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Wenn Worte töten

Publiziert am 14. Juni 2023 von Matthias Zehnder

Ein typischer Krimi von Agatha Christie ist wie ein Puzzle aufgebaut: In einem mehr oder weniger geschlossenen Raum wird ein Mensch ermordet. Verschiedene Verdächtige haben ein Motiv. Die Polizei ist ratlos und bittet deshalb, den genialen Detektiv (oder die geniale Detektivin) um Hilfe. Schritt für Schritt baut sich das Rätsel auf, bis der Detektiv es am Ende in einer überraschenden Wendung auflöst. Nach genau diesem Rezept ist «Wenn Worte töten» aufgebaut, der neue Krimi von Anthony Horowitz. Der Krimi spielt auf der kleinen Kanalinsel Alderney. Die Insel bildet den abgeschlossenen Raum für das mörderische Rätsel. Mit einer höchst unterhaltsamen Ergänzung: In seinem Buch wird der geniale Detektiv von einem Schriftsteller begleitet, der eine Romanserie über die Ermittlungen schreibt. In dieser Person spiegelt sich Horowitz auf ironische Weise selbst. Das Ergebnis ist köstlich – vor allem dann, wenn man es versteht, auch zwischen den Zeilen zu lesen. In meinem 158. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum sich die Lektüre des Krimis lohnt, auch wenn Sie mit Mord und Totschlag nichts am Hut haben.

Anthony Horowitz ist einer der bekanntesten Krimiautoren im englischsprachigen Raum. Von ihm stammt etwa «Ein Fall für Alex Rider», eine Agentenserie über einen 14-jährigen britischen Jungen. Hierzulande hat Horowitz in den letzten Jahren vor allem mit seinen Fortschreibungen Schlagzeilen gemacht. So hat er in drei Bänden die Sherlock-Holmes-Serie fortgeführt und, unter Verwendung von Skizzen aus der Hand von Ian Fleming, auch drei James-Bond-Romane geschrieben. Sich selbst bezeichnet Horowitz als Fan von Sherlock Holmes und von Agatha Christies Detektiv Hercule Poirot.

Das merkt man seinem neuesten Roman «Wenn Worte töten» an. Das Buch ist keine Fortschreibung von Arthur Conan Doyle oder Agatha Christie. Horowitz bedient sich aber ähnlicher Mittel wie seine Vorbilder. Die Erzählungen sind logisch aufgebaut, die Handlungsmotive nachvollziehbar, die Erzählweise einigermassen beschaulich. Und: Wie in den meisten Büchern von Agatha Christie spielt die Geschichte in einem quasi geschlossenen Raum – auf einer Insel nämlich.

Hauptfigur und Superdetektiv des neuen Romans ist Daniel Hawthorne. Ihm zur Seite stellt Horowitz eine Watson-artige Figur. Ein Mensch, der hinter Superdetektiv Hawthorne hertappt, wie weiland Watson hinter Sherlock Holmes. Allerdings ist der Watson von Horowitz nicht Arzt, sondern Autor: Er schreibt an einer Krimiserie über Daniel Hawthorne und begleitet deshalb den Detektiv. Kurz: Anthony Horowitz hat sich selbst als Figur in den Roman geschrieben.

Der Aufbau ist der eines klassischen Who-done-it-Krimis. Hawthorne und sein Chronist Horowitz sind zu einem Literaturfestival auf der Kanalinsel Alderney eingeladen. Auf der Gästeliste stehen ausserdem der prollige Starkoch Marc Bellamy, die blinde Hellseherin Elizabeth Lovell, der Kriegshistoriker und Vogelbeobachter George Elkin, die Kinderbuchautorin Anne Cleary und die französische Performance-Poetin Maïssa Lamar. Finanziert wird das Festival von Charles le Mesurier. Er besitzt ein Online-Glücksspielunternehmen, eine protzige Villa und gibt den reichen Kotzbrocken. Und natürlich fällt auch gleich eine Leiche an: blutüberströmt, an einen Sessel gefesselt, gefoltert und brutal erstochen. Die Polizei von Alderney ist inexistent, die Aushilfe von Guernsey inkompetent. Also wird, wie zu Agatha Christies Zeiten, Hawthorne als Berater engagiert. Wer wars?

Anthony Horowitz im Buch ist, wie der Horowitz in der Realität, Bestsellerautor, Schöpfer von populären TV-Serien der BBC und der Alex-Rider-Buchreihe. Und wie Watson bei Sherlock Holmes ist er absolut unfähig, eins und eins zusammenzuzählen. Als Leser ist man dem Autor im Buch immer einen Schritt voraus. Bis man merkt, dass man mit ihm in die falsche Richtung gedacht hat. Das zeigt auch: Es ist eine höchst selbstironische Fiktionalisierung, die Horowitz da vorlegt. Er stellt sich selbst als einen etwas aufgeblasenen, zu selbstbewussten, eitlen und schnell beleidigten Autor dar. Zum Beispiel sagt die Leiterin des Literaturfestivals auf Alderney entschuldigend, sie habe jede Menge berühmter Autoren eingeladen, Philip Pullman, Val McDermid, Jacqueline Wilson, Alexander McCall Smith, aber die alle hätten abgelehnt. Horowitz ist also lediglich ein Lückenbüsser.

Sein Gegenstück, der brillante, etwas rätselhafte Daniel Hawthorne, ist ein ehemaliger Detective Inspector von Scotland Yard, der unter etwas dubiosen Umständen den Dienst quittieren musste. Er denkt gnadenlos scharf, wirkt dabei absolut herzlos und lässt niemanden an sich heran. Er trinkt keinen Alkohol und scheint auch sonst allen Vergnügungen abgeneigt zu sein. Wie ein Jagdhund nimmt er Witterung auf und deckt gnadenlos die Abgründe der Menschen auf Alderney und ihrer Gäste auf. Denn was auf den ersten Blick nach einem friedlichen Festival aussieht, entpuppt sich schnell als Schlachtfeld. Eine geplante Hochspannungsleitung entzweit die Insulaner – natürlich steckt Charles le Mesurier dahinter. Der auf Pub-Food der Fünfziger spezialisierte Starkoch schikaniert seine Assistentin. Die Seherin ihr Publikum und der Historiker die Befürworter der Stromtrasse. Kurz: Es ist angerichtet für eine Auseinandersetzung à la Agatha Christie.

Besonders lustig dabei ist, dass Autor Horowitz seine Autor-Horowitz-Figur im Buch immer mal wieder das Schreiben von Krimis kommentieren lässt. Als sich der erste Mordfall ereignet, gibt der Horowitz im Buch zu, dass er alles, was er bisher erzählte, aus dem Gedächtnis rekonstruiert habe, weil er nicht wissen konnte, dass er die Einzelheiten später noch brauchen würde. Er beschliesst, sich von nun an Notizen zu machen.

Später wollen Detektiv Hawthorne und sein Autor die französische Performance-Künstlerin Maïssa Lamar vernehmen. Doch die weigert sich und sagt zu Hawthorne:

«‹Aber warum sollte ich sprechen mit Ihnen darüber? Wer sind Sie? Sie sind nicht die Polizei. Sie sind auch bloss hier eingeladen, genauso wie ich.›
‹Ich arbeite jetzt für die Polizei. Man hat mich gebeten zu helfen.›
‹Ich schon mit Polizei gesprochen. Ich ihnen alles gesagt, was ich weiss. Ich weiss nichts. Jetzt, bitte. Ich habe es eilig …› Sie schob sich an ihm vorbei und rannte davon.
Es war das erste Mal, dass ich jemanden sah, der die Zusammenarbeit mit Hawthorne rundheraus ablehnte. So etwas passiert überhaupt ziemlich selten … zumindest in Krimis. Wenn der Detektiv Fragen stellt, werden sie von den Verdächtigen stets beantwortet. Es gehört zu den Konventionen des Genres, dass die Schuldigen stets Antwort geben, auch wenn sie Angst haben müssen, dass sie sich verplappern und etwas sagen, was sie verrät.» (S. 179)

Später macht sich Horowitz Sorgen darüber, dass aus der Story kein rechter Krimi werde, wenn der mutmassliche Mörder so offensichtlich ist und es auch nicht  Hawthorne war, der diesem Verdächtigen auf die Spur gekommen ist, sondern der tumbe Inselpolizist. Horowitz im Buch hofft deshalb, dass es sich nicht bestätigt.

Hawthorne fragt:
«‹Warum?›
‹Weil man kein gutes Buch daraus machen kann, wenn Abbott der Mörder ist, glaube ich.› Ich erklärte ihm, warum ich schon vor Tagen zu diesem Ergebnis gekommen war, als ich die Liste der Verdächtigen aufgestellt hatte. ‹Und jetzt ist das Ganze noch schlimmer. Wenn ich wahrheitsgemäss berichte, was hier gelaufen ist, müsste ich ja zugeben, dass Torode den Fall gelöst hat und nicht Sie.›
‹Wirklich?›, sagte Hawthorne verblüfft. ‹Sie sind doch schliesslich der Autor, Sie können tun und lassen, was Sie wollen. Sie können einfach behaupten, ich hätte alles herausgefunden und er hätte gar nichts gewusst. Sie müssen ihn überhaupt nicht erwähnen.›
‹Das kann ich nicht machen!›, rief ich. ‹Das wäre ja frei erfunden.›
‹Ich dachte, das wäre Ihre Spezialität.›
‹Selbst wenn ich etwas erfinde, versuche ich immer, die Wahrheit zu schreiben.›» (S. 262)

Ganz offensichtlich hatte der reale Horowitz viel Spass beim Schreiben. Er lässt jede Menge Hinweise und rote Heringe fallen, entwirrt die Geschichte langsam, schliesst sie scheinbar ab – nur um mit einer völlig neuen Perspektive die nächste Ebene aufzurollen. Nebenbei macht er sich über Schriftsteller, Lesungen, Literaturfestivals und vor allem über sich selbst lustig. Kurz: Das Buch ist beste Unterhaltung. Übrigens: Auch wenn dabei blutige Leichen anfallen, ist es, wie ein richtiger Agatha Christie, weder blutrünstig noch schreckeinflössend, aber spannend und vergnüglich zu lesen.

Anthony Horowitz: Wenn Worte töten. Insel Verlag, 333 Seiten, 33.90 Franken; ISBN 978-3-458-64373-9

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783458643739

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 14. Juni 2022, Matthias Zehnder

Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:

https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/

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