im neuen Roman auch mit der politischen Vergangenheit Italiens auseinander. Der Cold Case, auf den Brunetti stösst, stammt aus den 80er-Jahren. Es war eine Zeit, als Italien von mehreren Terroranschlägen heimgesucht wurde. 1980 starben bei einem Bombenanschlag auf den Bahnhof von Bologna über 80 Menschen. 1981 entführten die Brigate Rosso den amerikanischen Nato-General James Lee Dozier. Donna Leon geht es dabei weniger um die Politik als um die Verführbarkeit der jungen Menschen. Brunetti merkt, dass ihn weniger von einem Verbrecher trennt, als man meinen könnte. An der Universität schwärmte auch er für die radikalen Ideen. Nur der Zufall (oder das Schicksal) verhinderte, dass er straffällig wurde und sich eine Karriere bei der Kriminalpolizei damit verbaute.

Brunetti und Donna Leon schauen versöhnlich auf das Leben zurück. Brunetti ist seiner Mutter dankbar für die klaren Worte und die Geduld. Natürlich holt Paola ihren Mann immer mal wieder auf den Boden zurück. Und auch die beiden Kinder, Chiara und Raffi, sorgen dafür, dass ihr Papa den Kontakt zum Jetzt nicht verliert. Wie immer löst Brunetti das Rätsel im Krimi mit Hilfe des wackeren Vianello und der brillanten Signorina Elettra. Wie alt er mittlerweile ist, weiss ich nicht. Obwohl er älter geworden ist, gelassener und auch etwas müder, bleibt er der alterslose Commissario. Wie alt Donna Leon ist, das ist bekannt: 81 Jahre alt ist die Amerikanerin mittlerweile. Sie lebt in der Schweiz, ist häufig in Venedig – und schreibt hoffentlich noch lange.

Donna Leon: Wie die Saat, so die Ernte. Commissario Brunettis zweiunddreissigster Fall. Diogenes Verlag, 320 Seiten, 35 Franken; ISBN 978-3-257-07227-3

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783257072273

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Basel, 15. August 2022, Matthias Zehnder

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