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Wie alles begann und wer dabei umkam

Publiziert am 20. Mai 2021 von Matthias Zehnder

Ich gebe Ihnen jede Woche einen Lesetipp: ein Buch das ebenso intelligent wie unterhaltend ist.

Diese Woche: «Wie alles begann und wer dabei umkam» von Simon Urban.

Hier gibt es die ausführliche Fassung dieses Buchtipps auf Youtube:

Der Held sitzt im Gefängnis, er wartet auf den Strang: Er ist zum Tod verurteilt. Die Zeit, die ihm bleibt, nutzt er, um sein Leben aufzuschreiben. Seine Bekenntnisse. Das ist die Ausgangslage des neuen Romans von Simon Urban.

Das Resultat ist eine groteske (und hochgradig unterhaltende) Mischung aus Schelmenroman, Campus-Erzählung und Jurisprudenzkritik. Denn der Ich-Erzähler studiert Jura in Freiburg und macht sich auf, das Recht zu reformieren. Es ist ihm zu lasch, zu brav, zu sehr auf Resozialisierung bedacht. Er nimmt die Perspektive der Opfer ein und strebt mit seinem Rechtssystem eine Gerechtigkeit an, die ihren Namen wirklich verdient. Wie er selber sagt.

Das klingt jetzt vielleicht etwas sperrig, das ist es aber nicht. Es ist grossartig unterhaltend. Denn unser Held, von dem wir lediglich erfahren, dass er die Initialen «J. H.» trägt – erst auf den letzten Seiten ist zu lesen, dass er «Hartmann» heisst, wie könnte es anders sein – unser Held also ist im wörtlichen Sinn «verrückt». Er tickt leicht anders als alle, zuweilen böse, oft ohne Empathie, immer aber hochintelligent. Seine Erlebnisse an der Universität breitet er mit grotesker Detailtreue aus – in bester Tradition eines Schelmenromans. Kurz: Es ist ein Buch, das nicht nur Juristen mit grossem Genuss lesen, sondern alle, die sich gerne an präziser Sprache und Fabulierfreude laben.

Sicher kennen Sie die «Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull» von Thomas Mann über den intelligenten, schönen Jüngling, der sich in Paris in die Betten der Gäste eines Nobelhotels schwindelt. Krull erzählt in Ich-Form von seinen Erlebnissen und Eroberungen und obwohl er immer beteuert, er prahle nicht, macht er natürlich genau das.

Die «Bekenntnisse» von Felix Krull, das ist ein Schelmenroman. Es bedeutet, dass ein Held sein Leben erzählt und seine Taten rechtfertigt. Der Titel «Bekenntnisse» ist dabei treffend, weil der Lebensrückblick als genau das inszeniert wird: als Lebensbeichte, wie sie etwa ein Casanova im Kloster zu Papier gebracht hat. Der Rückblick wird oft kommentiert, der Leser einbezogen, es ergibt sich ein Gefühl von Nähe und Intimität, manchmal ein Zwiegespräch, das macht die Abenteuerberichte, mit denen die Beichte gespickt ist, glaubwürdiger.

Prototyp dieser «Schelmenromane» ist dieses Büchlein aus dem Barock, «Der Abenteuerliche Simplicissimus» von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen, 1668 in Nürnberg erschienen. Der einfältige Held erlebt zur Zeit des Dreissigjährigen Kriegs eine Reihe von tolldreisten Abenteuern, die lustig zu lesen sind. Doch das ist nur die Oberfläche: Schon im Simplicissimus steckt viel Gesellschaftskritik. Das ist auch bei Felix Krull über 250 Jahre später der Fall: Der Held unterzieht als Aussenseiter die bürgerliche Gesellschaft einer kritischen Analyse, die allerdings vergnüglich zu lesen ist.

Genau das trifft auch auf Simon Urbans neues Buch «Wie alles begann und wer dabei umkam» zu. 

Hartmann blickt mit ähnlicher Selbstdistanz und durchaus vergleichbarer sprachlicher Eloquenz auf sein Leben zurück und er analysiert es auch mit ähnlich scharfem Verstand wie Felix Krull. Wie Krull ist der Held von Urban nicht frei von einer gewissen Selbstgefälligkeit, auch wenn (oder gerade weil) er, mit den Massstäben der bürgerlichen Gesellschaft gemessen, keinen Anlass dazu hätte.

In Ich-Form erzählt Hartmann von seiner Kindheit und Jugend Ende der 70er Anfang der 80er Jahre. Er wächst in einer Familie auf, die von einer tyrannischen und absolut empathielosen Grossmutter beherrscht wird. Besonders auf die Mutter hat die Alte es abgesehen. Der Vater steht daneben und lässt es geschehen. Schon als Kind sammelt Hartmann deshalb Indizien und macht eines Nachmittags der Grossmutter den Prozess, freilich in Abwesenheit der Angeklagten. Die Indizien sind eindeutig: Er verurteilt die tyrannische Frau zum Tode. Allerdings lässt sich das Urteil nicht umsetzen. 

Nach dem Abitur zieht Hartmann zum Jurastudium nach Freiburg. Obwohl die Jurisprudenz seine Berufung ist, fühlt er sich an der Universität nicht wirklich zugehörig.  Er strebt keine bürgerliche Karriere an: «Während das Diskutieren und Analysieren richtungsweisender Präzedenzfälle des Bundesgerichtshofs dank ihrer Akribie, Detailtiefe und der mitunter brillanten Urteilsbegründungen regelrecht belebend auf mich wirkte, kam mir die Vorstellung, in einer Provinzkanzlei monotone, mässig bezahlte Lohnarbeit anzunehmen und von nun an 37 Jahre lang morgens aufzustehen, um einer raffgierigen und politisch wie intellektuell verblödeten deutschen Mittelschicht zu dem zu verhelfen, was sie fälschlicherweise ihr gutes Recht nannte, wie ein schmerzlich hinausgezögerter Suizid vor, der am Ende vielleicht nicht einmal gelingen würde.» (S. 72)

In Freiburg begegnet er Starjuristin Meta Formella. Die Professorin ist soeben aus Berlin in die Provinz gezogen. Sie steht für eine Rechtsauffassung, die nicht in erster Linie für Gerechtigkeit sorgen will, sondern gesellschaftskonstituierend wirken soll. Hartmann ist völlig anderer Meinung. Ihn ekelt es geradezu an, dass man nach dem Guten im Täter Ausschau halten soll und ihn resozialisieren will. Meta Formella wird zur Arch Nemesis von Hartmann. Denn er versteht unter Rechtsprechung etwas ganz anderes als Formella. 

«Auch um mich abzulenken, hatte ich mir das ganze Wochenende mit Fachliteratur um die Ohren geschlagen und unter anderem zahlreiche Aufsätze über das berühmte Inselbeispiel gelesen, in dem Kant fordert, dass, falls ein Volk von Insulanern beschliesse, komplett auszuwandern, vorher noch der letzte im Inselgefängnis befindliche Mörder hingerichtet werden müsse, damit jedermann das widerfahre, was seine Taten wert sind.

Diese Formulierung hatte es mir sofort angetan. Ich konnte die Idee eines negativen Werts verbrecherischer Handlungen gut nachvollziehen, denn sie machte auf den ersten Blick deutlich, worum es beim Bestrafen letztendlich immer ging: darum, eine offene Rechnung zu bezahlen beziehungsweise einen notwendigen Ausgleich herzustellen, indem Tat und Strafe miteinander verrechnet werden. Bestrafung war also im Grunde genommen Mathematik und das angestrebte Ergebnis eine glatte Null ohne irgendwelche störende Stellen hinter dem Komma.» (S. 130)

Mit anderen Worten: Hartmann geht es eigentlich um eine universale Gerechtigkeit – oder schlicht um Rache. Er entwirft ein alternatives Strafgesetzbuch, das deutlich härtere Strafen vorsieht. 

«Natürlich war ich damals unreif und vor allem ungebildet, aber die Erkenntnis, dass die rechtlichen Dinge in anderen Teilen der Welt vollkommen anders gehandhabt wurden als in der Bundesrepublik Deutschland und dass man dort für die jeweiligen Vorgehensweisen genauso gute Gründe zu haben glaubte wie wir für unsere, beschäftigte mich lange. Sie rief mir – vielleicht zum ersten Mal überhaupt – ins Bewusstsein, dass jeder Mensch die Gesetzmässigkeiten seines Sozialisations-Kosmos dauerhaft als kulturelles Mass aller Dinge begreift und dabei offenbar sehr schnell vergisst, dass er selbst auch nur bis zu den Knien im heimischen Morast des eigenen Geburtszufalls steckt. Ich ermahnte mich damals jedenfalls, dauerhaft skeptisch zu bleiben und stets zu zweifeln, vor allem, wenn es um Dinge ging, die andere niemals infrage stellen würden.» (S. 153)

Hartmann reist wie ein rechter Simplicissimus in die Welt hinaus, um Recht und Gerechtigkeit auf die Spur zu kommen. Der zweite Teil des Buchs widmet sich seinen Reisen, die ihn zunächst auf einen Thunfischfänger in Papua-Neuguinea und dann nach Singapur führen. An beiden Orten trifft er Verbrechen an, die er vor seinem eigenen Rechtsverständnis einer universellen Gerechtigkeit zuführt. Anders als seinerzeit bei der Grossmutter bleibt die Vollstreckung des Todesurteils diesmal nicht aus.

Der zweite Teil des Romans ist zuweilen harte Kost: Die Szenen auf dem Thunfischtrawler sind mit drastischer Konsequenz geschildert, die nicht jedermanns Sache sind. Der erste Teil des Romans erinnert dagegen an einen Campusroman und nimmt auch vergnügliche Aspekte des Studentenlebens aufs Korn, von der Studentenparty in der versifften WG bis zum sexuellen Erwachsen des Protagonisten, das, themengerecht, während einer juristischen Vorlesung stattfindet.

Kurz: Simon Urban ist mit seinem neuen Roman ein Buch gelungen, das vor allem im Einzelnen überzeugt. Sein Hartmann ist ein würdiger Nachfolger von Felix Krull, die juristischen Diskussionen sind zuweilen schon fast von zauberbergscher Qualität. Sie sind einerseits höchst vergnüglich zu lesen und geben andererseits wirklich zu denken. Was will man mehr. 

Simon Urban: Wie alles begann und wer dabei umkam. Roman. Kiepenheuer & Witsch, 544 Seiten, 34.90 Franken; ISBN 978-3-462-05500-9

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783462055009

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 20. Mai 2021, Matthias Zehnder

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